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The Will to Power
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Frühjahr 1888 14 [1-100]

14 [1]

Kunst. Vorrede

Über Kunst zu reden verträgt sich bei mir nicht mit sauertöpfischen Gebärden: ich will von ihr reden, wie ich mit mir selber rede, auf wilden und einsamen Spaziergängen, wo ich mitunter ein frevelhaftes Glück und Ideal in mein Leben herunter erhasche. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgend einem Sonnenstrahle des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermuthigt selbst durch Trübsal—denn Trübsal erhält den Glücklichen—; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend—dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere ...

14 [2]

Homoeopathica

Die Wirkung von Infinitesimal-Dosen ist spezifisch bei Nervenkranken: ego.

“man ist um so unglücklicher als man intelligent ist”

Schopenhauer

[Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 5: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 1. Leipzig: Brockhaus, 1874: 358.]

14 [3]

Die unbemerkbaren Phasen: die der Erregung, bald die der Erschöpfung

Der hypnotische Schlummer kann durch alle Sorten sensorieller Erregungen (des Gesichts, Gehörs, Geruchs) herbeigeführt werden, nur müssen sie genügend stark und lang sein: der erste Effekt ist immer der einer allgemeinen Steigerung der Beweglichkeit. Endlich aber Erschöpfung de l’influx cérébral. Die Erregung setzt eine Kraft in Spiel, die sich erschöpft ...

14 [4]

Psychologica

Die Begierde, angenehm, wenn man sich stark genug glaubt, die Objekte zu erreichen

als Vorstellung von dem, was unser Gefühl von Macht mehren wird: erster Anfang des Vergnügens

sonst unangenehm; und bald gegen sich einnehmend. Die Begierde wird ein Nothstand: wie bei Schopenhauer.

14 [5]

Religion. décadence

Die Gefährlichkeit des Christenthums

Trotzdem daß das Christenthum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, bleibt seine eigentliche historische Wirkung die Steigerung des Egoismus des Individual-Egoismus bis in sein äußerstes Extrem—das Extrem ist der Glaube an eine Individual-Unsterblichkeit. Der Einzelne war so wichtig geworden, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: vor Gott waren die “Seelen” gleich. Das heißt aber das Leben der Gattung auf die gefährlichste Weise in Frage stellen: das begünstigte eine Praxis, welche der Gegensatz des Gattungs-Interesses ist. Der Altruismus des Christenthums ist eine lebensgefährliche Conception: es setzt jeden einander gleich ...

Damit ist aber der natürliche Gang der Entwickl[ung] ... und alle natürlichen Werthe umgestoßen. Wenn der Kranke so viel Werth haben soll wie der Gesunde (oder gar noch mehr, nach Pascal)

Diese allgemeine Menschenliebe, in praxi die Bevorzugung aller Leidenden, Schlechtweggekommenen, Kranken

hat thatsächlich die Kraft, Menschen zu opfern, abgeschwächt: sie hat die Verantwortlichkeit darauf reduziren wollen, sich zu opfern:—aber gerade dieser absurde persönliche Altruismus hat, vom Standpunkte der Züchtung aus, gar keinen Werth. Wenn man darauf warten wollte, wie viele sich selber opfern zur Erhaltung der Gattung, so wäre man genarrt ...

alle großen Bewegungen, Kriege usw. bringen die Menschen dazu, sich zu opfern: es sind die Starken, die auf diese Weise fortwährend ihre Zahl vermindern ...

dagegen haben die Schwachen einen erschrecklichen Instinkt, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten ...

diese “Gegenseitigkeit der Erhaltung” soll beinahe die Tugend und jedenfalls die Menschenliebe sein! ... typisch: sie wollen vom Staate geschützt sein, sie meinen, das “sei dessen oberste Pflicht!”

unter dem allgemeinen Lobe des “Altruismus” verbirgt sich der Instinkt, daß wenn alle für einander sorgen, der Einzelne am besten bewahrt bleibt ... es ist der Egoismus der Schwachen, der das Lob, das ausschließliche Lob des Altruismus geschaffen hat ...

Die gefährliche Antinatürlichkeit des Christenthums:

— sie kreuzt die Selektion

1)sie erfindet einen imaginären Werth der Person, so ausschweifend und wichtig, daß ungefähr jeder gleich werth ist
2)sie stellt den Schutz-Selbsterhaltungstrieb der Schwachen unter sich als höchstes Werthmaß hin, sie befeindet nichts mehr als was wie die Natur mit Schwachen und Schlechtweggekommenen handelt: schädigend, ausnützend, zerstörend ...
3)sie will nicht Wort haben, daß der höchste Typus Mensch der wohlgerathene und glückliche ist ... sie ist die Verleumdung, die Vergiftung, die Anbröckelung aller Natur-Werthung

14 [6]

Wille zur Macht als Moral

Die Zusammengehörigkeit aller Corruptions-Formen zu begreifen; und dabei nicht die christliche Corruption zu vergessen

Pascal als Typus

ebensowenig die socialistisch-communistische Corruption (eine Folge der christlichen)

höchste Societäts-Conception der Socialisten die niederste in der Rangordnung der Societäten

die “Jenseits”-Corruption: wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des Seienden gäbe

Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen—man muß das christlich-nihilistische Werthmaß überall noch hinausziehen und es unter jeder Maske bekämpfen ... Aus der jetzigen Sociologie zum Beispiel, aus der jetzigen Musik z.B. aus dem jetzigen Pessimismus (—alles Formen des christlichen Werthideals—)

Entweder Eins oder das Andere ist wahr: wahr d.h. hier den Typus Mensch emporhebend ...

Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseins-Formen

die gesammte Erziehung bisher hülflos, haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werthe behaftet —

14 [7]

Zur Modernität.

Die Feigheit vor der Consequenz—das moderne Laster.

Romantik: die Feindschaft

gegen die Renaissance (Chateaubriand, R. Wagner)
gegen das antike Werthideal
gegen die dominirende Geistigkeit
gegen den klassischen Geschmack, den einfachen, den strengen, den großen Stil
gegen die “Glücklichen”
gegen die “Kriegerischen”

14 [8]

Werth ..

Das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag

der Mensch: nicht die Menschheit ...

die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißrathenen, ein Trümmerfeld ...

14 [9]

Nihilismus

Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein consequenter Nihilismus der That

: so wie ich alle Phänomene des Christenthums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus “wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein”

diese Sprache der “Vernunft” wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur

Was über alle Begriffe dagegen zu verurtheilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermuthigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht —

Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen contagiösen Nihilism erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das schwächliche Fortvegetiren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz—)

Man kann das Christenthum nicht genug verurtheilen, weil es den Werth einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwerthet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der That des Nihilismus, dem Selbstmord ... Es substituirte den langsamen Selbstmord; allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw.

14 [10]

Religion als décadence

Kritik des Christenthums

Es bedarf großer Selektions- und Reinigungs-Krisen: jedenfalls durch nihilistische Religionen und Philosophien eingeführt.

Man begreift, daß das Christenthum etwas unsterblich Verfehltes und Mißrathenes ist: aus einem Mittel der Zuchtwahl wurde es deren Gegner, Hemmschuh und Giftgewächs

14 [11]

die Jasagenden Affecte

Der Stolz
die Freude
die Gesundheit
die Liebe der Geschlechter
die Feindschaft und der Krieg
die Ehrfurcht
die schönen Gebärden, Manieren, Gegenstände
der starke Wille
die Zucht der hohen Geistigkeit
der Wille zur Macht
die Dankbarkeit gegen Erde und Leben
: alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht—die ganze Gewalt verklärender Tugenden ... alles Gutheißende, Jasagende, Jathuende —

14 [12]

Priester und andere Tintenwischer, Tintenfische —

14 [13]

Physiologie der nihilistischen Religionen

ein typischer Krankheits-Verlauf

NB  die  nihilistischen  Religionen  allesammt:  systematis[irte] Krankheits-Geschichten  unter  einer  religiös-moral[ischen] Nomenklatur.

— in dem heidnischen Cultus ist es der große Jahreskreislauf, um dessen Ausdeutung sich der Cultus dreht

— im christlichen Cultus ein Kreislauf paralytischer Phänomene, um die sich der Cultus dreht ...

 
“der Glaube,” eine Form der Geisteskrankheit
die Reueü 
die Erlösungý alles neurasthenisch 
das Gebetþ 
die Sünde, eine fixe Idee
der Haß gegen die Natur, gegen die Vernunft
Die Christlichkeit als Krankheit
Das Christenthum als Symptom physiologischer décadence

14 [14]

Gegenbewegung Kunst

Geburt der Tragoedie

III

Diese beiden Kunst-Naturgewalten: werden von Nietzsche als das Dionysische und das Apollinische einander entgegengesetzt: er behauptet, daß — — — Mit dem Wort “dionysisch” ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens, das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als Einheitsgefühl von der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens ... Mit dem Wort apollinisch ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen “Individuum,” zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz.

An ihren Antagonismus ist die Fortentwicklung der Kunst eben so nothwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens

der Ursprung der Tragödie und Komödie als ein Gegenwärtig-sehen eines göttlichen Typus im Zustand einer Gesammt-Verzückung, als ein Miterleben der Ortslegende, des Besuchs, Wunders, Stiftungsakts, des “Dramas” ( —

Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Räthsel, von dem N[ietzsche] sich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Nietzsche bemühte sich im Grunde um nichts als um zu errathen, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte: der dionysische Grieche nöthig hatte, apollinisch zu werden, das heißt: seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maaß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, sowenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte—sie ist erobert, gewollt, erkämpft—sie ist sein Sieg ...

14 [15]

Dies Buch ist antipessimistisch: es lehrt eine Gegenkraft gegen alles Neinsagen und Neinthun, ein Heilmittel der großen Müdigkeit

14 [16]

Typus Gottes nach dem Typus des schöpferischen Geistes, des “großen Menschen”

14 [17]

Geburt der Tragödie.

