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Concordance between
The Will to Power
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Mai-Juni 1888 17 [1-9]

17 [1]

Erstes Capitel.Begriff der nihilistischen Bewegung als Ausdruck der décadence.
— die décadence überall
  
Zweites Capitel.die typischen Ausdrucksformen der décadence
1) man wählt, was die Erschöpfung beschleunigt
2) man weiß nicht zu widerstehen
3) man verwechselt Ursache und Wirkung
4) man ersehnt Schmerzlosigkeit
(72): inwiefern auch “Hedonismus” ein degenerirender Typus ist
  
Drittes Capitel.5) die “wahre Welt”: Begriff der Realität durch Leidende (46) erstes Heft
(72) die Gegensatz-Natur, die dionysischen Werthe: (72) das tragische Zeitalter
6) die nihilistische Fälschung für alle guten Dinge
(59) (108) (109) Liebe
der “willenlose Intellekt”
das Genie
Kunst des “willensfreien Subjekts”
7) das Unvermögen zur Macht, die Ohnmacht:
ihre tückischen Künste (98)

17 [2]

A. Von der Verdorbenheit der Befehl[enden].
B. Was die bisherigen obersten Werthe bedeuten.
C. Woher die bisherigen obersten Werthe stammen.
D. Warum die Gegenwerthe unterlagen
E. Modernität als Zweideutigkeit der Werthe
F. — — —

17 [3]

[+ + +] Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen; mit ihrer Hülfe wird an’s Leben geglaubt. “Das Leben soll Vertrauen einflößen: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles Andre Künstler sein ... Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft—Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der “Wahrheit”, zur Verneinung der “Wahrheit”. Das Vermögen selbst, Dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen des Menschen par excellence—er hat es noch mit Allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein! ..

Daß der Charakter des Daseins verkannt werde—tiefste und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlerthum ist. Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn: oh wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am Fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, “Gott”—lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: oh wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! .. Der Mensch ward wieder einmal Herr über den “Stoff”—Herr über die Wahrheit! ... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude, er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ...

2.

Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.

Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen, zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.

Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden,—dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden.

Die Kunst als die Erlösung des Handelnden,—dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.

Die Kunst als die Erlösung des Leidenden,—als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.

3.

Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die Wahrheit gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Werthmaaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein:—letzteres ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, das heißt zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet) Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.

4.

Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinn, daß es Etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das “göttlicher” ist als die Wahrheit. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Nein thun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buchs. Nur weiß er—er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts Anderes erlebt!—daß die Kunst mehr werth ist als die Wahrheit.

In der Vorrede, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntniß, dies Artisten-Evangelium “die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Thätigkeit ...” [Die Geburt der Tragödie, Vorwort an Richard Wagner (1871): “... der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens ...”]

5.

— — —

17 [4]

Zur
Geschichte des Gottesbegriffs
.

1.

Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch seinen Gott noch. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist,—es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Ein solcher Gott muß nutzen und schaden können, muß Freund und Feind sein können: die widernatürliche Castration eines Gottes zu einem Gott des Guten kommt diesen starken Realisten nicht in den Sinn. Was liegt an einem Volke, das nicht furchtbar sein kann? Was liegt an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Gewaltthat und vielleicht nicht einmal die gefährlichen ardeurs der Zerstörung kennt?— Wenn ein Volk zu Grunde geht; wenn es den Glauben an seine Zukunft, an Freiheit und Übermacht schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten: dann freilich ändert sich auch sein Gott. Er wird Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, räth zum “Frieden der Seele”, zum Nicht-mehr-hassen; zur Nachsicht, zur Liebe selbst gegen Freund und Feind. Er kriecht in die Höhle der Privattugend zurück, wird der Gott der kleinen Leute,—er stellt nicht mehr die aggressive und machtdurstige Seele eines Volkes, seinen Willen zur Macht dar ...

2.

Wo dieser Wille, der Wille zur Macht, niedergeht, giebt es jedes Mal décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Gliedern und Tugenden, wird nunmehr zu einem Gott der Guten. Ihr Cultus heißt “Tugend”; ihre Anhänger sind die “Guten und Gerechten”.— Man versteht, in welchen Augenblicken erst der dualistische Gegensatz eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Denn mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum “Guten an sich” herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus. Sie nehmen Rache an ihren Herren, indem sie deren Gott verteufeln. —

3.

