From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel
 
English Translation
Concordance between
The Will to Power
and KSA
Home

COPYRIGHT NOTICE: The content of this website, including text and images, is the property of The Nietzsche Channel. Reproduction in any form is strictly prohibited. © The Nietzsche Channel.

Herbst 1881 11 [101-200]

11 [101]

Ich sehe in dem, was eine Zeit als böse empfindet, das was ihrem Ideale widerspricht, also einen Atavismus des ehemaligen Guten: z.B. eine gröbere Art von Grausamkeit Mordlust als heute vertragen wird. Irgendwann war die Handlung jedes Verbrechers eine Tugend. Aber jetzt empfindet er selber sie mit dem Gewissen der Zeit—er legt sie böse aus. Alles oder das Meiste, was Menschen thun und denken, als böse auslegen, geschieht dann, wenn das Ideal dem menschlichen Wesen überhaupt nicht entspricht (Christenthum): so wird alles Erbsünde, während es eigentlich Erbtugend ist.

11 [102]

Unglückseliger! Du hast nun auch das Leben des Einsamen, Freien durchschaut: und wieder, wie ehedem, hast du dir den Weg dazu eben durch dein Erkennen verschlossen.

Ich will alles, was ich verneine, ordnen und das ganze Lied absingen: es giebt keine Vergeltung keine Weisheit keine Güte keine Zwecke keinen Willen: um zu handeln, mußt du an Irrthümer glauben; und du wirst noch nach diesen Irrthümern handeln, wenn du sie als Irrthümer durchschaut hast.

11 [103]

Was ist Moralität! Ein Mensch, ein Volk hat eine physiologische Veränderung erlitten, empfindet diese im Gemeingefühl und deutet sie sich in der Sprache seiner Affekte und nach dem Grade seiner Kenntnisse aus, ohne zu merken, daß der Sitz der Veränderung in der Physis ist. Wie als ob einer Hunger hat und meint, mit Begriffen und Gebräuchen, mit Lob und Tadel ihn zu beschwichtigen!

11 [104]

Höflichkeit ein verfeinertes Wohlwollen, weil es die Distanz anerkennt und angenehm fühlen läßt, über welche der grobe Intellekt sich ärgert oder welche er nicht sieht.

11 [105]

In den gelobtesten Handlungen und Charakteren sind Mord Diebstahl Grausamkeit Verstellung als nothwendige Elemente der Kraft. In den verworfensten Handlungen und Charakteren ist Liebe (Schätzung und Überschätzung von etwas, dessen Besitz man begehrt) und Wohlwollen (Schätzung von etwas, dessen Besitz man hat, das man sich erhalten will)

Liebe und Grausamkeit nicht Gegensätze: sie finden sich bei den besten und festesten Naturen immer bei einander. (Der christliche Gott—eine sehr weise und ohne moralische Vorurtheile ausgedachte Person!)

Die Menschen sehen die kleinen sublimirten Dosen nicht und leugnen sie: sie leugnen z. B. die Grausamkeit im Denker, die Liebe im Räuber. Oder sie haben gute Namen für alles, was an einem Wesen hervortritt, das ihren Geschmack befriedigt. Das “Kind” zeigt alle Qualitäten schamlos, wie die Pflanze ihre Geschlechtsorgane—beide wissen nichts von Lob und Tadel. Erziehung ist Umtaufen-lernen oder Anders-fühlen lernen.

11 [106]

“Nützlich-schädlich”! “Utilitarisch”! Diesem Gerede liegt das Vorurtheil zu Grunde als ob es ausgemacht sei, wohin sich das menschliche Wesen (oder auch Thier Pflanze) entwickeln solle. Als ob nicht abertausend Entwicklungen von jedem Punkte aus möglich wären! Als ob die Entscheidung, welche die beste höchste sei, nicht eine reine Sache des Geschmacks sei! (Ein Messen nach einem Ideale, welches nicht das einer anderen Zeit, eines anderen Menschen sein muß!)

11 [107]

Wie werthvoll ist es, daß der Mensch so viel Freude beim Anblick oder Empfinden von Schmerz erlernt hat! Auch durch den Umfang der Schadenfreude hat sich der Mensch hoch erhoben! (Freude auch am eigenen Schmerz—Motiv in vielen Moralen und Religionen.)

11 [108]

Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb!

11 [109]

Diese Toleranzprediger! Ein Paar Dogmen (“fundamentale Wahrheiten”) nehmen sie doch immer aus! Sie unterscheiden sich nur in der Meinung darüber von den Verfolgern, was für das Heil nothwendig sei.

Sich an die Vernunft halten wäre schön, wenn es eine Vernunft gäbe! Aber der Tolerante muß sich von seiner Vernunft, ihrer Schwäche abhängig machen! Dazu: es ist zuletzt nicht einmal diese, welche den Beweisen und Widerlegungen ihr Ohr schenkt und entscheidet. Es sind Neigungen und Abneigungen des Geschmacks. Die Verfolger sind gewiß nicht weniger logisch gewesen als die Freidenker.

11 [110]

Die Gleichgültigkeit! Ein Ding geht uns nichts an, darüber können wir denken, wie wir mögen, es giebt keinen Nutzen und Nachtheil für uns—das ist ein Fundament des wissenschaftlichen Geistes. Die Zahl dieser Dinge hat immer zugenommen; die Welt ist immer gleichgültiger geworden—so nahm die unparteiliche Erkenntniß zu, welche allmählich ein Geschmack wurde und endlich eine Leidenschaft wird.

11 [111]

Paracelsi mirabilia. Nacherzählt von F. N.— Von allem Wunderbaren—so erzählte mir Paracelsus—was ich je sah und hörte, ist Eins das Erstaunlichste, und ich muß nicht nur ein muthiges Herz wie ein Löwe, sondern auch die unschuldige Geduld eines Lammes dazu haben, es gerade so zu berichten, wie es sich zugetragen hat. Denn gesetzt, es wäre das Blendwerk eines mir übel wollenden Geistes gewesen, so gab es nie für mich eine ärgere Versuchung: und sprach das, was mir erschien, die Wahrheit —

11 [112]

Das Wesen jeder Handlung ist dem Menschen so unschmackhaft wie das Wesentliche jeder Nahrung: er würde lieber verhungern als es essen, so stark ist sein Ekel zumeist. Er hat Würzen nöthig, wir müssen zu allen Speisen verführt werden: und so auch zu allen Handlungen. Der Geschmack und sein Verhältniß zum Hunger, und dessen Verhältniß zum Bedürfniß des Organismus! Die moralischen Urtheile sind die Würzen. Der Geschmack wird aber hier wie dort als das angesehen, was über den Werth der Nahrung, Werth der Handlung entscheidet: der größte Irrthum!

Wie verändert sich der Geschmack? Wann wird er laß und unfrei? Wann ist er tyrannisch?— Und ebenso bei den Urtheilen über gut und böse; eine physiologische Thatsache ist der Grund jeder Veränderung im moralischen Geschmack; diese physiologische Veränderung ist aber nicht etwas, das nothwendig das dem Organismus Nützliche jeder Zeit forderte. Sondern die Geschichte des Geschmacks ist eine Geschichte für sich, und ebenso sehr sind Entartungen des Ganzen als Fortschritte die Folgen dieses Geschmacks. Gesunder Geschmack, kranker Geschmack—das sind falsche Unterscheidungen—es giebt unzählige Möglichkeiten der Entwicklung: was jedesmal zu der einen hinführt, ist gesund: aber es kann widersprechend einer anderen Entwicklung sein. Nur in Hinsicht auf ein Ideal, das erreicht werden soll, giebt es einen Sinn bei “gesund” und “krank.” Das Ideal aber ist immer höchst wechselnd, selbst beim Individuum (das des Kindes und des Mannes!)—und die Kenntniß, was nöthig ist, es zu erreichen, fehlt fast ganz.

Wir gehen unserem Geschmack nach und benennen es mit den erhabensten Worten, als Pflicht und Tugend und Opfer. Das Nützliche erkennen wir nicht, ja wir verachten es, wie wir das Innere des Leibes verachten, alles ist uns nur erträglich wenn es sich in eine glatte Haut versteckt.

11 [113]

Beim Geschmack ergab sich nebenbei, ob ein Mittel tödtete, ob es sättigte usw.—nicht wie es auf die Dauer genommen wirkte (auf Generationen hin). Auch wußte man nicht, wie ungleichmäßig der Körper unterhalten wurde und wie diese starken Schwankungen wirkten. Die Depression in Folge mangelhafter Ernährung oder Verdauung bestimmt das Ideal.

11 [114]

Die Weihung ist gegeben worden der Beutelust, der Gefräßigkeit, der Wollust, der Grausamkeit, der Verstellung, der Lüge, der Schwäche, der Tollheit, dem Veitstanz, der Betrunkenheit, der Empfindsamkeit, der Faulheit, der Unwissenheit, dem Nichtsbesitzen, der Geistesöde, der Schadenfreude, der Furcht—allen entgegengesetzten Eigenschaften, die irgendwo Geschmack und unüberwindliche Neigung erzeugt hat (jedesmal lästerte und ekelte man sich vor dem Gegensatze und nannte ihn schlecht oder niedrig)

11 [115]

Im Wohlwollen ist verfeinerte Besitzlust, verfeinerte Geschlechtslust, verfeinerte Ausgelassenheit des Sicheren usw.

Sobald die Verfeinerung da ist, wird die frühere Stufe nicht mehr als Stufe, sondern als Gegensatz gefühlt. Es ist leichter, Gegensätze zu denken, als Grade.