2.

Anfang des Abschnitts zwei Seiten später: II.

Die Kunst gilt hier als einzige überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens: als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence ...

Sie ist die Erlösung des Erkennenden—dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Lebens sieht, sehen will, des tragischen Erkennenden.

Sie ist die Erlösung des Handelnden—dessen,der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Lebens nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragischen Menschen, des Helden ..

Sie ist die Erlösung des Leidenden—als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist ...

14 [18]

III

Es giebt zwei Zustände, in denen die Kunst selber als eine Art Naturgewalt im Menschen auftritt: einmal als Vision, andrerseits als der dionysische Orgiasmus. Dieselben sind physiologisch vorgebildet im Traum und im Rausch: ersterer als Einübung jener Kraft zur Vision verstanden, als eine Lust am Gestalten-sehen, Gestalten-bilden.

Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, “metaphysischer” als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz; der letztere ist selbst nur die Folge eines Willens zur Lust (—zum Schaffen, Gestalten, zu-Grunde-richten, Zerstören) und, in der höchsten Form, eine Art der Lust ...

14 [19]

6.

Diese Schrift ist antimodern: sie glaubt an die moderne Kunst, sonst an nichts, und im Grunde auch nicht an die moderne Kunst, sondern an die moderne Musik, und im Grunde nicht an die moderne Musik überhaupt, sondern nur an Wagner ... Und im Grunde vielleicht nicht einmal an Wagner, es sei denn faute de mieux.

p. 116. “Was wüßten wir sonst zu nennen, heißt es mit einer schmerzlichen Gebärde — — —

Schopenhauer, Dürer.

Es glaubt daran, daß eine Musik kommen wird .. an eine dionysische Musik ...

14 [20]

7.

Diese Schrift gebärdet sich deutsch, selbst reichstreu—sie glaubt selbst noch an den deutschen Geist! ... Ihre nuance ist, daß sie deutsch-antichristlich ist: “das Schmerzlichste, heißt es in ihr auf S. 142, ist für uns die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Geist, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte.” Diese tückischen Zwerge sind die Priester.— An einer anderen Stelle wird die Frage aufgeworfen, ob der deutsche Geist noch stark genug sei, sich auf sich selbst zurückzubesinnen; ob er mit der Ausscheidung fremder Elemente noch Ernst machen könne; oder fortfahren werde, sich wie ein sieches, verkümmertes Gewächs in krankhaftem Mühen zu verzehren. In diesem Buche gilt die Überpflanzung eines tief widerdeutschen Mythos, des christlichen in’s deutsche Herz als das eigentlich deutsche Verhängniß.

14 [21]

4.

Dieses Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinn, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das göttlicher ist als “Wahrheit”: die Kunst.

Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neinthun noch mehr als Neinsagen zum Leben so sehr das Wort reden, wie der Verfasser dieses Buchs: nur weiß er,—er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts andres erlebt—daß die Kunst mehr werth ist als die “Wahrheit”.

In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräch eingeladen wird, erscheint das Glaubensbekenntniß, das Artisten-Evangelium: “die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als metaphysische Thätigkeit” ...

14 [22]

5.

Was muß, unter solcher Voraussetzung, aus der Wissenschaft werden? Wie steht sie da? In einem bedeutenden Sinne beinahe als Gegnerin der Wahrheit: denn sie ist optimistisch, denn sie glaubt an die Logik. Es wird physiologisch nachgerechnet, daß es die Niedergangs-Zeiten einer starken Rasse sind, wo der Typus des wissenschaftlichen Menschen in ihr reif wird. Die Kritik des Socrates macht den Haupttheil des Buches aus: Socrates als Gegner der Tragödie, als Auflöser jener dämonisch-prophylaktischen Instinkte der Kunst; der Sokratismus als das große Mißverständniß von Leben und Kunst: die Moral, Dialektik, Genügsamkeit des theoretischen Menschen eine Form der Ermüdung; die berühmte griechische Heiterkeit nur eine Abendröthe ... Die starken Rassen, so lange sie reich und überreich noch an Kraft sind, haben den Muth dazu die Dinge zu sehen, wie sie sind: tragisch ... Für sie ist die Kunst mehr als eine Unterhaltung und Ergötzlichkeit; sie ist eine Kur ...

Das Buch lehrt, “allen modernen Ideen und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz,” daß die Griechen—p. X der Vorrede.

14 [23]

II

Das Wesentliche an dieser Conception ist der Begriff der Kunst im Verhältniß zum Leben: sie wird, ebenso psychologisch als physiologisch, als das große Stimulans aufgefaßt, als das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben drängt ...

14 [24]

3.

Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher, der Nihilismus als die “Wahrheit” gilt: aber die Wahrheit gilt nicht als ein oberstes Werthmaß, noch weniger als oberste Macht.

Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln gilt hier als tiefer und ursprünglicher “metaphysischer” als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit zum Sein:—letzterer ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz ist nur bedingt als eine Folge des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, folglich zur Überwältigung, zum Widerstand, zum Krieg, zur Zerstörung) Es wird ein höchster Zustand der Daseins-Bejahung concipirt, in dem sogar der Schmerz, jede Art von Schmerz als Mittel der Steigerung ewig einbegriffen ist: der tragisch-dionysische Zustand.

14 [25]

ZurGeburt der Tragödie.”

VIII.

Die neue Conception der Griechen ist das Auszeichnende dieses Buches; wir haben bereits seine beiden anderen Verdienste angedeutet—die neue Conception der Kunst, als das große Stimulans des Lebens, zum Leben; insgleichen die Conception des Pessimismus, eines Pessimismus der Stärke, eines klassischen Pessimismus: das Wort klassisch hier nicht zur historischen, sondern zur psychologischen Abgrenzung gebraucht. Der Gegensatz des klassischen Pessimismus ist der romantische: jener in dem sich die Schwäche, die Ermüdung, die Rassen-décadence in Begriffen und Werthungen formulirt: der Pessimismus Schopenhauers z.B., insgleichen der de Vigny’s, Dostoijevsky’s, Leopardi’s, Pascals, der aller großen nihilistischen Religionen (des Brahmanismus, Buddhismus, Christenthums—sie dürfen nihilistisch genannt werden, weil sie alle den Gegensatzbegriff des Lebens, das Nichts, als Ziel, als höchstes Gut, als “Gott” verherrlicht haben)

Was Nietzsche auszeichnet: die Spontaneität seiner psychologischen Vision, eine schwindelerregende Weite der Umschau, des Erlebten, Errathenen, Erschlossenen, der Wille zur Consequenz, die Furchtlosigkeit vor der Härte und gefährlichen Consequenz.

14 [26]

Geburt der Tragödie

Aber kommen wir zur Hauptsache, zu dem, was das Buch auszeichnet und bei Seite stellt, zu seiner Originalität: es enthält drei neue Conceptionen. Die erste haben wir bereits genannt: die Kunst als das große Stimulans des Lebens, zum Leben. Die zweite: es bringt einen neuen Typus des Pessimismus, den klassischen. Zu dritt: es stellt ein Problem der Psychologie neu, das griechische.

14 [27]

Philosophie als décadence

Zur Psychologie des Psychologen

Psychologen, wie sie erst vom 19ten Jahrhundert [ab] möglich sind: nicht mehr jene Eckensteher, die drei, vier Schritt vor sich blicken und beinahe zufrieden sind, in sich hinein zu graben. Wir Psychologen der Zukunft—wir haben wenig guten Willen zur Selbstbeobachtung: wir nehmen es fast als ein Zeichen von Entartung, wenn ein Instrument “sich selbst zu erkennen” sucht: wir sind Instrumente der Erkenntniß und möchten die ganze Naivetät und Präcision eines Instrumentes haben;—folglich dürfen wir uns selbst nicht analysiren, nicht “kennen.” Erstes Merkmal eines Selbsterhaltungs-Instinkts des großen Psychologen: er sucht sich nie, er hat kein Auge, kein Interesse, keine Neugierde für sich ... Der große Egoismus unseres dominirenden Willens will es so von uns, daß wir hübsch vor uns die Augen schließen,—daß wir als “unpersönlich,” “désintéressé,” “objektiv” erscheinen müssen ... oh wie sehr wir das Gegentheil von dem sind! Nur weil wir in einem excentrischen Grade Psychologen sind

14 [28]

Der Psycholog.

1) Wir sind keine Pascals, wir sind nicht sonderlich am “Heil der Seele,” am eigenen Glück, an der eigenen Tugend interessirt ... —

2) Wir haben weder Zeit noch Neugierde genug, uns dergestalt um uns selbst zu drehn. Es steht, tiefer angesehn, sogar noch anders: wir mißtrauen allen Nabelbeschauern aus dem Grunde, weil uns die Selbstbeobachtung als eine Entartungsform des psychologischen Genies gilt, als ein Fragezeichen am Instinkt des Psychologen: so gewiß ein Maler-Auge entartet ist, hinter dem der Wille steht, zu sehn, um zu sehn

14 [29]

Ursprung der Moral-Werthe.

Der Egoismus ist so viel werth als der physiologisch werth ist, der ihn hat.

Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral [auffaßt], etwas das mit der Geburt beginnt): stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Werth in der That außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachsthums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgerathenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus giebt) Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt ihm wenig Werth zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgerathenen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoism (—der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert—) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der “Liebe,” der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in That und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werthe sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen,—sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demuth und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergiebt sich, warum die herrschenden Classen oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Cultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, “den Gott am Kreuze” aufrecht erhalten haben.