Wie kann man, mit der Einfalt des geistreichen Renan, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom Gott Israels zum Inbegriffs-Gott alles Guten einen Fortschritt nennen! Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! ... Das Gegentheil liegt ja auf der Hand. Wenn die Voraussetzungen eines starken aufblühenden Lebens aus dem Gottesbegriffe eliminirt werden, wenn er Schritt für Schritt zum Symbol der Hülfe für alles Müde, Erschöpfte, bloß noch Vegetirende wird, wenn er Sünder-Gott, Kranken-Gott, Heiland, Erlöser per excellence wird: wovon zeugt das Alles?— Freilich, sein Reich ist größer geworden (—müßte er selbst damit schon größer geworden sein? ..) Ehedem hatte er nur sein Volk, seine “Auserwählten”: jedes Volk hält sich auf seiner Höhe für auserwählt. Inzwischen gieng er auf die Wanderschaft und saß nirgendswo mehr still,—bis er endlich zum Cosmopoliten wurde und die “große Zahl” auf seine Seite bekam. Aber der Gott der “großen Zahl” bleibt nichtsdestoweniger ein Winkelgott, der Gott aller kranken Ecken, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt .. Sein Weltreich ist ein Unterwelt-Reich, ein Souterrain verborgnen Elends ... Und er selbst ist so schwach, so krank! .. Beweis: selbst die Schwächsten der Schwachen, die Metaphysiker und Scholastiker werden über ihn noch Herr,—sie spinnen um ihn herum, in ihn hinein, bis er ihr Abbild, eine Spinne wird. Nunmehr spinnt er die Welt aus sich heraus, nunmehr wird er zum ewigen Metaphysikus, nunmehr wird er “Geist” “purer Geist” ... der christliche Gottesbegriff—Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist—ist der niedrigste Gottesbegriff, der auf Erden erreicht wurde: er stellt den Höhepunkt der décadence in der absteigenden Entwicklung der Gottesidee dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu bedeuten; in Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt; Gott die Formel für jede Verleumdung des Lebens, für jede Lüge vom “Jenseits”; in Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! ... So weit haben wir’s gebracht! ...

Weiß man es noch nicht? das Christenthum ist eine nihilistische Religion—um ihres Gottes willen ...

4.

Daß die jungen starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben, macht ihrer religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, um nicht vom Geschmack zu reden. Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch auf ihnen dafür, daß sie nicht mit ihm fertig geworden sind:—sie haben die Krankheit, den Widerspruch, das Alter in alle ihre Instinkte aufgenommen,—sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe: und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des europäischen Monotono-theismus! dies hybride Verfallsgebilde aus Null, Begriff und Großpapa, in dem alle Décadence-Instinkte ihre Sanktion erlangt haben! ...

5.

— Und wie viele neue Götter sind noch möglich! ... Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart! ... So vieles Seltsame gieng schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die in’s Leben hinein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird ... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter giebt .. Es fehlt nicht an solchen, aus denen man selbst einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf ... Die leichten Füße gehören vielleicht sogar zum Begriffe “Gott” .. Ist es nöthig, auszuführen, daß ein Gott sich jeder Zeit jenseits alles Vernünftigen und Biedermännischen zu halten weiß? jenseits auch, anbei gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei—mit Goethe zu reden.— Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustra’s anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen “ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde” ..

Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich!— Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist. Man verstehe ihn recht! Zarathustra sagt zwar, er würde—; aber Zarathustra wird nicht ...