Ein noch so complicirter Trieb, wenn er einen Namen hat, gilt als Einheit und tyrannisirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen.

11 [116]

Seien wir nicht Sklaven von Lust und Schmerz, auch in der Wissenschaft! Schmerzlosigkeit, ja Lust beweist nicht Gesundheit—und Schmerz ist kein Beweis gegen Gesundheit (sondern nur ein starker Reiz).

11 [117]

Die moralischen Urtheile sind Epidemien, die ihre Zeit haben.

11 [118]

Es bildet sich ein Sklavenstand sehen wir zu, daß auch ein Adel sich bildet.

11 [119]

“Wissenschaft” angeblich auf der Liebe zur Wahrheit um ihrer selber willen! Angeblich beim reinen Schweigen des “Willens”! In Wahrheit sind alle unsere Triebe thätig, aber in einer besonderen gleichsam staatlichen Ordnung und Anpassung an einander, so daß ihr Resultat kein Phantasma wird: ein Trieb regt den anderen an, jeder phantasirt und will seine Art Irrthum durchsetzen: aber jeder dieser Irrthümer wird sofort wieder die Handhabe für einen anderen Trieb (z. B. Widerspruch Analyse usw.). Mit allen den vielen Phantasmen erräth man endlich fast nothwendig die Wirklichkeit und Wahrheit, man stellt so viele Bilder hin, daß endlich eins trifft, es ist ein Schießen aus vielen vielen Gewehren nach Einem Wilde; ein großes Würfelspielen, oft nicht in Einer Person, sondern in Vielen, in Generationen sich abspielend: wo dann Ein Gelehrter eben auch nur Ein Phantasma durchführt und wenn es von einem anderen zu Nichte gemacht ist, so hat sich die Zahl der Möglichkeiten (in der die Wahrheit stecken muß) verkleinert—ein Erfolg! Es ist eine Jagd. Je mehr Individuen einer in sich hat, um so mehr wird er allein Aussicht haben, eine Wahrheit zu finden—dann ist der Kampf in ihm: und alle Kräfte muß er dem einzelnen Phantasma zu Gebote stellen und später wieder einem anderen entgegengesetzten: große Schwungkraft, großen Widerwillen am Einerlei, vielen und plötzlichen Ekel muß er haben.— Jene Naturen, welche nur vergleichen, was Andere Einzelne schon phantasirt haben, bedürfen vor allem der Kälte: diese reden von der “Kälte der Wissenschaft,” es sind die Unproduktiven, eine wichtige Classe Menschen, da sie den Austausch zwischen den Producenten herstellen, eine Art Kaufleute, sie schätzen den Werth der Produkte ab. Auch diese Fähigkeit kann in Einem Menschen, der sonst produktiv ist, zuletzt noch da sein. Aber auch noch eine wichtige Fähigkeit: den Genuß an allen den verworfenen Phantasmen, das Schauspiel ihres Kampfes usw. zu haben—die Natur darin sehen.

11 [120]

Ich habe alle meine Galle nöthig zur Wissenschaft. —

11 [121]

Fortwährend arbeitet noch das Chaos in unserem Geiste: Begriffe Bilder Empfindungen werden zufällig neben einander gebracht, durch einander gewürfelt. Dabei ergeben sich Nachbarschaf ten, bei denen der Geist stutzt: er erinnert sich des Ähnlichen, er empfindet einen Geschmack dabei, er hält fest und arbeitet an den Beiden, je nachdem seine Kunst und sein Wissen ist.— Hier ist das letzte Stückchen Welt, wo etwas Neues combinirt wird, wenigstens soweit das menschliche Auge reicht. Und zuletzt wird es im Grunde eben auch eine neue allerfeinste chemische Combination sein, die wirklich im Werden der Welt noch nicht ihres Gleichen hat.

11 [122]

Die sämmtlichen thierisch-menschlichen Triebe haben sich bewährt, seit unendlicher Zeit, sie würden, wenn sie der Erhaltung der Gattung schädlich wären, untergegangen sein: deshalb können sie immer noch dem Individuum schädlich und peinlich sein—aber die Gattung’s-Zweckmäßigkeit ist das Princip der erhaltenden Kraft. Jene Triebe und Leidenschaften ausrotten ist erstens am Einzelnen unmöglich—er besteht aus ihnen, wie wahrscheinlich im Bau und [in] der Bewegung des Organismus dieselben Triebe arbeiten; und zweitens hieße es: Selbstmord der Gattung. Der Zwiespalt dieser Triebe ist ebenso nothwendig wie aller Kampf: denn das Leiden kommt für die Erhaltung der Gattung so wenig in Betracht, wie der Untergang zahlloser Individuen. Es sind ja nicht die vernünftigsten und direktesten Mittel der Erhaltung, die denkbar sind, aber die einzig wirklichen.— Im Einzelnen sind die Triebe sehr oft unzweckmäßig zusammengewürfelt, dann geht das Individuum daran zu Grunde; im Ganzen ist das Ergebniß die Erhaltung der Gattung.— Das Loben und Tadeln derselben, der zeitweilige Geschmack an diesen und jenen ist ein ziemlich oberflächliches Phänomen, abhängig vorn Bewußtsein über “nützlich” “schädlich”—welches sehr unwissenschaftlich ist!— Deshalb waren die verabscheuten Triebe doch thätig, unter anderem Namen oder unbeachtet. Es kommt nicht gar zu viel auf die Ethiken an, die geherrscht haben!

11 [123]

Woher diese Änderungen des Geschmacks im Moralischen? Geht es in die Tiefe? Wie der Appetitmangel bei der Ernährung, wie das Gefühl des Ekels und des Unangenehmen bei Fäulniß Rauch usw.? Ist es, daß für einen Zustand (eines Volkes Menschen) sein Geschmack im Verhältniß des Zweckmäßigen steht? Oder wenigstens des zweckmäßig Geglaubten?— Drückt er aus “dies bedarf ich jetzt, jenes bedarf ich nicht?”— Oder sind es wechselnde Gewöhnungen, wie der Geschmack an Speisen, hervorgerufen durch die vorhandene leichtere Befriedigung an dieser und jener, so daß Gewöhnung Reiz und Verlangen entsteht und am Entgegengesetzten und Fremden das Entgegengesetzte empfunden wird? Oder Beides?

11 [124]

Wenn ein Trieb intellektueller wird, so bekommt er einen neuen Namen, einen neuen Reiz und neue Schätzung. Er wird dem Triebe auf der älteren Stufe oft entgegengestellt, wie als sein Widerspruch (Grausamkeit z. B.)—Manche Triebe z. B. der Geschlechtstrieb sind großer Verfeinerungen durch den Intellekt fähig (Menschenliebe, Anbetung von Maria und Heiligen, künstlerische Schwärmerei; Plato meint, die Liebe zur Erkenntniß und Philosophie sei ein sublimirter Geschlechtstrieb) daneben bleibt seine alte direkte Wirkung stehen. [Vgl. Plato, Symposion, 207c-212a.]

11 [125]

Vom Leben erlöst zu sein und wieder todte Natur werden kann als Fest empfunden werden—vom Sterbenwollenden. Die Natur lieben! Das Todte wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutterschooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unvernunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten “zweckmäßigen” Welt, im Lebendigen.

11 [126]

Die stärksten Individuen werden die sein, welche den Gattungsgesetzen widerstreben und dabei nicht zu Grunde gehen, die Einzelnen. Aus ihnen bildet sich der neue Adel: aber zahllose Einzelne müssen bei seiner Entstehung zu Grunde gehen! Weil sie allein die erhaltende Gesetzlichkeit und die gewohnte Luft verlieren.

11 [127]

Merkwürdige Thätigkeit des Intellekts! Beim Geschlechtstrieb begehrt eine Person nach der anderen als dem Mittel, um den Samen los zu werden oder das Ei zu befruchten. Dies gerade weiß der Intellekt nicht: er fragt: warum dies Begehren? er erwägt was alles eine Person begehrenswerth macht und sagt Jetzt: es muß jene Person diese begehrenswerth machenden Eigenschaften alle haben!—so schließt er und glaubt nunmehr so fest daran, wie wir im Traum an das Traumbild glauben. Das Glauben an seine Schlüsse ist charakteristisch. Bei allen Affekten ist der Intellekt dermaaßen thierisch-primitiv, wie im Traume.— Diese thierischen Schlüsse für alle Affekte nachzuweisen.— Was ist denn die Skepsis? Wann und in welchem Zustande wird denn der Intellekt so fein, so mißtrauisch gegen seine Schlüsse? so wenig traumhaft?

11 [128]

Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen. Aber man kann sämmtliche uns bewußte Affekte in ihnen wiederfinden—zuletzt, wenn dies geschehen ist, drehen wir die Sache um und sagen: das was wirklich vor sich geht bei der Regsamkeit unserer menschlichen Affekte sind jene physiologischen Bewegungen, und die Affekte (Kämpfe usw.) sind nur intellektuelle Ausdeutungen, dort wo der Intellekt gar nichts weiß, aber doch alles zu wissen meint. Mit dem Wort “Ärger” “Liebe” “Haß” meint er das Warum? bezeichnet zu haben, den Grund der Bewegung; ebenso mit dem Worte “Wille” usw.— Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede. [Vgl. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Leipzig: Engelmann, 1881:1.]

11 [129]

Fähigkeit, intelligent zu hören!