Das Übergewicht einer altruistischen Werthungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißrathen-sein. Das Werthurtheil auf unterstem Grunde sagt hier: “ich bin nicht viel werth”: ein bloß physiologisches Werthurtheil, noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungscentren). Dies Werthurtheil übersetzt sich, je nach der Cultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urtheil (—die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urtheile ist immer ein Zeichen niedriger Cultur—): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff “Werth” überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner “Schuld” (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Socialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden, an dem Jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte des Christen, der auch das Sichschlechtbefinden und Mißrathen besser zu ertragen glaubt, wenn er Jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des ressentiment ist in beiden Fällen, erscheint hier als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen den fremden, wie beim Socialisten, ergiebt sich dergestalt als ein Werthurtheil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle ... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoism (des eigenen oder eines fremden) noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Cultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.

14 [30]

Wenn der Socialist mit einer schönen Entrüstung “Gerechtigkeit,” “Recht,” “gleiche Rechte” verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Cultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: “die Welt” wird von ihm verurtheilt, verleumdet, verflucht—er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohlthut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.

14 [31]

Werth ...

Der Begriff “verwerfliche Handlung” macht uns Schwierigkeit: es kann nichts an sich Verwerfliches geben. Nichts von Alledem, was überhaupt geschieht, kann an sich verwerflich sein: denn man dürfte es nicht weghaben wollen: denn Jegliches ist so mit Allem verbunden, daß irgend Etwas ausschließen wollen, Alles ausschließen heißt. Eine verwerfliche Handlung: heißt eine verworfene Welt überhaupt ..

Und selbst dann noch: in einer verworfenen Welt würde auch das Verwerfen verwerflich sein ... Und die Consequenz einer Denkweise, welche Alles verwirft, wäre eine Praxis, die Alles bejaht ... Wenn das Werden ein großer Ring ist, so ist Jegliches gleich werth, ewig, nothwendig ...

In allen Correlationen von Ja und Nein, von Vorziehen und Abweisen, Lieben und Hassen drückt sich nur eine Perspektive, ein Interesse bestimmter Typen des Lebens aus: an sich redet Alles, was ist, das Ja.

14 [32]

Werth ...

eine nihilistische Werthschätzung sagt: “ich bin werth, nicht zu sein.” Geht sie weiter und sagt: “du bist werth, nicht zu sein.”

14 [33]

Was das tragische Pathos angeht, so nimmt Nietzsche nicht das alte Mißverständniß des Aristoteles wieder auf —

als Transfiguration von Wollust und Grausamkeit ins Griechische: Elemente, welche in den orgiastischen Festen — — —

das Dionysische als eine Überströmung und Einheit vielfacher, zum Theil schrecklicher Erregungen

14 [34]

Drama

das Drama ist nicht, wie die Halbgelehrten glauben, die Handlung, sondern, gemäß der dorischen Herkunft vom Wort “Drama,” auch dorisch-hieratisch zu verstehen: es ist das Begebniß, das “Ereigniß,” die heilige Geschichte, die Gründungs-Legende, das “Nachsinnen,” die Vergegenwärtigung der Aufgabe des Hieratischen.

14 [35]

Kunst als Gegenbewegung.

Das orgiastische Element in der Kunst der Griechen war bisher unterschätzt worden; daß aber der Orgiasmus eine der tiefsten Bewegungen und Krisen für die griechische Seele selbst bedeutet — — —

Man erinnert sich vielleicht der frivolen und kalten Art, mit der Lobeck sich das ganze Gebiet von Riten, Mythen und Geheimnissen vom Leibe hielt p. 564. 565. [Vgl. Christian August Lobeck, Aglaophamus sive de theologiae mysticae Graecorum causis libri tres. Scripsit Chr. Augustus Lobeck Antiqq. Litt. in Acad. Regimontana Professor idemque Poetarum Orphicorum dispersas reliquias collegit. Vol. 1. Regimontii Prussorum Sumtibus Fratrum Borntraeger, 1829:564-65.]

Man möchte sagen, daß der Begriff “klassisch”—, wie ihn Winckelmann und Goethe gebildet hatten, jenes dionysische Element nicht nur nicht erklärte, sondern von sich ausschloß: und — — —

es gab eine Zeit, wo man unter Philologen mit besonderer Dankbarkeit Lobeck — — —

14 [36]

Apollinisch, dionysisch

III

Es giebt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben, nur schwächer, im Traum und im Rausch, wie in — — —

Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jeder aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.

14 [37]

Zur Modernität.

Was uns Ehre macht.

Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es dies: wir haben den Ernst wo andershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten und bei Seite gelassenen niedrigen Dinge wichtig—wir geben dagegen die “schönen Gefühle” wohlfeil ...

Giebt es eine gefährlichere Verirrung, als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurtheilt wäre krankhaft zu werden, zu den vapeurs des “Idealismus”!

Es hat Alles nicht Hand und Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht worden ist: wir sind radikaler. Wir haben die “kleinste Welt” als das überall-Entscheidende entdeckt: wir sind auf eine gefährliche Weise in die — — —

Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Bude nicht vergiftet, die Speisen auf ihren Werth begriffen, wir haben Ernst gemacht mit allen Necessitäten des Daseins und verachten alles “Schönseelenthum” als eine Art der “Leichtfertigkeit und Frivolität.”

Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie gerückt.

ich füge die Unmoralität hinzu: Moralität ist nur eine Form der Unmoralität, welche in Hinsicht auf den Vortheil, den eine bestimmte Art davon hat, — — —

14 [38]

[Vgl. Edmond and Jules Huot de Goncourt, Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Vol. 1: 1851-1861. Paris: Charpentier, 1887.]

TypusJesus” ...

Jesus ist das Gegenstück eines Genies: er ist ein Idiot. Man fühle seine Unfähigkeit, eine Realität zu verstehn: er bewegt sich im Kreise um fünf, sechs Begriffe, die er früher gehört und allmählich verstanden, d.h. falsch verstanden hat—in ihnen hat er seine Erfahrung, seine Welt, seine Wahrheit,—der Rest ist ihm fremd. Er spricht Worte, wie sie Jedermann braucht—er versteht sie nicht wie Jedermann, er versteht nur seine fünf, sechs schwimmenden Begriffe. Daß die eigentlichen Manns-Instinkte—nicht nur die geschlechtlichen, sondern auch die des Kampfes, des Stolzes, des Heroismus—nie bei ihm aufgewacht sind, daß er zurückgeblieben ist und kindhaft im Alter der Pubertät geblieben ist: das gehört zum Typus gewisser epilepsoider Neurosen.

Jesus ist in seinen tiefsten Instinkten unheroisch: er kämpft nie: wer etwas wie einen Held in ihm sieht, wie Renan, hat den Typus vulgärisirt ins Unerkenntliche.

man fühle andererseits seine Unfähigkeit, etwas Geistiges zu verstehen: das Wort Geist wird in seinem Munde zum Mißverständniß! Nicht der entfernteste Hauch von Wissenschaft, Geschmack, geistiger Zucht, Logik hat diesen heiligen Idioten angeweht: so wenig als ihn das Leben berührt hat.— Natur? Gesetze der Natur?— Niemand hat ihm verrathen daß es eine Natur giebt. Er kennt nur moralische Wirkungen: Zeichen der untersten und absurdesten Cultur. Man muß das festhalten: er ist Idiot inmitten eines sehr klugen Volkes ... Nur daß seine Schüler es nicht waren—Paulus war ganz und gar kein Idiot!—daran hängt die Geschichte des Christenthums.

14 [39]

Kritik des Christenthums.
Moral als Circe der Philosophen
Der Kampf ums
Ich.”

14 [40]

Die unbewußte Wirkung der décadence auf die Ideale der Wissenschaft

Es giebt eine tiefe und vollkommen unbewußte Wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsere ganze Sociologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Urtheils nimmt.

Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formulirt in ihnen seine Gesellschafts-Ideale: sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich ...

Der Heerdeninstinkt sodann—eine jetzt souverän gewordene Macht—ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Societät: und es kommt auf den Werth der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat ...

Unsere ganze Sociologie kennt gar keinen anderen Instinkt als den der Heerde, d.h. der summirten Nullen ... wo jede Null “gleiche Rechte” hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein ...

Die Werthung, mit der heute die verschiedenen Formen der Societät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche dem Frieden einen höheren Werth zuertheilt als dem Krieg: aber dies Urtheil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens ... Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent,—meist auch als Moralist (—er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswerthes!!!). Das Leben ist eine Folge des Krieges, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg.

14 [41]

Renan, der das mit den Weibern gemeinsam hat, daß er nur lebensgefährlich wird, wenn er liebt; er der niemals ohne kleine mörderische Nebenabsichten einen alten Götzen von Ideal umarmt hat, immer neugierig, ob das, was er umarmt, nicht bereits wackelt ...

14 [42]

— Deutsch =

(4) Religion in der Musik.

Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung aller religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik! Wie viel Gebet, Tugend, Salbung, “Jungfräulichkeit” “Erlösung” redet da noch mit! .. Daß die Musik vom Worte vom Begriffe absehen darf—oh wie sie daraus ihren Vortheil zieht, diese arglistige Heilige, die zu allem zurückführt, zurückverführt, was einst geglaubt wurde! .. Unser intellekt[uelles] Gewissen braucht sich nicht zu schämen,—es bleibt außerhalb—wenn irgend ein alter Instinkt mit zitternden Lippen aus verbotenen Bechern trinkt ... Das ist klug, gesund und, insofern es Scham vor der Befriedigung des religiösen Instinktes verräth, sogar ein gutes Zeichen ... Heimtückische Christlichkeit: Typus der Musik des “letzten Wagner.”