17 [5]

Was der Rausch Alles vermag, der Liebe heißt und der noch Etwas Anderes ist als Liebe!— Doch darüber hat Jedermann seine Wissenschaft. Die Muskelkraft eines Mädchens wächst, sobald nur ein Mann in seine Nähe kommt; es giebt Instrumente, dies zu messen. Bei einer noch näheren Beziehung der Geschlechter, wie sie zum Beispiel der Tanz und andre gesellschaftliche Gepflogenheiten mit sich bringen, nimmt diese Kraft dergestalt zu, um zu wirklichen Kraftstücken zu befähigen: man traut endlich seinen Augen nicht—und seiner Uhr! Hier ist allerdings einzurechnen, daß der Tanz an sich schon, gleich jeder sehr geschwinden Bewegung eine Art Rausch für das gesamte Gefäß- Nerven- und Muskelsystem mit sich bringt. Man hat in diesem Fall mit den combinirten Wirkungen eines doppelten Rausches zu rechnen.— Und wie weise es mitunter ist, einen kleinen Stich zu haben! ... Es giebt Realitäten, die man nie sich eingestehen darf; dafür ist man Weib, dafür hat man alle weiblichen pudeurs ... Diese jungen Geschöpfe, die dort tanzen, sind ersichtlich jenseits aller Realität: sie tanzen nur mit lauter handgreiflichen Idealen, sie sehen sogar, was mehr ist, noch Ideale um sich sitzen: die Mütter! ... Gelegenheit, Faust zu citiren ... Sie sehen unvergleichlich besser aus, wenn sie dergestalt ihren kleinen Stich haben, diese hübschen Creaturen,—oh wie gut sie das auch wissen! sie werden sogar liebenswürdig, weil sie das wissen!— Zuletzt inspirirt sie auch noch ihr Putz; ihr Putz ist ihr dritter kleiner Rausch: sie glauben an ihren Schneider, wie sie an Gott glauben:—und wer widerriethe ihnen diesen Glauben? dieser Glaube macht selig! Und die Selbstbewunderung ist gesund!— Selbstbewunderung schützt vor Erkältung. Hat sich je ein hübsches Weib erkältet, das sich gut bekleidet wußte? Nie und nimmermehr! Ich setze selbst den Fall, daß sie kaum bekleidet war ...

17 [6]

Zur Geschichte des Nihilismus.

Allgemeinste Typen der décadence:

1): man wählt, im Glauben, Heilmittel zu wählen, das, was die Erschöpfung beschleunigt
— dahin gehört das Christenthum—: um den größten Fall des fehlgreifenden Instinkts zu nennen;
— dahin gehört der “Fortschritt”—:
2): man verliert die Widerstands-Kraft gegen die Reize,—man wird bedingt durch die Zufälle: man vergröbert und vergrößert die Erlebnisse ins Ungeheure ... eine “Entpersönlichung”, eine Disgregation des Willens—
—dahin gehört eine ganze Art Moral, die altruistische die, welche das Mitleiden im Munde führt: an der das Wesentliche die Schwäche der Persönlichkeit ist, so daß sie mitklingt und wie eine überreizte Saite beständig zittert ... eine extreme Irritabilität ...
3)man verwechselt Ursache und Wirkung: man versteht die décadence nicht als physiologisch und sieht in ihren Folgen die eigentliche Ursache des Sich-schlecht-befindens
— dahin gehört die ganze religiöse Moral
4): man ersehnt einen Zustand, wo man nicht mehr leidet: das Leben wird thatsächlich als Grund zu Übeln empfunden,—man taxirt die bewußtlosen, gefühllosen Zustände (Schlaf, Ohnmacht) unvergleichlich werthvoller als die bewußten: daraus eine Methodik ...

17 [7]

Es handelt sich ganz und gar nicht um die beste oder die schlechteste Welt: Nein oder Ja, das ist hier die Frage. Der nihilistische Instinkt sagt Nein; seine mildeste Behauptung ist, daß Nicht-sein besser ist als Sein, daß der Wille zum Nichts mehr Werth hat als der Wille zum Leben; seine strengste daß, wenn das Nichts die oberste Wünschbarkeit ist, dieses Leben, als Gegensatz dazu, absolut werthlos ist—verwerflich wird ...