11 [130]

Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellschafts- und Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen-Heerden): so sind sie als sociale Triebe und Leidenschaften stärker als als individuelle, auch jetzt noch. Man haßt mehr, plötzlicher, unschuldiger (Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen) als Patriot als als Individuum; man opfert schneller sich für die Familie als für sich: oder für eine Kirche, Partei. Ehre ist das stärkste Gefühl für Viele d. h. ihre Schätzung ihrer selber ordnet sich der Schätzung Anderer unter und begehrt von dort seine Sanktion.— Dieser nicht individuelle Egoismus ist das Ältere, Ursprünglichere; daher so viel Unterordnung, Pietät (wie bei den Chinesen) Gedankenlosigkeit über das eigene Wesen und Wohl, es liegt das Wohl der Gruppe uns mehr am Herzen. Daher die Leichtigkeit der Kriege: hier fällt der Mensch in sein älteres Wesen zurück.— Die Zelle ist zunächst mehr Glied als Individuum; das Individuum wird im Verlauf der Entwicklung immer complicirter, immer mehr Gliedergruppe, Gesellschaft. Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen.— Die Entwicklung der Heerden-Thiere und gesellschaftlichen Pflanzen ist eine ganz andere als die der einzeln lebenden.— Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, entwickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird entwickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung Raum Zeit ebenfalls. Die Selbstregulirung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Unwissenheiten der Praxis.— Der freieste Mensch hat das größte Machtgefühl über sich, das größte Wissen über sich, die größte Ordnung im nothwendigen Kampfe seiner Kräfte, die verhältnißmäßig größte Unabhängigkeit seiner einzelnen Kräfte, den verhältnißmäßig größten Kampf in sich, er ist das zwieträchtigste Wesen und das wechselreichste und das langlebendste und das überreich begehrende, sich nährende, das am meisten von sich ausscheidende und sich erneuernde. [Vgl. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Leipzig: Engelmann, 1881.]

11 [131]

Eine Bewegung tritt ein 1) durch einen direkten Reiz z.B. beim Frosch, dein man die Großhirnhemisphäre ausgeschnitten hat und dem das Automatische fehlt 2) durch Vorstellung der Bewegung, durch das Bild des Vorgangs in uns. Dies ist ein höchst oberflächliches Bild—was weiß der Mensch vom Kauen, wenn er das Kauen sich vorstellt!—aber unzählige Male ist dem durch Reize hervorgebrachten Vorgange das Bild des Vorgangs in Auge und Gehirn gefolgt und schließlich ist ein Band da, so fest, daß der umgedrehte Prozeß eintritt: sobald jenes Bild entsteht, entsteht die entsprechende Bewegung, das Bild dient als auslösen der Reiz. [Vgl. Michael Foster, Lehrbuch der Physiologie [Textbook of Physiology]. Mit 72 Holzschnitten. Von Michael Foster. Autorisierte dt. Ausg. von Nicolaus Kleinenberg. Mit einem Vorw. von Willy Kühne. Heidelberg: Winter, 1881:524.]

Damit ein Reiz wirklich auslösend wirkt, muß er stärker sein als der Gegenreiz, der immer auch da ist z. B. die Lust der Ruhe der Trägheit muß aufgehoben werden. So wirkt das Bild eines Vorgangs nicht immer als auslösender Reiz, weil ein wirklicher Gegenreiz da ist, der stärker ist. Wir reden da von “Wollen-und-nicht-können”—der Gegenreiz ist häufig nicht in unserem Bewußtsein, wir merken aber eine widerstrebende Kraft, die dem Reiz des Bildes und sei es noch so deutlich die Kraft entzieht. Es ist ein Kampf da, obschon wir nicht wissen, wer kämpft. Wille, der zur That führt, tritt ein, wenn der widerstrebende Reiz schwächer ist—wir merken immer etwas von einem Widerstande, und das giebt, falsch gedeutet, jenes Nebengefühl von Sieg beim Gelingen des Gewollten. In dieser falschen Deutung haben wir den Ursprung vom Glauben an den freien Willen. “Wir” sind es nicht, die ihre Vorstellung zum Siege bringen—sondern sie siegt, weil der Gegenreiz schwächer ist. Aber gar, daß der Mechanismus vor sich geht, hat gar nichts mit unserer Willkür zu thun—wir kennen ihn nicht einmal! Wie könnten wir ihn auch nur “wollen”! Was ist z. B. das Ausstrecken unseres Arm’s für unser Bewußtsein!!

11 [132]

Die Vernunft! Ohne Wissen ist sie etwas ganz Thörichtes, selbst bei den größten Philosophen. Wie phantasirt Spinoza über die Vernunft! Ein Grundirrthum ist der Glaube an die Eintracht und das Fehlen des Kampfes—dies wäre eben Tod! Wo Leben ist, ist eine genossenschaftliche Bildung, wo die Genossen um die Nahrung den Raum kämpfen, wo die schwächeren sich anfügen, kürzer leben, weniger Nachkommen haben: Verschiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern—die Gleichheit ist, ein großer Wahn. Unzählige Wesen gehen am Kampf zu Grunde,—einige seltne Fälle erhalten sich.— Ob die Vernunft bisher im Ganzen mehr erhalten als zerstört hat, mit ihrer Einbildung, alles zu wissen, den Körper zu kennen, zu “wollen”—? Die Centralisation ist gar keine so vollkommene—und die Einbildung der Vernunft, dies Centrum zu sein ist gewiß der größte Mangel dieser Vollkommenheit. [Vgl. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Leipzig: Engelmann, 1881:65;71.]

11 [133]

Wir können nur “wollen,” was wir gesehen haben—also seit der Ausbildung des Auges giebt es erst Vorstellungen im Gedächtniß, und diesen, wenn sie stark genug reizen, folgen dann Handlungen. Vorher sind afferente Reize nöthig, um die Handlungen hervorzubringen.

11 [134]

Wenn wir die Eigenschaften des niedersten belebten Wesens in unsere “Vernunft” übersetzen, so werden moralische Triebe daraus. Ein solches Wesen assimilirt sich das Nächste, verwandelt es in sein Eigenthum (Eigenthum ist zuerst Nahrung und Aufspeicherung von Nahrung), es sucht möglichst viel sich einzuverleiben, nicht nur den Verlust zu compensiren—es ist habsüchtig. So wächst es allein und endlich wird es so reproduktiv—es theilt sich in 2 Wesen. Dem unbegrenzten Aneignungstriebe folgt Wachsthum und Generation.— Dieser Trieb bringt es in die Ausnützung des Schwächeren, und in Wettstreit mit ähnlich Starken, er kämpft d. h. er haßt, fürchtet, verstellt sich. Schon das Assimiliren ist: etwas Fremdes sich gleich machen, tyrannisiren—Grausamkeit.

Es ordnet sich unter, es verwandelt sich in Funktion und verzichtet auf viele ursprüngliche Kräfte und Freiheiten fast ganz, und lebt so fort—Sklaverei ist nothwendig zur Bildung eines höheren Organismus, ebenso Kasten. Verlangen nach “Ehre” ist—seine Funktion anerkannt wissen wollen. Der Gehorsam ist Zwang Lebensbedingung, schließlich Lebensreiz.— Wer am meisten Kraft hat, andere zur Funktion zu erniedrigen, herrscht—die Unterworfenen aber haben wieder ihre Unterworfenen—ihre fortwährenden Kämpfe: deren Unterhaltung bis zu einem gewissen Maaße ist Bedingung des Lebens für das Ganze. Das Ganze wiederum sucht seinen Vortheil und findet Gegner.— Wenn alle sich mit “Vernunft” an ihren Posten stellen wollten und nicht fortwährend so viel Kraft und Feindseligkeit äußern wollten, als sie brauchen, um zu leben—so fehlte die treibende Kraft im Ganzen: die Funktionen ähnlichen Grades kämpfen, es muß fortwährend Acht gegeben werden, jede Laßheit wird ausgenützt, der Gegner wacht.— Ein Verband muß streben überreich zu werden (Übervölkerung), um einen neuen zu produziren (Colonien), um zu zerfallen in 2 selbständige Wesen. Mittel, dem Organismus Dauer, ohne das Ziel der Fortpflanzung, zu geben, richten ihn zu Grunde, sind unnatürlich—wie jetzt die klugen “Nationen” Europa’s.— Fortwährend scheidet jeder Körper aus, er secernirt das ihm nicht Brauchbare an den assimilirten Wesen: das was der Mensch verachtet, wovor er Ekel hat, was er böse nennt, sind die Excremente. Aber seine unwissende “Vernunft” bezeichnet ihm oft als böse, was ihm Noth macht, unbequem ist, den Anderen, den Feind, er verwechselt das Unbrauchbare und das Schwerzuerwerbende Schwerzubesiegende Schwer-Einzuverleibende. Wenn er “mittheilt” an Andere, “uneigennützig” ist—so ist dies vielleicht nur die Ausscheidung seiner unbrauchbaren faeces, die er aus sich wegschaffen muß, um nicht daran zu leiden. Er weiß, daß dieser Dünger dem fremden Felde nützt und macht sich eine Tugend aus seiner “Freigebigkeit.”— “Liebe” ist Empfindung für das Eigenthum oder das, was wir zum Eigenthum wünschen. [Vgl. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Leipzig: Engelmann, 1881.]

11 [135]

“Wirkung.” Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der Andere ihre Kräfte auslösen (z. B. der Religionsstifter) ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden: man schließt aus großen Kraft-Auslösungen auf große “Ursachen.” Falsch! Es können unbedeutende Reize und Menschen sein: aber die Kraft war angesammelt und lag zur Explosion bereit!— Blick auf die Weltgeschichte!