14 [43]

Durch Alkohol und Musik bringt man sich auf Stufen der Cultur und Unkultur zurück, welche unsere Voreltern überwunden haben: insofern ist nichts lehrreicher, nichts “wissenschaftlicher” als sich zu berauschen ... Auch manche Speisen enthalten Offenbarungen über etwas, woraus wir herkommen. Wie viel Geheimniß steckt zum Beispiel in der Correlation der deutschen Knödel und des deutschen “kindlichen Gemüthes”! ... Wenn man erstere im Leibe hat, regt sich sofort das Letztere: man beginnt zu ahnen! ... Oh wie fern man alsbald vom “Verstand der Verständigen” ist! —

14 [44]

Gegen diese Verderbniß der Musik wehre ich mich mit allen Mitteln, und wie ein schöner Teufel — — —

14 [45]

Was hat der deutsche Geist aus dem Christenthum gemacht!— Und daß ich beim Protestantismus stehen bleibe, wie viel Bier ist wieder in der protestantischen Christlichkeit! Ist eine geistig verdumpftere, faulere, gliederstreckendere Form des Christen-Glaubens noch denkbar! als die eines deutschen Durchschnitts-Protestanten? .. Das nenne ich mir ein bescheidenes Christenthum! eine Homöopathie des Christenthums nenne ich’s!— Man erinnert mich daran, daß es heute auch einen unbescheidenen Protestantismus giebt, den der Hofprediger und antisemitischen Spekulanten: aber Niemand hat noch behauptet, daß irgend ein “Geist” auf diesen Gewässern “schwebe” ... Das ist bloß eine unanständigere Form der Christlichkeit, durchaus noch keine verständigere ...

14 [46]

Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben ... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung des Zeit- und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Concentration dar—das höchste Gefühl der Macht ist concentrirt im klassischen Typus. Schwer reagiren: ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf:

Der Naturrausch:

14 [47]

Gegenbewegung der Kunst.

Pessimismus in der Kunst? —

der Künstler liebt allmählich die Mittel um ihrer selber willen, in denen sich der Rauschzustand zu erkennen giebt: die extreme Feinheit und Pracht der Farbe, die Deutlichkeit der Linie, die nuance des Tons: das Distinkte, wo sonst, im Normalen, alle Distinktion fehlt

—: alle distinkten Sachen, alle Nuancen, insofern sie an die extremen Kraftsteigerungen erinnern, welche der Rausch erzeugt, wecken rückwärts dieses Gefühl des Rausches.

—: die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustandes, des Rausches ...

—: das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseins-Vollendung, ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle

Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins ...

—: Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio?— Ja.

Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimism stellt. Die Tragödie lehrt nicht “Resignation” ...

— Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht ...

Es giebt keine pessimistische Kunst .. Die Kunst bejaht. Hiob bejaht.

Aber Zola? Aber de Goncourt?

— die Dinge sind häßlich, die sie zeigen: aber daß sie dieselben zeigen, ist aus Lust an diesem Häßlichen ...

— hilft nichts! ihr betrügt euch, wenn ihr’s anders behauptet

Wie erlösend ist Dostoiewsky!

14 [48]

[Vgl. John Stuart Mill, August Comte und der Positivismus. Aus dem Engl. übersetzt von Elise Gomperz. In: John Stuart Mill's Gesammelte Werke. Autorisirte Übersetzung unter Redaktion von Theodor Gomperz. Bd. 9. Leipzig: Fues, 1874:50f.]

Überschriften über einem modernen Narrenhaus.

“Denknothwendigkeiten sind Moralnothwendigkeiten.”

Herbert Spencer.

 
“Der letzte Prüfstein für die Wahrheit eines Satzes ist die Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung.”

Herbert Spencer.

14 [49]

Modernität.

Die Verhäßlichung der Musik.

die Herrschaft des Abstrakten: “das bedeutet”: gleichgültig gegen den “Sumpf,” zu dem die Sinne gar nicht Ja sagen sollen ...

Musik soll durchaus etwas bedeuten, was nicht Musik ist: dabei wird aus ihr

der Rhythmus
die Melodie
die Farbe
der Bau

der falsche Tiefsinn als Stille der Gedanken; die Wuth, die Reue, der Krampf, die Ekstase—alles leichte Dinge, Spielereien, die man noch immer vermischen kann bis zur Vollendung

14 [50]

5.Die Mittel, mit denen der Schauspieler obenauf kommt
6.Die Gefahr des Theaters als Ort der Verderbniß aller Künste.
7.Das Überflüssige aller Neuerungen Wagner’s selbst in der Oper
8.Carmen: und die deprimirende Wirkung Wagner’s: physiologische Einsprache gegen Wagner
9.die große Zweideutigkeit der tragischen Tendenz bei Wagner: mein realismus in aestheticis ...
10.Wiederherstellung des Begriffs “tragisch”
11.Die Bedeutung dieses psychologisch-aesthetischen Phänomens für die Geschichte der “modernen Seele.”
12.      : wesentlich undeutsch,—darin liegt seine Auszeichnung ...
13.      : Kritik der “Romantik.”

14 [51]

Wagner als Problem.
Ein Wort zur Aufklärung.
Von
Friedrich Nietzsche.

14 [52]

— — — dessen Klugheit zur rechten Zeit mit dem deutschen Wesen Frieden machte, den Kaisermarsch dichtete, General-Kapellmeister-Stellungen ambitionirte

der zu jedem Schmutz condescendirte, mit dem sich der deutsche Geist, dieser so corrupte deutsche Geist, befleckt hat

der mit seinem Parsifal allen Feigheiten der modernen Seele zuredete.

Diese sehr zweideutig gewordene Personnage, auf deren Grab nichtsdestoweniger ein Wagner-Verein—der Münchener—einen Kranz mit der Inschrift niederlegte:

Erlösung dem Erlöser!

... Man sieht, das Problem ist groß, das Mißverständniß ungeheuer.

Wenn Wagner zum Erlöser werden konnte,

Wer erlöst uns von dieser Erlösung?

wer erlöst uns von diesem Erlöser? ...

14 [53]

Es giebt Instrumente, mit denen man die Eingeweide überredet, andere haben ihren Erfolg im Rückenmark ... Man hat mir verrathen, daß die Wirkung Wagnerischer Musik am stärksten nach einer Kur in Carlsbad ist ...

14 [54]

Aber Wagner ist nicht nur hier ein Vorbild ... Und man hat ihn in der ganzen Welt verstanden ... Man macht seit Wagner eine neue Musik, man macht sie in Rußland, in Paris, in Südamerika, man macht sie selbst in Deutschland ... Ich selbst wüßte Unterricht zu geben, wie man diese neue Musik macht. Will man eine kleine Lektion? ...

14 [55]

Unter Musikern.

Wir sind späte Musiker. Eine ungeheure Vergangenheit ist in uns vererbt. Unser Gedächtniß citirt beständig. Wir dürfen unter uns auf eine fast gelehrte Weise anspielen: wir verstehen uns schon. Auch unsere Zuhörer lieben es, daß wir anspielen: es schmeichelt ihnen, sie fühlen sich dabei gelehrt.

14 [56]

Erster Satz aller Theater-Optik: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein.

Der Schauspieler hat das Gefühl nicht, das er darstellt; er wäre verloren, wenn er es hätte

Man kennt, wie ich hoffe, die berühmten Ausführungen Talmas

14 [57]

Überzeugung

Zur Psychologie des Paulus.

Das Faktum ist der Tod Jesu. Dies bleibt auszulegen ...

Daß es eine Wahrheit und einen Irrthum in der Auslegung giebt, ist gar nicht solchen Leuten in den Sinn gekommen: eines Tages steigt ihnen eine sublime Möglichkeit in den Kopf, “es könnte dieser Tod das und das bedeuten”

und sofort ist er das! Eine Hypothese beweist sich durch den sublimen Schwung, welchen sie ihrem Urheber giebt ...

“Der Beweis der Kraft”: d.h. ein Gedanke wird durch seine Wirkung bewiesen,—(“an seinen Früchten,” wie die Bibel naiv sagt)

was begeistert, muß wahr sein —

wofür man sein Blut läßt, muß wahr sein —

* *

Hier wird überall das plötzliche Machtgefühl, das ein Gedanke in seinem Urheber erregt, diesem Gedanken als Werth zugerechnet:—und da man einen Gedanken gar nicht anders zu ehren weiß, als indem man ihn als wahr bezeichnet, so ist das erste Prädikat, das er zu seiner Ehre bekommt, er sei wahr .. Wie könnte er sonst wirken? Er wird von einer Macht imaginirt: gesetzt sie wäre nicht real, so könnte sie nicht wirken ... Er wird als inspirirt aufgefaßt: die Wirkung, die er ausübt, hat etwas von der Übergewalt eines dämonischen Einflusses —

Ein Gedanke, dem ein solcher décadent nicht Widerstand zu leisten vermag, dem er vollends verfällt, ist als wahr “bewiesen”!!!

Alle diese heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstcritik, mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereigniß auf seine Wahrheit prüft ...

es sind, im Vergleich zu uns, moralische Cretins ...

14 [58]

Carlyle ...

Die Herkunft der Wissenschaft: man gebe Acht. Sie entsteht nicht bei den Priestern und den Philosophen, ihren natürlichen Gegnern. Sie entsteht bei den Söhnen von Handwerkern und Geschäftsleuten aller Art, bei Advokaten usw.: solchen, welchen die Tüchtigkeit des Handwerks und dessen Voraussetzung sich auch auf solche Fragen und deren Beantwortung übertrug.

14 [59]

Überzeugung und Lüge.
Die “Besserung.”
Wie man die Tugend zur Macht bringt.
Mitleiden.
“Altruismus.”
Entsagung.
Entsinnlichung

14 [60]

Ein Glaube der behauptet “selig” zu machen, nachdem er krank machte. Ein Glaube, der sich auf Bücher beruft,—ein Glaube, der eine Offenbarung für sich in Anspruch nimmt—ein Glaube, der den Zweifel an sich als “Sünde” betrachtet, ein Glaube, der sich durch Märtyrertode beweist — — —

Ein anderes Abzeichen des Theologen ist sein Unvermögen zur Philologie. Ich verstehe hier das Wort Philologie in einem sehr allgemeinen Sinne: Thatsachen ablesen können ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne — — —

14 [61]

Wille zur Macht als Kunst

Musik”—und der große Styl

Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den “schönen Gefühlen” die er erregt: das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er will ... Über das Chaos Herr werden das man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden; Nothwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden—: das ist hier die große Ambition. Mit ihr stößt man zurück; nichts reizt mehr die Liebe zu solchen Gewaltmenschen—eine Einöde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem großen Frevel ...

Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf? .. Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleicht in jene Cultur, wo das Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende gieng? Widerspräche zuletzt der Begriff großer Stil schon der Seele der Musik,—dem “Weibe” in unserer Musik? ...

Ich berühre hier eine Cardinal-Frage: wohin gehört unsere ganze Musik? Die Zeitalter des klassischen Geschmacks kennen nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als die Renaissance-Welt ihren Abend erreichte, als die “Freiheit” aus den Sitten und selbst aus den Wünschen davon war: gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein? Und anders ausgedrückt eine Décadence-Kunst zu sein? etwa wie der Barockstil eine Décadence-Kunst ist? Ist sie die Schwester des Barockstils, da sie jedenfalls seine Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne Musik nicht schon décadence? ...

Die Musik ist Gegenrenaissance in der Kunst: sie ist auch décadence als Gesellschafts-Ausdruck

Ich habe schon früher einmal den Finger auf diese Frage gelegt: ob unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist? ob sie nicht die Nächstverwandte des Barockstils ist? ob sie nicht im Widerspruch zu allem klassischen Geschmack gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Classicität von selbst verböte? ...

Auf diese Werthfrage ersten Ranges würde die Antwort nicht zweifelhaft sein dürfen, wenn die Thatsache richtig abgeschätzt worden wäre, daß die Musik als Romantik ihre höchste Reife und Fülle erlangt—noch einmal als Reaktions-Bewegung gegen die Classicität ...

Mozart—eine zärtliche und verliebte Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem Ernste ... Beethoven der erste große Romantiker, im Sinne des französischen Begriffs Romantik, wie Wagner der letzte große Romantiker ist ... beides instinktive Widersacher des klassischen Geschmacks, des strengen Stils,—um vom “großen” hier nicht zu reden ... beides — — —

14 [62]

Modernität

die deutsche romantische Musik, ihre Ungeistigkeit, ihr Haß gegen dieAufklärungundVernunft

Verkümmerung der Melodie das Gleiche, wie das Verkümmern der “Idee,” der Dialektik, der Freiheit geistigster Bewegung,—wie viel Kampf gegen Voltaire ist in der deutschen Musik! ...

wie viel Plumpheit, Gestopftheit, was sich zu neuen Begriffen und selbst zu Principien entwickelt —

man hat immer die Principien seiner Begabung

gegen die höhere Tragödie und spöttische Geistigkeit, gegen das Buffo

ich habe Biertrinker und Militärärzte gesehen, die Wagner “verstanden” ...

Wagners Ehrgeiz, auch die Idioten zu zwingen, Wagner zu verstehen

14 [63]

Der Held, wie ihn Wagner concipirt, wie modern! wie kühn! wie geistreich-complex hat er ihn concipirt! Wie verstand Wagner, den drei Grundbedürfnissen der modernen Seele mit seinen Helden entgegenzukommen—sie will das Brutale, das Krankhafte und das Unschuldige ...

diese prachtvollen Ungethüme, mit Leibern aus Vorzeiten und Nerven von Übermorgen; diese blonden Heiligen, deren kaum präexistente Sinnlichkeit den Frauen so viel zarte Neugierde inspirirt und so viel Entgegenkommen erlaubt ... Beaumarchais hat Cherubin, Wagner hat Parsifal den schönen Frauen zum Geschenk gemacht:

Und was die hysterisch-heroischen Wesen angeht, die Wagner als Weib concipirt hat, vergöttlicht hat, den Typus Senta, Elsa, Isolde, Brünnhilde, Kundry: so sind sie im Theater interessant genug—aber wer möchte sie? ...

daß dieser Typus selbst in Deutschland nicht gänzlich degoutirt hat, hat darin seinen Grund (wenn auch noch lange nicht sein Recht:) daß bereits ein unvergleichlich größerer Dichter als Wagner, der edle Heinrich von Kleist, ihm daselbst die Fürsprache des Genies gegeben hatte

14 [64]

Frage: ist das Entpersönlichung durch eine Wahrheit, wenn man sich in einen Gedanken versenkt?

... Herzen behauptet das: er meint, es sei etwas ganz Gewöhnliches, daß man sein moi vergesse und fahren lasse —

Frage: ob auch da nicht bloße Scheinbarkeit ist; ob das, was eine Frage interessant findet, nicht unser ganzes vielfaches Ich ist ...

14 [65]

[Vgl. Charles Richet, L'homme et l'intelligence. Fragments de physiologie et de psychologie. Paris: Baillière; Paris: Alcan, 1884:542.]

décad[ence]

Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen usw.; die gebrochene Widerstandskraft—moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demuth vor dem Feinde.

Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle diese obersten Werthe der bisherigen Philosophie Moral und Religion mit den Werthen der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker vergleichen kann: sie stellen, in einer milderen Form, dieselben Übel dar ...

der Werth aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen ...

Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien, oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist altes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituiren den krankhaften Zustand. Claude Bernard.

So gut das Böse betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie, Disproportion, so gut kann das Gute eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein

Die erbliche Schwäche, als dominirendes Gefühl: Ursache der obersten Werthe.

NB. Man will Schwäche: warum? ... meistens, weil man nothwendig schwach ist ...

Die Schwächung als Aufgabe: Schwächung der Begehrungen, der Lust- und Unlustgefühle, des Willens zur Macht, zum Stolzgefühl, zum Haben und Mehr-haben-wollen; die Schwächung als Demuth; die Schwächung als Glaube; die Schwächung als Widerwille und Scham an allem Natürlichen, als Verneinung des Lebens, als Krankheit und habituelle Schwäche ...

die Schwächung als Verzichtleisten auf Rache, auf Widerstand, auf Feindschaft und Zorn.

der Fehlgriff in der Behandlung: man will die Schwäche nicht bekämpfen durch ein système fortifiant, sondern durch eine Art Rechtfertigung und Moralisirung: d.h. durch eine Auslegung ...

Die Verwechslung zweier gänzlich verschiedener Zustände: z.B. die Ruhe der Stärke, welche wesentlich Enthaltung der Reaktion ist, der Typus der Götter, welche nichts bewegt ...

und die Ruhe der Erschöpfung, die Starrheit, bis zur Anaesthesie.

: alle philosophisch-asketischen Prozeduren streben nach der zweiten, aber meinen in der That die erste ... Denn sie legen dem erreichten Zustande die Prädikate bei, wie als ob ein göttlicher Zustand erreicht sei.

14 [66]

Moral als décadence

Warum die Schwäche nicht bekämpft, sondern nur “gerechtfertigt” wird

Die Abnahme des Heilkraft-Instinktes bei den Geschwächten: so daß sie als remedium begehren, was ihren Untergang beschleunigt. Z.B. die meisten Vegetarier hätten eine corroborirende Kost nöthig, um der erschlafften Faser wieder Energie zu geben: aber sie halten ihr penchant zum Milden und Sanften für einen Wink der Natur:—und schwächen sich noch ßB¥k :`k@< ...

14 [67]

Das Weib reagirt langsamer als der Mann, der Chinese langsamer als der Europäer ...

14 [68]

Religion als décadence

Das gefährlichste Missverständniss.

Es giebt einen Begriff, der anscheinend keine Verwechslung, keine Zweideutigkeit zuläßt: das ist der der Erschöpfung. Diese kann erworben sein; sie kann vererbt sein—in jedem Falle verändert sie den Aspekt der Dinge, den Werth der Dinge ...

Im Gegensatz zu dem, der, aus der Fülle, welche er darstellt und fühlt, unfreiwillig abgiebt an die Dinge, sie voller, mächtiger, zukunftsreicher sieht—der jedenfalls schenken kann, verkleinert und verhunzt der Erschöpfte alles was er sieht,—er verarmt den Werth: er ist schädlich ...

Hierüber scheint kein Fehlgriff möglich: trotzdem enthält die Geschichte die schauerliche Thatsache, daß die Erschöpften immer verwechselt worden sind mit den Vollsten—und die Vollsten mit den Schädlichsten.

Der Arme an Leben der Schwache verarmt noch das Leben: der Reiche an Leben der Starke bereichert es ...

Der Erste ist dessen Parasit; der Zweite ein Hinzuschenkender ...

Wie ist eine Verwechslung möglich? ...

Wenn der Erschöpfte mit der Gebärde der höchsten Aktivität und Energie auftritt: wenn die Entartung einen Exceß der geistigen oder nervösen Entladung bedingt, dann verwechselte man ihn mit dem Reichen ... Er erregte Furcht ...

der Cultus des Narren ist immer noch der Cultus des An-Leben-Reichen des Mächtigen

der Fanatiker, der Besessene, der religiöse Epileptiker, alle Excentrischen sind als höchste Typen der Macht empfunden worden

: als göttlich

diese Art Stärke, die Furcht erregt, galt vor allem als göttlich: hierher nahm die Autorität ihren Ausgangspunkt, hier interpretirte, hörte, suchte man Weisheit ...