Von solchen Werthschätzungen inspirirt, wird ein Denker unwillkurlich suchen, all die Dinge, denen er instinktiv noch Werth beimißt, zur Rechtfertigung einer nihilistischen Tendenz einzulegen. Das ist die große Falschmünzerei Schopenhauer’s, der zu vielen Dingen mit tiefem Interesse gestellt war: aber der Geist des Nihilismus verbot ihm, dies zum Willen zum Leben zu rechnen: und so sehen wir denn eine Reihe feiner und beherzter Versuche, die Kunst, die Weisheit, die Schönheit in der Natur, die Religion, die Moral, das Genie wegen ihrer scheinbaren Lebensfeindlichkeit, als Verlangen ins Nichts zu Ehren zu bringen

17 [8]

Man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem Betracht unzutreffenden Wort viel Mißbrauch getrieben: man redet überall von Pessimismus, man kämpft sonderlich, unter vernünftigen Leuten zuweilen, über eine Frage, auf die es Antworten geben müsse, wer Recht habe, der Pessimismus oder der Optimismus. Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist,—daß der Name ersetzt werden [müsse] durch Nihilismus,—daß die Frage, ob Nicht-sein besser ist als Sein, selbst schon eine Krankheit, ein Niedergang, eine Idiosynkrasie ist ...

Die pessimistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen décadence; sie hat ihre zwei Centren an den Stellen, deren Himmel heute die Verfalls-Symptome am [+ + +]

17 [9]

[Vgl. Ferdinand Brunetière, "Le mal du siècle." In: Histoire et littérature. Paris: Lévy, 1884:309 f. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Idées et sensations. Paris: Charpentier, 1877. Journal des Goncourt. Vol. 2: 1862-1865. Paris: Charpentier, 1887:279. "Et le mot du docteur Moreau de Tours: 'Le génie est une névrose.'" Henri Joly, Psychologie des grands hommes. Paris: Hachette, 1883:75f.]

Zur Physiologie der Kunst.

1. der Rausch als Voraussetzung: Ursachen des Rausches.

2. typische Symptome des Rausches

3. das Kraft- und Füllegefühl im Rausche: seine idealisirende Wirkung

4. das thatsächliche Mehr von Kraft: seine thatsächliche Verschönerung. Erwägung: in wiefern unser Werth “schön” vollkommen anthropocentrisch ist: auf biologischen Voraussetzungen über Wachsthum und Fortschritt. Das Mehr von Kraft z.B. beim Tanz der Geschlechter. Das Krankhafte am Rausche; die physiologische Gefährlichkeit der Kunst —

5. das Apollinische, das Dionysische ... Grundtypen: umfänglicher, verglichen mit unseren Sonder-Künsten

6. Frage: wohin die Architektur gehört

7. die Mitarbeit der künstlerischen Vermögen am normalen Leben, ihre Übung tonisch: umgekehrt das Häßliche

8. die Frage der Epidemie und der Contagiosität

9. Problem der “Gesundheit” und der “Hysterie”—Genie = Neurose

10. die Kunst als Suggestion, als Mittheilungs-Mittel, als Erfindungsbereich der induction psycho-motrice

11. Die unkünstlerischen Zustände: Objektivität, Spiegelwuth, Neutralität. Der verarmte Wille; Verlust an Capital

12. Die unkünstlerischen Zustände: Abstraktivität. Die verarmten Sinne.

13. Die unkünstlerischen Zustände: Auszehrung, Verarmung, Ausleerung,—Wille zum Nichts. Christ, Buddhist, Nihilist. Der verarmte Leib.

14. Die unkünstlerischen Zustände: Idiosynkrasie (—die der Schwachen, Mittleren). Die Furcht vor den Sinnen, vor der Macht, vor dem Rausch (Instinkt der Unterlegenen des Lebens)

15. Wie ist tragische Kunst möglich?

16. Der Typus des Romantikers: zweideutig. Ihre Consequenz ist der “Naturalismus” ...

17. Problem des Schauspielers—die “Unehrlichkeit”, die typische Verwandlungskraft als Charakter-Fehler ... der Mangel an Scham, der Hanswurst, der Satyr, der Buffo, der Gil Blas, der Schauspieler, der den Künstler spielt ...

18. Die Kunst als Rausch, medizinisch: Amnestie. tonicum ganze und partielle Impotenz

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