11 [136]

Wenn ein Forscher zu ungemeinen Resultaten kommt (wie Mayer), so ist dies noch kein Beweis für ungemeine Kraft: zufällig wurde sein Talent an dem Punkte thätig, wo die Entdeckung vorbereitet war. Hätte ein Zufall Mayer’n zum Philologen gemacht, er hätte mit dem gleichen Scharfsinn Namhaftes geleistet, aber nichts, deswegen er “zum Genie” ausposaunt würde.— Nicht die Resultate beweisen den großen Erkennenden: auch nicht einmal die Methode, indem über diese zu jeder Zeit verschiedene Lehren und Ansprüche existiren. Sondern die Menge, namentlich des Ungleichartigen, das Beherrschen großer Massen und das Unificiren, das mit neuem Auge Ansehn—des Alten usw. —

11 [137]

Moses Mendelsohn dieser Erzengel der Altklugheit meinte in Betreff der Zwecke, Spinoza werde doch nicht so närrisch gewesen sein, sie zu leugnen! —

11 [138]

Unser Gedächtniß beruht auf dem Gleichsehen und Gleichnehmen: also auf dem Ungenausehen; es ist ursprünglich von der größten Grobheit und sieht fast alles gleich an.— Daß unsere Vorstellungen als auslösende Reize wirken, kommt daher, daß wir viele Vorstellungen immer als das Gleiche vorstellen und empfinden, also auf dem groben Gedächtniß, welches gleich sieht, und der Phantasie, welche aus Faulheit gleich dichtet, was in Wahrheit verschieden ist.— Die Bewegung des Fußes als Vorstellung ist von der darauf folgenden Bewegung höchst verschieden!

11 [139]

Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von außen. Wohin die Kraft sich wendet? sicher nach dem Gewohnten: also wohin die Reize leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung sich bewegen. Die häufigeren Reize erziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung.

11 [140]

Oh die falschen Gegensätze! Krieg und Frieden! Vernunft und Leidenschaft! Subjekt Objekt! Dergleichen giebt es nicht!

11 [141]

Die Wiederkunft des Gleichen.
Entwurf.

1. Die Einverleibung der Grundirrthümer.
2. Die Einverleibung der Leidenschaften.
3. Die Einverleibung des Wissens und des verzichtenden Wissens. (Leidenschaft der Erkenntniss)
4. Der Unschuldige. Der Einzelne als Experiment. Die Erleichterung des Lebens, Erniedrigung, Abschwächung—Übergang.
5. Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens—wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben? Wir lehren die Lehre—es ist das stärkste Mittel, sie uns selber einzuverleiben. Unsre Art Seligkeit, als Lehrer der grössten Lehre.

Anfang August 1881 in Sils-Maria,
6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen
menschlichen Dingen! —

Zu 4) Philosophie der Gleichgültigkeit. Was früher am stärksten reizte, wirkt jetzt ganz anders, es wird nur noch als Spiel angesehn und gelten gelassen (die Leidenschaften und Arbeiten) als ein Leben im Unwahren principiell verworfen, als Form und Reiz aber ästhetisch genossen und gepflegt, wir stellen uns wie die Kinder zu dem, was früher den Ernst des Daseins ausmachte. Unser Streben des Ernstes ist aber alles als werdend zu verstehen, uns als Individuum zu verleugnen, möglichst aus vielen Augen in die Welt sehen, leben in Trieben und Beschäftigungen, um damit sich Augen zu machen, zeitweilig sich dem Leben überlassen, um hernach zeitweilig über ihm mit dem Auge zu ruhen: die Triebe unterhalten als Fundament alles Erkennens, aber wissen, wo sie Gegner des Erkennens werden: in summa abwarten, wie weit das Wissen und die Wahrheit sich einverleiben können—und in wiefern eine Umwandlung des Menschen eintritt, wenn er endlich nur noch lebt, um zu erkennen.— Dies ist Consequenz von der Leidenschaft der Erkenntniß: es giebt für ihre Existenz kein Mittel, als die Quellen und Mächte der Erkenntniß, die Irrthümer und Leidensch[aften] auch zu erhalten, aus deren Kampfe nimmt sie ihre erhaltende Kraft.— Wie wird dies Leben in Bezug auf seine Summe von Wohlbefinden sich ausnehmen? Ein Spiel der Kinder, auf welches das Auge des Weisen blickt, Gewalt haben über diesen und jenen Zustand—und den Tod, wenn so etwas nicht möglich ist.— Nun kommt aber die schwerste Erkenntniß und macht alle Arten Lebens furchtbar bedenkenreich: ein absoluter Überschuß von Lust muß nachzuweisen sein, sonst ist die Vernichtung unser selbst in Hinsicht auf die Menschheit als Mittel der Vernichtung der Menschheit zu wählen. Schon dies: wir haben die Vergangenheit, unsere und die aller Menschheit, auf die Wage zu setzen und auch zu überwiegen—nein! dieses Stück Menschheitsgeschichte wird und muß sich ewig wiederholen, das dürfen wir aus der Rechnung lassen, darauf haben wir keinen Einfluß: ob es gleich unser Mitgefühl beschwert und gegen das Leben überhaupt einnimmt. Um davon nicht umgeworfen zu werden, darf unser Mitleid nicht groß sein. Die Gleichgültigkeit muß tief in uns gewirkt haben und der Genuß im Anschauen auch. Auch das Elend der zukünftigen Menschheit soll uns nichts angehn. Aber ob wir noch leben wollen, ist die Frage: und wie!



Zu erwägen: die verschiedenen erhabenen Zustände, die ich hatte, als Grundlagen der verschiedenen Capitel und deren Materien—als Regulator des in jedem Capitel waltenden Ausdrucks, Vortrags, Pathos,—so eine Abbildung meines Ideals gewinnen, gleichsam durch Addition. Und dann höher hinauf!

11 [142]

Rede ich wie einer, dem es offenbart worden ist? So verachtet mich und hört mir nicht zu.— Seid ihr noch solche welche Götter nöthig haben? Hat eure Vernunft noch keinen Ekel dabei, so billig und schlecht sich speisen zu lassen?

11 [143]

“Aber wenn alles nothwendig ist, was kann ich über meine Handlungen verfügen?” Der Gedanke und Glaube ist ein Schwergewicht, welches neben allen anderen Gewichten auf dich drückt und mehr als sie. Du sagst, daß Nahrung Ort Luft Gesellschaft dich wandeln und bestimmen? Nun, deine Meinungen thun es noch mehr, denn diese bestimmen dich zu dieser Nahrung Ort Luft Gesellschaft.— Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: “ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?” ist das größte Schwergewicht.

11 [144]

Es wäre entsetzlich, wenn wir noch an die Sünde glaubten: sondern was wir auch thun werden, in unzähliger Wiederholung, es ist unschuldig. Wenn der Gedanke der ewigen Wiederkunft aller Dinge dich nicht überwältigt, so ist es keine Schuld: und es ist kein Verdienst, wenn er es thut.— Von allen unseren Vorfahren denken wir milder als sie selber dachten, wir trauern über ihre einverleibten Irrthümer, nicht über ihr Böses.

1. Die mächtigste Erkenntniß.
2. Die Meinungen und Irrthümer verwandeln den Menschen und geben ihm die Triebe—oder: die einverleibten Irrthümer.
3. Die Nothwendigkeit und die Unschuld.
4. Das Spiel des Lebens.

11 [145]

Die neue Erziehung hat zu verhindern, daß die Menschen Einer ausschließlichen Neigung verfallen und zum Organ werden, gegenüber der natürlichen Tendenz zur Arbeitstheilung. Es sollen die herrschenden überschauenden Wesen geschaffen werden, die dem Spiel des Lebens zuschauen und es mitspielen, bald hier, bald dort, ohne allzuheftig hineingerissen zu werden. Ihnen muß schließlich die Macht zufallen, ihnen wird sie anvertraut, weil sie keinen heftigen, ausschließlich auf Ein Ziel gerichteten Gebrauch davon machen. Zunächst giebt man ihnen das Geld in die Hand, zum Zweck der Erziehung (die ersten Erzieher müssen sich selber erziehen!), dann weil Geld in ihren Händen am sichersten ist (überall sonst wird es verbraucht für überheftige einseitige Tendenzen). So bildet sich eine neue regierende Kaste.

11 [146]

Der Widerwille gegen das Leben ist selten. Wir erhalten uns darin und sind selber am Ende und in schweren Lagen einverstanden damit, nicht aus Furcht vor Schlimmerem, nicht aus Hoffnung auf Besseres, nicht aus Gewohnheit (die Langeweile wäre) nicht wegen der gelegentlichen Lust—sondern wegen der Abwechslung und weil im Grunde nichts eine Wiederholung ist, aber an Erlebtes erinnert. Der Reiz des Neuen und doch an den alten Geschmack Anklingenden—wie eine Musik mit vielem Häßlichen.

11 [147]

Eine neue Lehre trifft zu allerletzt auf ihre besten Vertreter, auf die altgesicherten und sichernden Naturen, weil in ihnen die früheren Gedanken mit der Fruchtbarkeit eines Urwalds durcheinandergewachsen und undurchdringlich sind. Die Schwächeren Leereren Kränkeren Bedürftigeren sind die, welche die neue Infektion aufnehmen—die ersten Anhänger beweisen nichts gegen eine Lehre. Ich glaube, die ersten Christen waren das unausstehlichste Volk mit ihren “Tugenden.”

11 [148]

Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist. Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen—eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt [es] immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge—es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags.