Hieraus entwickelte sich, überall beinahe, ein Wille zur “Vergöttlichung,” d.h. zur typischen Entartung von Geist, Leib und Nerven: ein Versuch, den Weg zu dieser höheren Art Sein zu finden

sich krank, sich toll machen: die Symptome der Zerrüttung provociren—das hieß stärker, übermenschlicher, furchtbarer, weiser werden:

— man glaubte damit so reich an Macht zu werden, daß man abgeben konnte: überall, wo angebetet worden ist, suchte man einen, der abgeben kann.



daß man den Narren für etwas Übermenschliches nahm

daß man in den Nervenkranken und Epileptikern furchtbare Mächte thätig glaubte

Hier war irreführend die Erfahrung des Rausches ...

dieser vermehrt im höchsten Grade das Gefühl der Macht

folglich, naiv beurtheilt, die Macht

auf der höchsten Stufe der Macht mußte der Berauschteste stehen, der Ekstatische

es giebt zwei Ausgangspunkte des Rausches: die übergroße Fülle des Lebens und einen Zustand von krankhafter Ernährung des Gehirns



Nichts hat sich theurer bezahlt gemacht, als die Verwechslung im Physiologischen. —

14 [69]

Die physiologischen Mißverständnisse.

1. die Krankheit als höhere Form des Lebens mißverstanden
2. der Rausch
3. die Impassibilität.

14 [70]

Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht

Das Glück in dem herrschend gewordenen Bewußtsein der Macht und des Siegs

Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständniß, Gefahr, — — —

14 [71]

Wille zur Macht als “Naturgesetz”
Wille zur Macht als Leben
Wille zur Macht als Kunst.
Wille zur Macht als Moral.
Wille zur Macht als Politik
Wille zur Macht als Wissenschaft.
Wille zur Macht als Religion

14 [72]

Wille zur Macht.

Morphologie.

Wille zur Machtals “Natur”
als Leben
als Gesellschaft
als Wille zur Wahrheit
als Religion
als Kunst
als Moral
als Menschheit

Die Gegenbewegung
Wille zum Nichts

die Überwundenen. Der Abfall, die Entarteten

14 [73]

Folgen der décadence.

Das Laster, die Lasterhaftigkeit
die Krankheit, die Krankhaftigkeit
das Verbrechen, die Criminalität
das Coelibat, die Sterilität
der Hysterismus, die Willensschwäche, der Alkoholismus
der Pessimismus
der Anarchismus

14 [74]

Die Degenerescenz:

Erster Grundsatz: was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen.

:das Laster: als Folge;
:die Krankheit die Sterilität
:das Verbrechen
die VerleumderìScepsis
UntergraberíAsketik
AnzweiflerïNihilismus
ZerstörerîJenseitigkeit

: die libertinage (auch die geistige)—Coelibat.

: die Willensschwäche: der Pessimismus; der Anarchismus;
— — —

Aber auch, was man als Heilmittel gegen die Entartung betrachtet, sind nur Palliative gegen gewisse Wirkungen derselben: die “Geheilten” sind nur ein Typus der Degenerirten.

14 [75]

Begriffdécadence

Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine nothwendige Consequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand sie abzuschaffen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird ...

Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Combinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Noth nicht mehr wüchse ... Aber das heißt das Leben verurtheilen ... Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie vorgeht, um so reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden sein, um so näher dem Niedergang sein ... Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.

14 [76]

Ehemals sagte man von jeder Moral: “an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen”; ich sage von jeder Moral: sie ist eine Frucht, an der ich den Boden erkenne, aus dem sie wuchs.

14 [77]

Wir Hyperboreer.
Eine Vorrede.

Der Wille zur Macht.
Erster Theil.

Psychologie der décadence.
Theorie der décadence.
Zweiter Theil.

Kritik des Zeitgeistes.
Dritter Theil.

Der große Mittag.
Vierter Theil.

Die Starken.
Die Schwachen.
Wohin gehören wir?
Die große Wahl.

14 [78]

Der Wille zur Macht.
Versuch einer Umwerthung aller Werthe.

Erster Theil.
Was aus der Stärke stammt.

Zweiter Theil.
Was aus der Schwäche stammt.

Dritter Theil.
Und woraus stammen wir? —

Vierter Theil.
Die grosse Wahl.

14 [79]

Wille zur Macht

Philosophie

Machtquanta. Kritik des Mechanismus

entfernen wir hier die zwei populären Begriffe “Nothwendigkeit” und “Gesetz”: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. “Die Dinge” betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es giebt keine Dinge (—das ist unsere Fiktion) sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Nothwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges ...

Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht—darum handelt [es] sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserem Hausgebrauch der Berechnung, das in Formeln von “Gesetzen” auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine “Moralität” in die Welt gelegt, daß wir sie [als] gehorsam fingiren —

Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz. Gerade, daß es kein mezzo termine giebt, darauf beruht die Berechenbarkeit.

Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigungen zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus,—es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum “Wille zur Macht”: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken.

Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt—eine Welt für’s Auge—ist der Begriff “Bewegung.” Hier ist immer subintelligirt, daß etwas bewegt wird,—hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt,—d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das Thun und das, was es thut, gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.

Wir haben Einheiten nöthig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten giebt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserem “Ich” begriff,—unserem ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff “Ding” gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um den Mechanismus der Welt theoretisch aufrecht zu erhalten, immer die Clausel zu machen, in wie fern wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unserer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms = Einheit (aus unserer psychischen “Erfahrung” herstammend): sie hat ein Sinnen-Vorurtheil und ein psychologisches Vorurtheil zu ihrer Voraussetzung.

Die mechanistische Welt ist so imaginirt, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als “bewegt”)

so, daß sie berechnet werden kann,—daß Einheiten fingirt sind,

so daß ursächliche Einheiten fingirt sind, “Dinge” (Atome), deren Wirkung constant bleibt (—Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff)

Zahlbegriff.
Dingbegriff (Subjektbegriff
Thätigkeitsbegriff (Trennung von Ursache-sein und Wirken)
Bewegung (Auge und Getast)
: daß alle Wirkung Bewegung ist
: daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird

Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Subjektbegriffs, des Bewegungsbegriffs: wir haben unser Auge, unsere Psychologie immer noch darin.

Eliminiren wir diese Zuthaten: so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem “Wirken” auf dieselben—der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt ...

die Mechanik formulirt Folgeerscheinungen noch dazu semiotisch in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln, sie berührt die ursächliche Kraft nicht ... [Vgl. Otto Liebmann, Gedanken und Thatsachen: philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. H. 1: Die Arten der Nothwendigkeit.— Die mechanische Naturerklärung.— Idee und Entelechie. Straßburg: Trübner, 1882:85-86.]

14 [80]

Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachsthum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen und Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Cardinal-Thatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oscillationen des Ja und des Nein? Aber wer fühlt Lust? ... Aber wer will Macht? ... Absurde Frage: wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist. Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten ... Lokalisirt - - -

wenn A auf B wirkt, so ist A erst lokalisirt getrennt von B

14 [81]

Kritik des BegriffsUrsache

Psychologisch nachgerechnet: so ist der Begriff “Ursache” unser Machtgefühl vom sogenannten Wollen—unser Begriff “Wirkung” der Aberglaube, daß das Machtgefühl die Macht selbst ist, welche bewegt ...

ein Zustand, der ein Geschehen begleitet, und schon eine Wirkung des Geschehens ist, wird projicirt als “zureichender Grund” desselben

das Spannungsverhältniß unseres Machtgefühls: die Lust als Gefühl der Macht: des überwundenen Widerstandes—sind das Illusionen?

übersetzen wir den Begriff “Ursache” wieder zurück in die uns einzig bekannte Sphäre, woraus wir ihn genommen haben: so ist uns keine Veränderung vorstellbar, bei der es nicht einen Willen zur Macht giebt. Wir wissen eine Veränderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Übergreifen von Macht über andere Macht statt hat.

Die Mechanik zeigt uns nur Folgen, und noch dazu im Bilde (Bewegung ist eine Bilderrede)

Die Gravitation selbst hat keine mechanische Ursache, da sie der Grund erst für mechanische Folgen ist



Der Wille zur Accumulation von Kraft als spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung,

für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität

sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen?

und in der kosmischen Ordnung?

nicht bloß Constanz der Energie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum aus die einzige Realität ist,—nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignung, Herr-werden-, Mehr-werden-, Stärker-werden-wollen.



Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Causalitäts-Princip beweisen?

“aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen”:

“ein permanentes Gesetz der Dinge”

“eine invariable Ordnung”

weil etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon nothwendig?

wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein “Princip,” kein “Gesetz,” keine “Ordnung”

Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben

Beim Glauben an Ursache und Wirkung ist die Hauptsache immer vergessen: das Geschehen selbst.

man hat einen Thäter angesetzt, man hat das Gethane wieder hypothesirt

14 [82]

Können wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung d.h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht?

der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für die interne Thatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta?

alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Druck und Stoß, Schwere sind nicht “Thatsachen an sich,” sondern Interpretationen mit Hülfe psychischer Fiktionen.

das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Accumulation der Kraft

: alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel

: nichts will sich erhalten, alles soll summirt und accumulirt werden

Das Leben, als ein Einzelfall: Hypothese von da aus auf den Gesammtcharakter des Daseins.

: strebt nach einem Maximal-Gefühl von Macht

: ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht

: Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht

: das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille: Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen. [Vgl. Otto Liebmann, Gedanken und Thatsachen: philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. H. 1: Die Arten der Nothwendigkeit.— Die mechanische Naturerklärung.— Idee und Entelechie. Straßburg: Trübner, 1882:85-86.]

14 [83]

Problem des Philosophen und des

wissenschaftlichen Menschen.

Aufgangs-Typus
Stärke in der Ruhe. In der relativen Gleichgültigkeit und Schwierigkeit, zu reagiren.
Die großen Affekte, alle, und wunderbar einander zu Hülfe kommend ...
 
Einfluß des Alters
depressive Gewohnheiten (Stubenhocken à la Kant)
Überarbeitung
unzureichende Ernährung des Gehirns
Lesen

Wesentlicher: ob nicht ein Décadence-Symptom schon in der Richtung auf solche Allgemeinheit gegeben ist: Objektivität als Willens-Disgregation (so fern bleiben können ...

dies setzt eine große Adiaphorie gegen die starken Triebe voraus:

eine Art Isolation
Ausnahme-Stellung
Widerstand
ì
í
î
gegen die Normal-Triebe

Typus: die Loslösung von der Heimat, in immer weitere Kreise, der wachsende Exotismus, das Stummwerden der alten Imperative— —gar dieses beständige Fragen “wohin?” (“Glück”) ist ein Zeichen der Herauslösung aus Organisations-Formen, Herausbruch.

Problem: ob der wissenschaftliche Mensch eher noch ein Décadence-Symptom ist als der Philosoph —

er ist als Ganzes nicht losgelöst, nur ein Theil von ihm ist absolut der Erkenntniß geweiht, dressirt für eine Ecke und Optik —

— er hat hier alle Tugenden einer starken Rasse und Gesundheit nöthig

— große Strenge, Männlichkeit, Klugheit —

— hier könnte man von einer Arbeitstheilung und Dressur reden, die sehr zum Nutzen des Ganzen und nur bei einem sehr hohen Grad von Cultur möglich ist. Er ist mehr ein Symptom hoher Vielfachheit der Cultur als von deren Müdigkeit.

Der décadence-Gelehrte ist ein schlechter Gelehrter. Während der décadence-Philosoph bisher wenigstens als der typische Philosoph galt.

14 [84]

Verglichen mit dem Künstler ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen in der That ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung des Lebens.

Aber auch einer Verstärkung, Strenge, Willenskraft.

: inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von “Kinderei” sein mögen ...

: ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen ewige Werthe, Ernst im “Spiele” ... ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die canaille ...

: das Nachmachen als Instinkt, commandirend

Die bejahenden, die Niedergangs-Künstler.

Aufgangs-Künstler—Niedergangs-Künstler: ob sie nicht allen Phasen zugehören ... Ja

14 [85]

[Vgl. Victor Brochard, Les Sceptiques Grecs. Par Victor Brochard, maître de conférences suppléant à l'Ecole Normale Supérieure. Ouvrage couronné par l'Académie des sciences et politiques. Paris: Imprimerie Nationale, 1887:75.]

Pyrrho, ein griechischer Buddhist

Plato, vielleicht bei den Juden in die Schule gegangen

14 [86]

Zum Begriff “Décadence” —

1.die Skepsis ist eine Folge der décadence: ebenso wie die libertinage des Geistes.
2.die Corruption der Sitten ist eine Folge der décadence: Schwäche des Willens, Bedürfniß starker Reizmittel ...
3.die Kurmethoden, die psychologischen, moralischen, verändern nicht den Gang der décadence, sie halten nicht auf, sie sind physiologisch null

: Einsicht in die große Nullität dieser anmaaßlichen “Reaktionen”

: es sind Formen der Narkotisirung gegen gewisse fatale Folge-Erscheinungen, sie bringen das morbide Element nicht heraus

: sie sind oft heroische Versuche, den Menschen der décadence zu annulliren, ein Minimum seiner Schädlichkeit durchzusetzen.

4.der Nihilism ist keine Ursache, sondern nur die Logik der décadence
5.der “Gute” und der “Schlechte” sind nur zwei Typen der décadence: sie halten zu einander in allen Grundphänomenen.
6.die sociale Frage ist eine Folge der décadence
7.die Krankheiten, vor allen die Nerven- und Kopfkrankheiten sind Anzeichen, daß die Defensiv-Kraft der starken Natur fehlt; ebendafür spricht die Irritabilität, so daß Lust und Unlust die Vordergrunds-Probleme werden.

14 [87]

[Vgl. Victor Brochard, Les Sceptiques Grecs. Par Victor Brochard, maître de conférences suppléant à l'Ecole Normale Supérieure. Ouvrage couronné par l'Académie des sciences et politiques. Paris: Imprimerie Nationale, 1887:75.]

der antike Philos[oph] von Socrates [an] hat die Stigmata der décadence: Moralismus und Glück.

Höhepunkt Pyrrho. Stufe des Buddhismus erreicht



Epicureismus im Christenthum



Wege zum Glück: Zeichen, daß alle Hauptkräfte des Lebens erschöpft sind

14 [88]

Die accumulativen Zeiten und Einzelnen

die verschwenderischen: die genialen, die siegreichen, die erobernden, die entdeckenden, die abenteuerlichen

nach letzteren folgt nothwendig der décadent

14 [89]

Gegenbewegung: Religion

Die zwei Typen:
Dionysos und der Gekreuzigte.

Festzuhalten: der typische religiöse Mensch—ob eine décadence-Form?

Die großen Neuerer sind sammt und sonders krankhaft und epileptisch

: aber lassen wir nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Cult nicht eine Form der Danksagung und Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein?

Typus eines vollgerathenen und entzückt-überströmenden Geistes ...

Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Typus?

— Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen:

die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbirten Lebens

typisch: daß der Geschlechts-Akt Tiefe, Geheimniß, Ehrfurcht erweckt

Dionysos gegen den “Gekreuzigten”: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums,—nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung ...

im anderen Fall gilt das Leiden, der “Gekreuzigte als der Unschuldige,” als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurtheilung.

Man erräth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn ... Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt das Sein als selig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen

Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu

Der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden ...

“der Gott am Kreuz” ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen

der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung ins Leben: es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung heimkommen

14 [90]

Die physiologische Falschheit auf den Bildern Raffaels.

Ein Weib mit normalen Sekretionen hat kein Bedürfniß nach Erlösung. Daß all diese wohlgerathenen und vortheilhaften Naturen sich ewig um jenen anämischen Heiligen von Nazareth bekümmern, geht wider die Naturgeschichte. Der gehörte unter eine andere Species: eine solche, wie sie Dostoiewsky kennt,—rührende, verderbte und verdrehte Mißgeburten mit Idiotismus und Schwärmerei, mit Liebe ...

14 [91]

die Religion als décadence

Buddha gegen denGekreuzigten

Innerhalb der nihilistischen Bewegung darf man immer noch die christliche und die buddhistische scharf auseinander halten

: die buddhistische drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde,—es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Rancune

: zuletzt, die hohe geistige Liebe, das Raffinement des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Gluth. (—Herkunft aus den obersten Kasten. —

: die christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden ... Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von Überall

sie hat die Rancune auf dem Grunde gegen alle Wohlgerathene und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgerathenen und Herrschenden darstellt ...

sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Rancune gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das Wohlgerathene, das Herrschaftliche

14 [92]

Das Problem des Socrates.

Die beiden Gegensätze:

die tragische Gesinnung
die sokratische Gesinnung
}gemessen an dem
Gesetz des Lebens

: in wiefern die sokratische Gesinnung ein Phänomen der décadence ist

: in wiefern aber noch eine starke Gesundheit und Kraft im ganzen Habitus, in der Dialektik und Tüchtigkeit, Straffheit des wissenschaftlichen Menschen sich zeigt (—die Gesundheit des Plebejers dessen Bosheit, esprit frondeur dessen Scharfsinn dessen Canaille au fond im Zaum gehalten durch die Klugheit: “häßlich”

Verhäßlichung:
die Selbstverhöhnung
die dialektische Dürre
die Klugheit als Tyrann gegen “den Tyrannen” (den Instinkt)
 
es ist alles übertrieben, excentrisch, Carikatur an Sokrates, ein buffo, mit den Instinkten Voltaires im Leibe;
 
er entdeckt eine neue Art Agon
er ist der erste Fechtmeister in den vornehmen Kreisen Athens
er vertritt nichts als die höchste Klugheit: er nennt sie “Tugend” (—er errieth sie als Rettung: es stand ihm nicht frei, klug zu sein, es war de rigueur
sich in Gewalt haben, um mit Gründen und nicht mit Affekten in den Kampf zu treten—die List des Spinoza—das Aufdröseln der Affekt-Irrthümer ... entdecken, wie man Jeden fängt, den man in Affekt bringt, [entdecken,] daß der Affekt unlogisch prozedirt ... Übung in der Selbstverspottung, um das Rancune-Gefühl in der Wurzel zu schädigen
  

Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen Zuständen das sokratische Problem abzuleiten ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitäts-Lehre hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder los ...



Problem des Sokrates. Die Klugheit, Helle, Härte und Logicität als Waffe wider die Wildheit der Triebe. Letztere müssen gefährlich und untergangdrohend sein: sonst hat es keinen Sinn, die Klugheit bis zu dieser Tyrannei auszubilden. Aus der Klugheit einen Tyrannen machen: aber dazu müssen die Triebe Tyrannen sein. Dies das Problem.— Es war sehr zeitgemäß damals. Vernunft wurde = Tugend = Glück.



absoluter Mangel an objektiven Interessen: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem [zu] fühlen



Akustische Hallucinationen bei Socrates: morbides Element



Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geistreich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Socrates Moral-Monoman ist?



Alle “praktische” Philosophie tritt in Nothlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Nothstands-Zeichen



Lösung: die griechischen Philosophen stehen auf der gleichen Grundthatsache ihrer inneren Erfahrungen, wie Sokrates: 5 Schritt weit vom Exceß, von der Anarchie, von der Ausschweifung, alles Décadence-Menschen. Sie empfinden ihn als Arzt:



Lösung: Die Wildheit und Anarchie der Instinkte bei Sokrates ist ein décadence-Symptom. Die Superfötation der Logik und der Vernunft-Helligkeit insgleichen. Beide sind Abnormitäten, beide gehören zu einander



Logik als Wille zur Macht, zur Selbstherrschaft, zum “Glück”



Kritik. Die décadence verräth sich in dieser Präoccupation des “Glücks” (d.h. des “Heils der Seele” d.h. seinen Zustand als Gefahr empfinden)

ihr Fanatismus des Interesses für “Glück” zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zu Grunde gehen war die Alternative vor der sie alle standen

der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten ...