11 [149]

Auch die chemischen Qualitäten fließen und ändern sich: mag der Zeitraum auch ungeheuer sein, daß die jetzige Formel einer Zusammensetzung durch den Erfolg widerlegt wird. Einstweilen sind die Formeln wahr: denn sie sind grob; was ist denn 9 Theile Sauerstoff zu 11 Theilen Wasserstoff! Dies 9:11 ist vollends unmöglich genau zu machen, es ist immer ein Fehler bei der Verwirklichung, folglich eine gewisse Spannweite, innerhalb deren das Experiment gelingt. Aber ebenfalls innerhalb derselben ist die ewige Veränderung, der ewige Fluß aller Dinge, in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein für alle Messungen ist, ja die ganze Entwicklung aller der Neuheiten während der Dauer des Menschengeschlechts vielleicht noch nicht groß genug ist, um die Formel zu widerlegen.— Es giebt so wenig Formen, wie Qualitäten.

11 [150]

Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden “todten” Zustand in einen anderen beharrenden “todten” Zustand. Ach, wir nennen das “Todte” das Bewegungslose! Als ob es etwas Bewegungsloses gäbe! Das Lebende ist kein Gegensatz des Todten, sondern ein Spezialfall.

11 [151]

Unsere Annahme, daß es Körper Flächen Linien Formen gebt, ist erst die Folge unserer Annahme, daß es Substanzen und Dinge, Beharrendes giebt. So gewiß unsere Begriffe Erdichtungen sind, so sind es auch die Gestalten der Mathematik. Dergleichen giebt es nicht—wir können eine Fläche, einen Kreis, eine Linie ebenso wenig verwirklichen als einen Begriff. Die ganze Unendlichkeit liegt immer als Realität und Hemmniß zwischen 2 Punkten.

11 [152]

Wenn nicht alle Möglichkeiten in der Ordnung und Relation der Kräfte bereits erschöpft wären, so wäre noch keine Unendlichkeit verflossen. Weil dies aber sein muß, so giebt es keine neue Möglichkeit mehr und alles muß schon dagewesen sein, unzählige Male.

11 [153]

Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, er strebt die allgemeine Starrheit zu beweisen, Dank seiner Abkunft aus Bildern. Alle Philosophen haben das Ziel gehabt, zum Beweis des ewigen Beharrens, weil der Intellekt darin seine eigene Form und Wirkung fühlt.

11 [154]

Nichts ist congruent in der Wirklichkeit, denn es giebt da keine Flächen.

11 [155]

Unsere Sinne zeigen uns nie ein Nebeneinander sondern stets ein Nacheinander. Der Raum und die menschlichen Gesetze des Raumes setzen die Realität von Bildern Formen Substanzen und deren Dauerhaftigkeit voraus, d.h. unser Raum gilt einer imaginären Welt. Vom Raum, der zum ewigen Fluß der Dinge gehört, wissen wir nichts.

11 [156]

Im Grunde ist die Wissenschaft darauf aus, festzustellen, wie der Mensch—nicht das Individuum—zu allen Dingen und zu sich selber empfindet, also die Idiosyncrasie Einzelner und Gruppen auszuscheiden und das beharrende Verhältniß festzustellen. Nicht die Wahrheit, sondern der Mensch wird erkannt und zwar innerhalb aller Zeiten, wo er existirt. D. h. ein Phantom wird construirt, fortwährend arbeiten alle daran, um das zu finden, worüber man übereinstimmen muß, weil es zum Wesen des Menschen gehört. Dabei lernte man, daß Unzähliges nicht wesenhaft war, wie man lange glaubte, und daß mit der Feststellung des Wesenhaften nichts für die Realität bewiesen sei als daß die Existenz des Menschen bis jetzt vom Glauben an diese “Realität” abgehangen hat (wie Körper Dauer der Substanz usw.) Die Wissenschaft setzt also den Prozeß nur fort, der das Wesen der Gattung constituirt hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden auszuscheiden und absterben zu lassen. Die erreichte Ähnlichkeit der Empfindung (über den Raum, oder das Zeitgefühl oder das Groß- und Kleingefühl) ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. Der “Verrückte” die Idiosyncrasie beweisen nicht die Unwahrheit einer Vorstellung, sondern deren Abnormität; es läßt sich mit ihr nicht für eine Masse leben. Es ist der Masseninstinkt, der auch in der Erkenntniß waltet: ihre Existenzbedingungen will sie immer besser erkennen, um immer länger zu leben. Uniformität der Empfindung, ehemals durch Gesellschaft Religion erstrebt, wird jetzt durch die Wissenschaft erstrebt: der Normalgeschmack an allen Dingen festgestellt, die Erkenntniß, ruhend auf dem Glauben an das Beharrende, steht im Dienste der gröberen Formen des Beharrens (Masse Volk Menschheit) und will die feineren Formen, den idiosyncrasischen Geschmack ausscheiden und tödten—sie arbeitet gegen die Individualisirung, den Geschmack, der nur für Einen Lebensbedingung ist.— Die Gattung ist der gröbere Irrthum, das Individuum der feinere Irrthum, es kommt später. Es kämpft für seine Existenz, für seinen neuen Geschmack, für seine relativ einzige Stellung zu allen Dingen—es hält diese für besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es will herrschen. Aber da entdeckt es, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse. So lernt es: wie alle genießende Erkenntniß auf dem groben Irrthum der Gattung, den feineren Irrthümern des Individuums, und dem feinsten Irrthum des schöpferischen Augenblicks beruht.

11 [157]

Hüten wir uns, diesem Kreislaufe irgend ein Streben, ein Ziel beizulegen: oder es nach unseren Bedürfnissen abzuschätzen als langweilig, dumm usw. Gewiß kommt in ihm der höchste Grad von Unvernunft ebenso wohl vor wie das Gegentheil: aber es ist nicht darnach zu messen, Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit sind keine Prädikate für das All.— Hüten wir uns, das Gesetz dieses Kreises als geworden zu denken, nach der falschen Analogie der Kreisbewegung innerhalb des Ringes: es gab nicht erst ein Chaos und nachher allmählich eine harmonischere und endlich eine feste kreisförmige Bewegung aller Kräfte: vielmehr alles ist ewig, ungeworden: wenn es ein Chaos der Kräfte gab, So war auch das Chaos ewig und kehrte in jedem Ringe wieder. Der Kreislauf ist nichts Gewordenes, er ist das Urgesetz, so wie die Kraftmenge Urgesetz ist, ohne Ausnahme und Übertretung. Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge; also nicht durch falsche Analogie die werdenden und vergehenden Kreisläufe z. B. der Gestirne oder Ebbe und Fluth Tag und Nacht Jahreszeiten zur Charakristik des, ewigen Kreislaufs zu verwenden.

11 [158]

Hüten wir uns, eine solche Lehre wie eine plötzliche Religion zu lehren! Sie muß langsam einsickern, ganze Geschlechter müssen an ihr bauen und fruchtbar werden,—damit sie ein großer Baum werde, der alle noch kommende Menschheit überschatte. Was sind die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christenthum erhalten hat! Für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende—lange lange muß er klein und ohnmächtig sein!

11 [159]

Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten.

11 [160]

Diese Lehre ist milde gegen die, welche nicht an sie glauben, sie hat keine Höllen und Drohungen. Wer nicht glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Bewußtsein.

11 [161]

Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen!— Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran.

11 [162]

Damit es irgend einen Grad von Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums—entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte auf dieser Grundlage etwas erkannt werden—ja zuletzt kann der Grundirrthum eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze denken lassen)—doch kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der Widerspruch des Lebens und seiner letzten Entscheidungen; sein Trieb zur Erkenntniß hat den Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung.

Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres!

Wir müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des Wahnes—unser Cultus.

Um des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, unseren Geschmack an ihm mehren, ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß.

So entdecken wir auch hier eine Nacht und einen Tag als Lebensbedingung für uns: Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth. Herrscht eines absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und zugleich die Fähigkeit.

11 [163]

Der politische Wahn, über den ich eben so lächle, wie die Zeitgenossen über den religiösen Wahn früherer Zeiten, ist vor allem Verweltlichung, Glaube an die Welt und Aus-dem-Sinn-Schlagen von “Jenseits” und “Hinterwelt.” Sein Ziel ist das Wohlbefinden des flüchtigen Individuums: weshalb der Socialismus seine Frucht ist, d. h. die flüchtigen Einzelnen wollen ihr Glück sich erobern, durch Vergesellschaftung, sie haben keinen Grund zu warten, wie die Menschen mit ewigen Seelen und ewigem Werden und zukünftigem Besserwerden. Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe—du wirst es jedenfalls! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl giebt und kein Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!

11 [164]

Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urtheil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Es hat sein Wachsthum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Thätigkeits-Sinn. Zwischenstufe: der Halbinstinkt, der nur auf Reize reagirt und sonst todt ist.

11 [165]

Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies der Hauptgedanke! Erst am Ende wird dann die Lehre von der Wiederholung alles Dagewesenen vorgetragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen, welches unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann!

11 [166]

Das Ähnliche ist kein Grad des Gleichen: sondern etwas vom Gleichen völlig Verschiedenes.

11 [167]

Wie kann man dem Nächsten Kleinen Flüchtigen Bedeutung geben? A) Indem man es als Wurzel der Gewohnheiten begreift B) als ewig und ebenfalls Ewiges bedingend.

11 [168]

Wer auf den Geist säet, pflanzt Bäume, die sehr spät groß werden. Das was sich vom Vater auf den Sohn vererbt, sind die geübtesten Gewohnheiten (nicht die geschätztesten!) Der Sohn verräth den Vater. Der Fleiß eines Gelehrten ist entsprechend der Thätigkeit seines Vaters: z. B. wenn dieser immer am Comtoir ist oder wenn er nur wie ein Landgeistlicher “arbeitet.” Die Griechen der höheren Stände wurden so individuell produktiv, weil sie keinen gedankenlosen Fleiß vererbt bekamen.

11 [169]

Gegen alle wilden Energien wehren wir uns so lange, als wir sie nicht zu benutzen wissen (als Kraft) und so lange nennen wir sie böse. Nachher aber nicht mehr! Frage: wie macht man Verbrechen nützlich? Wie macht man seine eigene Wildheit nützlich?

11 [170]

Ich will gegen die Kunst der Kunstwerke eine höhere Kunst lehren: die der Erfindung von Festen.

11 [171]

Ich erkenne etwas Wahres nur als Gegensatz zu einem wirklich lebendigen Unwahren: so kommt das Wahre ganz kraftlos, als Begriff, zur Welt und muß sich durch Verschmelzung mit lebendigen Irrthümern erst Kräfte geben! Und darum muß man die Irrthümer leben lassen und ihnen ein großes Reich zugestehen.— Ebenso: um individuell leben zu können, muß erst die Gesellschaft hoch gefördert sein und fort und fort gefördert werden—der Gegensatz: im Bunde mit ihr bekommt das Individuelle zuerst einige Kraft.— Endlich erscheint ein Punkt, wo wir über das Individuelle und Idiosynkratische hinauswollen: aber nur im Bunde mit dem Individuum, dem Gegensatze, können wir diesem Streben Kräfte verleihen.

11 [172]

Wie geben wir dem inneren Leben Schwere, ohne es böse und fanatisch gegen Anders-denkende zu machen? Der religiöse Glaube nimmt ab und der Mensch lernt sich als flüchtig begreifen und als unwesentlich, er wird endlich dabei schwach; er übt sich nicht so im Erstreben Ertragen, er will den gegenwärtigen Genuß, er macht sich’s leicht—und viel Geist verwendet er vielleicht dabei.

11 [173]

Wie unkräftig war bisher alle physiologische Erkenntiß! während die alten physiologischen Irrthümer spontane Kraft bekommen haben! Lange lange Zeit können wir die neuen Erkenntnisse nur als Reize verwenden—um die spontanen Kräfte zu entladen.

11 [174]

Wie das Böse abgenommen hat! Ehemals setzte man die Absicht zu schaden in jedem Naturereigniß voraus!

11 [175]

Wie gemein hat sich das Christenthum gegen das Alterthum benommen, indem es dasselbe ganz durchteufelte! Gipfel aller verleumderischen Bosheit!

11 [176]

Sklaven-Arbeit! Freien-Arbeit! Erstere Arbeit ist alle Arbeit, die nicht um unserer selber willen gethan wird und die keine Befriedigung in sich hat. Es ist viel Geist noch zu finden, damit ein jeder seine Arbeiten sich befriedigend gestalte.

11 [177]

Das Zeitalter der Experimente! Die Behauptungen Darwin’s sind zu prüfen—durch Versuche! Ebenso die Entstehung höherer Organismen aus den niedersten. Es müssen Versuche auf 1000de von Jahren hin geleitet werden! Affen zu Menschen erziehen!

11 [178]

Es ist ein falscher Gesichtspunkt: um die Gattung zu erhalten, werden unzählige Exemplare geopfert. Ein solches “Um” giebt es nicht! Ebenso giebt es keine Gattung, sondern lauter verschiedene Einzelwesen! Also giebt es auch keine Opferung, Verschwendung! Also auch keine Unvernunft dabei!— Die Natur will nicht die “Gattung erhalten”! Thatsächlich erhalten sich viele ähnliche Wesen, mit ähnlichen Existenzbedingungen leichter als abnorme Wesen.

11 [179]

Während in sehr vielen Fällen das erste Kind einer Ehe einen genügenden Grund abgiebt, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen: wird doch die Ehe dadurch nicht gelöst, sondern trotz des voraussichtlichen Nachtheils neuer Kinder (zum Schaden aller Späteren!) festgehalten! Wie kurzsichtig! Aber der Staat will und wollte keine bessere Qualität, sondern Masse! Deshalb liegt ihm an der Züchtung der Menschen nichts!— Einzelne ausgezeichnete Männer sollten bei mehreren Frauen Gelegenheit haben, sich fortzupflanzen; und einzelne Frauen, mit besonders günstigen Bedingungen, sollten auch nicht an den Zufall Eines Mannes gebunden sein. Die Ehe wichtiger zu nehmen! Weil der Staat nicht mehr nöthig ist.

11 [180]

Man redet dem Luxus jetzt das Wort als dem stärksten Reizmittel auf Arme, Arbeit-Geplagte und Verheirathete: [um] seinetwillen streben sie nach Reichthum: man befeindet die Zufriedenheit und die idyllische Philosophie als Schädiger des National-Reichthums und der -Arbeitskraft. Möglichst viel Reichthum, möglichst viel Neid und Unlust, möglichst viel Concurrenz! In reichen Staaten seien die Künste am besten gefördert worden, durch Luxusmenschen, die Kunst ein Mittel, den Neid der Niederen zu erregen, als ein Stück Luxus.— Andererseits soll ihr Emporwachsen im Luxus eine Apologie des Luxus und der Absicht auf Unzufriedenheit sein: Künste vorübergehend die Unlust solcher Zustände beschwichtigend und betäubend, jedenfalls verherrlichend.

11 [181]

Ein M[ensch] sinkt in meiner Achtung 1) wenn er 200-300 Thaler jährlich hat und trotzdem Kaufmann Beamter oder Soldat noch wird, bei der Wahl eines Lebensberufs 2) wenn er soviel verdient und trotzdem ein noch zeitraubenderes Amt sucht (auch als Gelehrter). Wie! Sind das intellektuelle Menschen! Sich verheirathen wollen und den Sinn des Lebens darüber verlieren!

11 [182]

Ein starker freier M[ensch] empfindet gegen alles Andere die Eigenschaften des Organismus

1) Selbstregulirung: in der Form von Furcht vor allen fremden Eingriffen, im Haß gegen den Feind, im Maaßhalten usw.
2) überreichlicher Ersatz: in der Form von Habsucht Aneignungslust Machtgelüst
3) Assimilation an sich: in der Form von Loben Tadeln Abhängigmachen Anderer von sich, dazu Verstellung List, Lernen, Gewöhnung, Befehlen Einverleiben von Urtheilen und Erfahrungen
4) Sekretion und Excretion: in der Form von Ekel Verachtung der Eigenschaften an sich, die ihm nicht mehr nützen; das Überschüssige mittheilen Wohlwollen
5) metabolische Kraft: zeitweilig verehren bewundern sich abhängig machen einordnen, auf Ausübung der anderen organischen Eigenschaften fast verzichten, sich zum “Organe” umbilden, dienen-können
6) Regeneration: in der Form von Geschlechtstrieb, Lehrtrieb usw.

Nun würde man irren, diese organischen Eigenschaften zuerst bei dem Menschen vorauszusetzen: vielmehr bekommt er diese alle zuletzt, als freigewordener Mensch. Er hat dagegen begonnen als Theil eines Ganzen, welches seine organischen Eigenschaften hatte und den Einzelnen zu seinem Organe machte—so daß durch unsäglich lange Gewöhnung die Menschen zunächst die Affekte der Gesellschaft gegen andere Gesellschaften und Einzelne und alles Lebende und Todte empfinden, und nicht als Individuen! Z. B. er fürchtet und haßt stärker und am stärksten als Mitglied eines Geschlechtes oder Staates, nicht seinen persönlichen Feind, sondern den öffentlichen; ja er empfindet den persönlichen Feind wesentlich als einen öffentlichen (Blutrache) Er zieht in den Krieg, um seinen Staat und Häuptling zu bereichern und zum Überersatz zu verhelfen, mit jeder persönlichen Gefahr der Verkümmerung Entbehrung Verstümmelung. Er assimilirt als Mitglied seiner Gesellschaft Fremdes an sich, lernt für deren Wohl; er verachtet was von Eigenschaften nicht mehr zum Bestande der Gesellschaft nützt, er stößt die höchsten Individuen von sich, wenn sie diesem Nutzen widersprechen. Er verwandelt sich zum Organ im Dienste seiner Gesellschaft durchaus und macht von allen Eigenschaften nur den dadurch eingeschränkten Gebrauch: richtiger: er hat jene anderen Eigenschaften noch nicht und erwirbt sie erst als Organ des Gemeinwesens: als Organ bekommt er die ersten Regungen der sämmtlichen Eigenschaften des Organischen. Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum vor, sie bildet sich nicht aus Einzelwesen, nicht aus Verträgen solcher! Sondern höchstens als Kernpunkt ist ein Individuum nöthig (ein Häuptling) und dieser auch nur im Verhältniß zu der tieferen oder höheren Stufe der Anderen “frei.” Also: der Staat unterdrückt ursprünglich nicht etwa die Individuen: diese existiren noch gar nicht! Er macht den Menschen überhaupt die Existenz möglich, als Heerdenthieren. Unsere Triebe Affekte werden uns da erst gelehrt: sie sind nichts Ursprüngliches! Es giebt keinen “Naturzustand” für sie! Als Theile eines Ganzen nehmen wir an dessen Existenzbedingungen und Funktionen Antheil und einverleiben uns die dabei gemachten Erfahrungen und Urtheile. Diese gerathen später mit einander in Kampf und Relation, wenn das Band der Gesellschaft zerfällt: er muß in sich die Nachwirkungen des gesellschaftlichen Organismus ausleiden, er muß das Unzweckmäßige von Existenzbedingungen Urtheilen und Erfahrungen, die für ein Ganzes paßten, abbüßen und endlich kommt er dahin, seine Existenzmöglichkeit als Individuum durch Neuordnung und Assimilation Excretion der Triebe in sich zu schaffen. Meistens gehen diese Versuchs-Individuen zu Grunde. Die Zeiten, wo sie entstehen, sind die der Entsittlichung, der sogenannten Corruption d. h. alle Triebe wollen sich jetzt persönlich versuchen und nicht bis dahin jenem persönlichen Nutzen angepaßt zerstören sie das Individuum durch Übermaaß. Oder sie zerfleischen es, in ihrem Kampfe mit einander. Die Ethiker treten dann auf und suchen dem Menschen zu zeigen, wie er doch leben könne, ohne so an sich zu leiden—meistens, indem sie ihm die alte bedingte Lebensweise unter dem Joche der Gesellschaft anempfehlen, nur so daß an Stelle der Gesellschaft ein Begriff tritt—es sind Reaktionäre. Aber sie erhalten Viele, wenn gleich durch Zurückführung in die Gebundenheit. Ihre Behauptung ist, es gebe ein ewiges Sittengesetz; sie wollen das individuelle Gesetz nicht anerkennen und nennen das Streben dahin unsittlich und zerstörerisch.— Unvermeidlich überwiegen bei einem, der frei werden will, die Funktionen an Kraft, mit denen er (oder seine Vorfahren) der Gesellschaft gedient haben: diese hervorragenden Funktionen lenken und fördern oder beschränken die übrigen—aber alle hat er nöthig, um als Organism selber zu leben, es sind Lebensbedingungen!

Aber wir sind lange Mißgestalten, und dem entspricht das viel größere Mißbehagen der frei werdenden Individuen—im Vergleich zur älteren abhängigen Stufe und das massenhafte Zugrundegehen.

11 [183]

Haupttendenzen: 1) die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise pflanzen! Was auch jeder Einzelne dafür erdenkt, das wird der Andere gelten lassen, und eine neue große Toleranz dafür sich aneignen müssen: so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!

2) Eins sein in der Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdächtigen suchen: gegen die Finsterlinge und Unzufriedenen und Murrköpfe. Diesen die Fortpflanzung verwehren! Aber unsere Feindschaft muß selber ein Mittel zu unserer Freude werden! Also lachen, spotten, ohne Verbitterung vernichten! Dies ist unser Todkampf.

Diess Leben—dein ewiges Leben!

11 [184]

Dem wirklichen Verlaufe der Dinge muß auch eine wirkliche Zeit entsprechen, ganz abgesehn von dem Gefühle langer kurzer Zeiträume, wie sie erkennende Wesen haben. Wahrscheinlich ist die wirkliche Zeit unsäglich viel langsamer als wir Menschen die Zeit empfinden: wir nehmen so wenig wahr, obschon auch für uns ein Tag sehr lang erscheint, gegen denselben Tag im Gefühl eines Insekts. Aber unser Blutumlauf könnte in Wahrheit die Dauer eines Erd- und Sonnenlaufs haben.— Sodann empfinden wir uns wahrscheinlich als viel zu groß und haben darin unsere Überschätzung, daß wir ein zu großes Maaß in den Raum hineinempfinden. Es ist möglich, daß alles viel kleiner ist. Also die wirkliche Welt kleiner, aber viel langsamer bewegt, aber unendlich reicher an Bewegungen als wir ahnen.

11 [185]

Der Egoism ist etwas Spätes und immer noch Seltenes: die Heerden-Gefühle sind mächtiger und älter! Z. B. noch immer schätzt sich der Mensch so hoch als die Anderen ihn schätzen (Eitelkeit) Noch immer will er gleiche Rechte mit den Anderen und hat ein Wohlgefühl bei dem Gedanken daran, auch wenn er die Menschen gleich behandelt (was doch der Gerechtigkeit des suum cuique sehr zuwiderläuft!) Er faßt sich gar nicht als etwas Neues in’s Auge, sondern strebt sich die Meinungen der Herrschenden anzueignen, ebenfalls erzieht er seine Kinder dazu. Es ist die Vorstufe des Egoismus, kein Gegensatz dazu: der Mensch ist wirklich noch nicht mehr individuum und ego; als Funktion des Ganzen fühlt er seine Existenz noch am höchsten und am meisten gerechtfertigt. Deshalb läßt er über sich verfügen, durch Eltern Lehrer Kasten Fürsten, um zu einer Art Selbstachtung zu kommen—selbst in der Liebe ist er viel mehr der Bestimmte als der Bestimmende. Gehorsam Pflicht erscheint ihm als “die Moral” d. h. er verherrlicht seine Heerdentriebe, indem er sie als schwere Tugenden hinstellt.— Auch im erwachten Individuum ist der Urbestand der Heerdengefühle noch übermächtig und mit dem guten Gewissen verknüpft. Der Christ mit seinem extra ecclesiam nulla salus ist grausam gegen die Gegner der christlichen Heerde; der Staatsbürger verhängt schreckliche Strafen über den Verbrecher, nicht als ego, sondern aus dem alten Instinkte—die That der Grausamkeit des Mordes der Sklaverei (Gefängniß) beleidigt ihn nicht, sobald ersie vom Heerdeninstinkt aus ansieht.— Alle freieren M[enschen] des Mittelalters glaubten, vor allem sei das Heerdengefühl zu erhalten, das seltene Individuum müsse in dieser Hinsicht Verstellung üben, ohne Hirten und den Glauben an allgemeine Gesetze gehe alles drunter und darüber. Wir glauben das nicht mehr—weil wir gesehen haben, daß der Hang zur Heerde so groß ist, daß er immer wieder durchbricht, gegen alle Freiheiten des Gedankens! Es giebt eben noch sehr selten ein ego! Das Verlangen nach Staat, socialen Gründungen, Kirchen usw. ist nicht schwächer geworden. v[ide] die Kriege! Und die “Nationen”!

11 [186]

Die griechischen Gesetzgeber haben den agon so gefördert, um den Wettkampfgedanken vom Staate abzulenken und die politische Ruhe zu gewinnen. (jetzt denkt man an die Concurrenz des Handels) Das Nachdenken über den Staat sollte durch agonale Erhitzung abgelenkt werden—ja turnen und dichten sollte man—dies hatte den Nebenerfolg, die Bürger stark schön und fein zu machen.— Ebenso förderten sie die Knabenliebe, einmal um der Übervölkerung vorzubeugen (welche unruhige verarmte Kreise erzeugt, auch innerhalb des Adels) sodann als Erziehungsmittel zum agon: die Jungen und die Älteren sollten bei einander bleiben, sich nicht trennen und das Interesse der Jungen festhalten—sonst hätte sich der Ehrgeiz der abgesonderten Älteren auf den Staat geworfen, aber mit Knaben konnte man nicht vom Staate sprechen. So benutzte vielleicht Richelieu die Galanterie der Männer, um die ehrgeizigen Triebe abzulenken und andere Gespräche als über den Staat in Curs zu bringen.

11 [187]

Woran gieng die alexandrinische Cultur zu Grunde? Sie vermochte mit all ihren nützlichen Entdeckungen und der Lust an der Erkenntniß dieser Welt doch dieser Welt, diesem Leben nicht die letzte Wichtigkeit zu geben, das jenseits blieb wichtiger! Hierin umzulehren jetzt immer noch die Hauptsache—vielleicht wenn die Metaphysik eben dies Leben mit dem schwersten Accent trifft—nach meiner Lehre!

11 [188]

Im Allgemeinen ist die Richtung des Socialism wie die des Nationalismus eine Reaktion, gegen das Individuellwerden. Man hat seine Noth mit dem ego, dem halbreifen tollen ego: man will es wieder unter die Glocke stellen.

11 [189]

Die Amöben-Einheit des Individuums kommt zuletzt! Und die Philosophen giengen von ihr aus, als ob sie bei Jedem da sei!— Die Sittlichkeit ist der Hauptgegenbeweis: überall wo das Individuum auftritt, tritt die Sittenverderbniß auf d. h. der individuelle Maaßstab von Lust und Unlust wird zum ersten Male gehandhabt, und da zeigt sich, wie innerhalb des Einzelnen die Triebe noch gar nicht gelernt haben sich anzupassen, die Einheit ist noch nicht da, oder in Form der gröbsten Gewaltherrschaft Eines Triebes über die anderen—so daß das Ganze gewöhnlich zu Grunde geht!— Damit beginnt die Zeit der freien Menschen—zahllose gehen zu Grunde.— Im Anblick davon rufen die “Weisen” die alte Moral an und suchen sie als angenehm und nützlich für den Einzelnen zu beweisen.

11 [190]

Ein labiles Gleichgewicht kommt in der Natur so wenig vor, wie zwei congruente Dreiecke. Folglich auch kein Stillstand der Kraft überhaupt. Wäre der Stillstand möglich, so wäre er eingetreten!

11 [191]

Die Heerden-Menschen und die selbsteignen Menschen: letztere zuerst als Hirten. —

11 [192]

Schadenwollen als Tendenz ist jetzt im Kampfe der Parteien (der politischen und auch der wissenschaftlichen) seines Tadels entkleidet, ebenso in der Concurrenz der Kaufleute, der Staaten: man untersagt sich gewisse Mittel, aber nicht die Tendenz! Kritik gegen alles geübt ist eine letzte Machtäußerung der Einflußlosen—eine Fortsetzung der Hexerei

Nützenwollen durch Gebete und Erhöhung der Phantasie galt ehemals für eine Hauptbeschäftigung des Menschen, einen Gott vergewaltigen und bestimmen zum Guten—es ist das Seitenstück zur Magie: einen Teufel vergewaltigen und zwingen zum Bösen: was wohl auch eine Hauptbeschäftigung war. Das Schwelgen im Wollen und im Bilde der erreichten Absicht und der Glaube, daß dies das Mittel zur Erreichung der Absicht sei: darin waren Alle einmüthig. Man glaubte an einen geheimen Weg außer dem der That und der Mechanik, um zum gleichen Ziel zu kommen.

11 [193]
[Vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, Ed. 2, Th. 2. Descartes' Schule. Geulinx, Malebranche, Baruch Spinoza. Heidelberg: Bassermann, 1865.]

Spinoza: wir werden nur durch Begierden und Affekte in unserem Handeln bestimmt. Die Erkenntniß muß Affekt sein, um Motiv zu sein.— Ich sage: sie muß Leidenschaft sein, um Motiv zu sein.

ex virtute absolute agere = ex ductu rationis agere, vivere, suum Esse conservare. “von Grund aus nicht anderes suchen als den eigenen Nutzen” “Niemand strebt um eines anderen Wesens willen das eigene Sein zu erhalten.” “Das Streben nach Selbsterhaltung ist die Voraussetzung aller Tugend.”

“Die Menschen sind sich gegenseitig am nützlichsten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen sucht.” “Kein einzelnes Wesen in der Welt ist dem Menschen so nützlich, als der Mensch der nach der Richtschnur seiner Vernunft ex ductu rationis lebt.”

Gut ist alles, was der Erkenntniß wahrhaft dient; schlecht dagegen alles, was sie hindert.”

Unsere Vernunft ist unsere größte Macht. Sie ist unter allen Gütern das Einzige, das alle gleichmäßig erfreut, das keiner dern anderen beneidet, das jeder dem Anderen wünscht und um so mehr wünscht als er selbst davon hat.— Einig sind die Menschen nur in der Vernunft. Sie können nicht einiger sein als wenn sie vernunftgemäß leben. Sie können nicht mächtiger sein als wenn sie vollkommen übereinstimmen.— Wir leben im Zustande der Übereinstimmung mit Anderen und mit uns selbst jedenfalls mächtiger als in dem des Zwiespalts. Die Leidenschaften entzweien; sie bringen uns in Widerstreit mit den anderen Menschen und mit uns selbst, sie machen uns feindselig nach außen und schwankend nach innen.— ego: das Alles ist Vorurtheil. Es giebt gar keine Vernunft der Art, und ohne Kampf und Leidenschaft wird alles schwach, Mensch und Gesellschaft.

(“Die Begierde ist das Wesen des Menschen selbst, nämlich das Streben, kraft dessen der Mensch in seinem Sein beharren will.”

“Jeder ist in dem Grade ohnmächtig als er seinen Nutzen d. h. seine Selbsterhaltung außer Acht läßt.”

“Das Streben nach Selbsterhaltung ist die erste und einzige Grundlage der Tugend.”

Es giebt im Geiste keinen freien Willen, sondern der Geist wird, dies oder jenes zu wollen, von einer Ursache bestimmt, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist, und diese wiederum von einer anderen, und so fort bis ins Endlose.

Der Wille ist das Vermögen zu bejahen und zu verneinen: nichts Anderes.

Dagegen ich: Voregoismus, Heerdentrieb sind älter als das “Sich-selbst-erhalten-wollen.” Erst wird der Mensch als Funktion entwickelt: daraus löst sich später wieder das Individuum, indem es als Funktion unzählige Bedingungen des Ganzen, des Organismus, kennen gelernt und allmählich sich, einverleibt hat.

11 [194]
[Vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, Ed. 2, Th. 2. Descartes' Schule. Geulinx, Malebranche, Baruch Spinoza. Heidelberg: Bassermann, 1865.]

Die Jesuiten hielten es mit dem Empirismus, Anhänger des Gassendi, Gegner des Descartes (den sie mit den Gründen des Sensualismus angreifen): wie Pater Bourdin. Also sie sind für Thomas Aristoteles Gassendi—gegen Augustin Plato Descartes Idealismus. (Congregation der Väter des Oratorium Jesu und ebenso Port-Royal) Pascal

Arnold Geulinx (in Niederlanden geboren 1625): impossibile est ut is faciat, qui nescit quomodo fiat. Quod nescio, quomodo fiat, ich non facio.— Qua fronte dicam, ich me facere quod quomodo fiat nescio?— Mein Wille soll sich nicht weiter erstrecken als mein Vermögen. Ubi nihil vales, ibi nihil velis.

Virtus est amor rationis.— Amor rationis hoc agit in amante, ut se ipse deserat, a se penitus recedat. Humilitas est incuria sui. Partes humilitatis sunt duae: inspectio sui et despectio sui.

Malebranche: “Betrachte man die Sinne als falsche Zeugen in Betreff der Wahrheit, aber als treue Rathgeber in Rücksicht auf die Erhaltung und den Nutzen des Lebens!” Wir irren, sobald unser Denken in die Abhängigkeit von den Sinnen geräth, wenn der Geist vom Körper sich abhängig macht. Sünde ist es, welche diese Abhängigkeit verschuldet. Das Erkennenwollen durch die Sinne, die Quelle des Irrthums—ist Sünde. Irrthum durch die Sünde verursacht! Der Irrthum wird durch Abkehrung von Gott möglich, durch Unterwerfung unter das Joch des Körpers.

Spinoza oder Teleologie als Asylum ignorantiae.

11 [195]

Mittag und Ewigkeit.

Fingerzeige zu einem neuen Leben.

Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta. [Vgl. Friedrich Anton Heller von Hellwald, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung von der ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Augsburg: Lampart, 1875:128.]

11 [196]

Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte— —es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!

11 [197]

Zum “Entwurf einer neuen Art zu leben.”

Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive natura: “von der Entmenschlichung der Natur.” Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit des 5kVJ@l, “der Macht.”

Zweites Buch. Flüchtig-skeptisch-mephistophelisch. “Von der Einverleibung der Erfahrungen.” Erkenntniss = Irrthum, der organisch wird und organisirt.

Drittes Buch. Das Innigste und über den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: “vom letzten Glück des Einsamen”—das ist der, welcher aus dem “Zugehörigen” zum “Selbsteignen” des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene ego: nur erst dies ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, giebt es etwas anderes als Liebe.

Viertes Buch. Dithyrambisch-umfassend. “Annulus aeternitatis.” Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben.

Die unablässige Verwandlung—du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch. Das Mittel ist der unablässige Kampf.

           
Sils-Maria         26. August 1881
           

“allem Hübschen und Gefälligen aus dem Wege gehen, als ein weltverachtender Gewaltmensch” sagt J. Burckhardt bei Palazzo Pitti) [Vgl. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Leipzig: Seemann, 1869:175.]

11 [198]

Die große Form eines Kunstwerks wird an’s Licht treten, wenn der Künstler die große Form in seinem Wesen hat! An sich die große Form ist albern und verdirbt die Kunst, es heißt den Künstler zur Heuchelei verführen oder das Große und Seltene zur Conventions-münze umstempeln wollen. Ein ehrlicher Künstler, der diese gestaltende Kraft in seinem Charakter nicht hat, ist ehrlich, sie auch nicht in seinen Werken haben zu wollen:—wenn er sie überhaupt leugnet und verunglimpft, so ist dies begreiflich und mindestens zu entschuldigen: er kann da nicht über sich. So Wagner. Aber die “unendliche Melodie” ist ein hölzernes Eisen—“die nicht Gestalt gewordene, fertig gewordene Gestalt”—das ist ein Ausdruck für das Unvermögen der Form und eine Art Princip aus dem Unvermögen gemacht. Dramatische Musik und überhaupt Attitüden-Musik verträgt sich freilich am besten mit der formlosen, fließenden Musik—ist deshalb aber niederer Gattung.

11 [199]

Gehorsam Funktionsgefühl Schwächegefühl haben den Werth “des Unegoistischen” aufgebracht: namentlich als man die vollkommene Abhängigkeit von Einem Gotte glaubte. Verachtung gegen sich selber, aber einen Zweck dafür suchen, daß man doch thätig ist, nämlich sein muß: also um Gottes willen, und schließlich, als man an den Gott nicht mehr glaubte, um des Anderen willen: eine Einbildung, ein mächtiger Gedanke, der den Menschen das Dasein leichter machte. Auch unsere Zustände wollen Sklaverei, und das Individuum soll gehemmt werden—daher Cultur des Altruismus. In Wahrheit handelt man “unegoistisch,” weil es die Bedingung ist, unter der allein man noch fortexistirt d. h. man denkt an die Existenz des Anderen gewohnheitsmäßig eher als an die eigne (z. B. der Fürst an das Volk, die Mutter an das Kind) weil sonst der Fürst nicht als Fürst, die Mutter nicht als Mutter existiren könnte: sie—wollen die Erhaltung ihres Machtgefühls, wenn es auch die beständige Aufmerksamkeit und zahllose Selbstopferung zu Gunsten der Abhängigen fordert: oder, in anderen Fällen, zu Gunsten der Mächtigen, wenn unsere Existenz (Wohlgefühl, z.B. im Dienste eines Genie’s usw.) nur so behauptet wird.

11 [200]

Rechte: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen einander fest: und Pflichten: der Mächtigere stellt die Funktionäre gegen sich fest: jeder hat etwas zu leisten, und um dies regelmäßig zu erlangen, verzichtet der Mächtigere auf weitere Eingriffe, und fügt sich selber einer Ordnung: es gehört dies zur Selbstregulirung. In Bezug auf die Pflichten der Funktionen stimmt der Mächtige und die Funktion überein. Es ist nichts “Unegoistisches” daran.

From Nietzsche's Notebooks© The Nietzsche Channel