14 [93]

Wille zur Macht als Erkenntniss
Kritik des Begriffs “wahre und scheinbare Welt”

von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingirten Dingen gebildet

die “Scheinbarkeit” gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins d.h.

in einer Welt, wo es kein Sein giebt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist usw.

“Scheinbarkeit” ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsere praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen recht: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns ...

: die Welt, abgesehen von unserer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsere Logik, und psychologischen Vorurtheile reduzirt haben

existirt nicht als Welt “an sich”

sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt—und diese Summirungen sind in jedem Falle gänzlich incongruent.

Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nöthigung es wirkt oder widersteht

Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Conception gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu percipiren, daß wir noch es aushalten ...

14 [94]

Philosophie als décadence
Zur Kritik des Philosophen

Es ist ein Selbstbetrug der Philosophen und Moralisten, damit aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe ankämpfen.

Das steht außerhalb ihres Willens: und, so wenig sie esanerkennen, später entdeckt man, wie sie zu den kräftigsten Förderern der décadence gehört haben.

Die Philosophen Griechenlands z.B.: Plato, der Mann des Guten—aber er löste die Instinkte ab von der Polis, vom Wettkampfe, von der militärischen Tüchtigkeit, von der Kunst und Schönheit, von den Mysterien, von dem Glauben an Tradition und Großväter ...

— er war der Verführer der nobles: er selbst verführt durch den Roturier Sokrates ...

— er negirte alle Voraussetzungen des “vornehmen Griechen” von Schrot und Korn, nahm Dialektik in die Alltags-Praxis auf, conspirirte mit den Tyrannen, trieb Zukunfts-Politik und gab das Beispiel der vollkommensten Instinkt-Ablösung vom Alten.

Er ist tief, leidenschaftlich in allem Antihellenischen ...



Sie stellen der Reihe nach die typischen Décadence-Formen dar, diese großen Philosophen:

die moralisch-religiöse Idiosynkrasie 
den Anarchismus 
den Nihilismus•*4Vn@D"
den Cynismus 
 die Verhärtung
den Hedonismus, 
den Reaktionismus 

die Frage vom “Glück” von der “Tugend,” vom “Heil der Seele” ist der Ausdruck der physiologischen Widersprüchlichkeit in diesen Niedergangsnaturen: es fehlt in den Instinkten das Schwergewicht, das Wohin?

: warum wagt Keiner, die Freiheit des Willens zu leugnen? Sie sind alle präoccupirt durch ihr “Heil der Seele”—was liegt ihnen an der Wahrheit?

14 [95]

Zwei aufeinander folgende Zustände: der eine Ursache, der andere Wirkung

: ist falsch.

der erste Zustand hat nichts zu bewirken den zweiten hat nichts bewirkt.

: es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neuarrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden.

der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten (nicht dessen “Wirkung”): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.

14 [96]

[+ + +] Sie verachten den Leib: sie ließen ihn außer Rechnung: mehr noch, sie behandelten ihn wie einen Feind. Ihr Wahnwitz war zu glauben, man könne eine “schöne Seele,” in einer Mißgeburt von Cadaver herumtragen ... Um das auch Anderen glaublich zu machen, hatten sie nöthig, den Begriff “schöne Seele” anders anzusetzen, den natürlichen Werth umzuwerthen, bis endlich ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen als Vollkommenheit, als “englisch,” als Verklärung, als höherer Mensch empfunden wurde.

14 [97]

“Wille zur Macht”

“Der Wille zur Macht” wird in demokratischen Zeitaltern dermaaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint ...

Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Caesar! Und Alexander! ... Als ob das nicht gerade die größten Verächter der Ehre wären! ...

Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht strebt,um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehen ...: er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß, als Hedonismus ...

Stuart Mill: — — —

14 [98]

Wille zur Macht principiell

Kritik des BegriffsUrsache

Ich brauche den Ausgangspunkt “Wille zur Macht” als Ursprung der Bewegung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt sein—nicht verursacht ...

Ich brauche Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich greift ...



Wir haben absolut keine Erfahrung über eine Ursache

: psychologisch nachgerechnet, kommt uns der ganze Begriff aus der subjektiven Überzeugung, daß wir Ursache sind, nämlich, daß der Arm sich bewegt ... Aber das ist ein Irrthum

: wir unterscheiden uns, die Thäter, vom Thun und von diesem Schema machen wir überall Gebrauch,—wir suchen nach einem Thäter zu jedem Geschehen ..

: was haben wir gemacht? wir haben ein Gefühl von Kraft, Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der Beginn der Handlung ist, als Ursache mißverstanden

: oder den Willen, das und das zu thun, weil auf ihn die Aktion folgt, als Ursache verstanden—Ursache, d.h. — — —

“Ursache” kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien und von wo aus wir sie projicirt haben zum Verständniß des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen.

Unser “Verständniß eines Geschehens” bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah und wie es geschah.

Wir haben unser Willens-Gefühl, unser “Freiheits-Gefühl,” unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsere Absicht von einem Thun in den Begriff “Ursache” zusammengefaßt:

: causa efficiens und finalis ist in der Grundconception Eins.

Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde, in dem sie bereits inhärirt

Thatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt ... Umgekehrt sind wir außer Stande, von irgend einem Ding voraus zu sagen, was es “wirkt.”

Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht—alles inhärirt der Conception “Ursache.”

Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes “Ding” und “Ursubjekt” ..

Endlich begreifen wir, daß Dinge, folglich auch Atome nichts wirken: weil sie gar nicht da sind ... daß der Begriff Causalität vollkommen unbrauchbar ist — Aus einer nothwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Causal-Verhältniß (—das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen zu machen)

Die Causalitäts-Interpretation eine Täuschung ...

die Bew[egung] ist ein Wort, die Bew[egung] ist keine Ursache —

ein “Ding” ist eine Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild ...

Es giebt weder Ursachen, noch Wirkungen.

Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen “Wirkungen” getrennt denke, so habe ich ihn negirt ...

In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend

Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzu erfunden zum Geschehen ..

es giebt nicht was Kant meint, keinen Causalitäts-Sinn

man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann ...

sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt.

Der angebliche Causalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas Bekanntes zu entdecken

ein Suchen nicht nach Ursachen sondern nach Bekanntem ...

Der Mensch ist sofort beruhigt, wenn er zu einem Neuen — — — er bemüht sich nicht, zu verstehen, in wiefern das Streichhölzchen Feuer verursacht



Thatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Causalität seines Inhalts entleert und ihn übrig behalten zu einer Gleichnißformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Complexen Zuständen (Kraftconstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben.

Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde

oder einer Nothwendigkeit gehorcht wurde

oder ein Gesetz von Causalität von uns in jedes Geschehen projicirt wurde:

sie liegt in der Wiederkehr identischer Fälle

14 [99]

[Vgl. Victor Brochard, Les Sceptiques Grecs. Par Victor Brochard, maître de conférences suppléant à l'Ecole Normale Supérieure. Ouvrage couronné par l'Académie des sciences et politiques. Paris: Imprimerie Nationale, 1887:69, 75.]

Philosophie als décadence
Die weise Müdigkeit. Pyrrho. Der Buddhist. Vergleich mit Epikur.

Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz. Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was Alle glauben. Auf der Hut gegen Wissenschaft und Geist, auch Alles, was bläht ... Einfach: unbeschreiblich geduldig, unbekümmert, mild.

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Ein Buddhist für Griechenland, zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet; der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehen, er hat die indischen Büßer gesehen. Auf solche Späte und Raffinirte wirkt alles Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisirt: das macht ausstrecken: Pascal. Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel und verwechselt mit Jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme nöthig, diese Müden ...

Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf; kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen.— Pyrrho lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war. —

Die Weisheit verkleiden, daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben; die niedrigsten Verrichtungen thun: auf den Markt gehen und Milchschweine verkaufen ...

Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden brauchen. Sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung, letzte Gleichgültigkeit.

Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen décadence: verwandt, im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen Tugenden—Beides zusammen hieß damals Philosophie—; absichtlich das, was sie lieben, niedrig; die gewöhnlichen, selbst verachteten Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank, noch gesund, noch lebendig, noch todt ist ... Epikur, naiver, idyllischer, dankbarer; Pyrrho, gereister, verlebter, nihilistischer ...

Sein Leben war ein Protest gegen die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntniß).

Das rechte Leben findet man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht “weise” ..

Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von Glück ...

14 [100]

[Vgl. Victor Brochard, Les Sceptiques Grecs. Par Victor Brochard, maître de conférences suppléant à l'Ecole Normale Supérieure. Ouvrage couronné par l'Académie des sciences et politiques. Paris: Imprimerie Nationale, 1887:45-46, 48.]

Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates: mit Sokrates verändert sich etwas

das sind Alles vornehme Personnagen, abseits sich stellend von Volk und Sitte, gereist, ernst bis zur Düsterkeit, mit langsamem Auge, den Staatsgeschäften und der Diplomatie nicht fremd. Sie nehmen den Weisen alle großen Conceptionen der Dinge vorweg: sie stellen sie selber dar, sie bringen sich in System.

Nichts giebt einen höheren Begriff vom griechischen Geist, als diese plötzliche Fruchtbarkeit an Typen, als diese ungewollte Vollständigkeit in der Aufstellung der großen Möglichkeiten [des] philosophischen Ideals.

Ich sehe nur noch Eine originale Figur in den Kommenden: einen Spätling, aber nothwendig den letzten ... den Nihilisten Pyrrho, ... er hat den Instinkt gegen alles das, was inzwischen obenauf, die Sokratiker, Plato

Pyrrho greift über Protagoras zu Demokrit zurück ...

der Artisten-Optimismus Heraklits, — — —

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel