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Oktober 1888 23 [1-14] 23 [1] Auch ein Gebot der Menschenliebe. Es giebt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu thun? Solche zur Keuschheit ermuthigen, etwa mit Hülfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu beherrschen (auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagiren) gerade zu den regelmäßigsten Folgen der Gesammt-Erschöpfung gehört. Man würde sich verrechnen, wenn man sich zum Beispiel einen Leopardi als keusch vorstellte. Der Priester, der Moralist spielen da ein verlornes Spiel; besser thut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht zu erfüllen: es giebt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten,sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten. Das Bibel-Verbot du sollst nicht tödten! ist eine Naivetät im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: ihr sollt nicht zeugen! ... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein gleiches Recht zwischen gesunden und entartenden Theilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneidenoder das Ganze geht zu Grunde. Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißrathenendas wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral! 23 [2] Zur Vernunft des Lebens. Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken, kann zur großen Vernunft des Lebens auch bei reich ausgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt in Sonderheit von den Künstlern, er gehört zu deren bester Lebens-Weisheit. Völlig unverdächtige Stimmen sind schon in diesem Sinne laut geworden: ich nenne Stendhal, Th. Gautier, auch Flaubert. Der Künstler ist vielleicht seiner Art nach mit Nothwendigkeit ein sinnlicher Mensch, erregbar überhaupt, zugänglich in jedem Sinne, dem Reize, der Suggestion des Reizes schon von Ferne her entgegenkommend. Trotzdem ist er im Durchschnitt, unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines Willens zur Meisterschaft, thatsächlich ein mäßiger, oft sogar ein keuscher Mensch. Sein dominirender Instinkt will es so von ihm: er erlaubt ihm nicht, sich auf diese oder jene Weise auszugeben. Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Conception und die man im geschlechtlichen Actus ausgiebt: es giebt nur Eine Art Kraft. Hier zu unterliegen, hier sich zu verschwenden ist für einen Künstler verrätherisch: es verräth den Mangel an Instinkt, an Wille überhaupt, es kann ein Zeichen von décadence sein,es entwerthet jedenfalls bis zu einem unausrechenbaren Grade seine Kunst. Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner. Wagner, im Banne jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Freiheit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-Betäubens,es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher Unfreier hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein,er hat Wagnersche Musik nöthig ... Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von Sumpf: der Fall Baudelaires in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poes in Amerika, der Fall Wagners in Deutschland. Habe ich noch zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch seinen Erfolg verdankt? daß seine Musik die untersten Instinkte zu sich, zu Wagner überredet? daß jener heilige Begriffs-Dunst von Ideal, von Drei-Achtel-Katholicismus eine Kunst der Verführung mehr ist? (er erlaubt, unwissend, unschuldig, christlich den Zauber auf sich wirken zu lassen ...) Wer wagte das Wort, das eigentliche Wort für die ardeurs der Tristan-Musik? Ich ziehe Handschuhe an, wenn ich die Partitur des Tristan lese ... Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine leichtere Sinnlichkeits-Epidemie, die es nicht weiß; gegen Wagnersche Musik halte ich jede Vorsicht für geboten. 23 [3] Wir Hyperboreer. 1. Wenn anders wir Philosophen sind, wir Hyperboreer, es scheint jedenfalls, daß wir es anders sind als man ehemals Philosoph war. Wir sind durchaus keine Moralisten ... Wir trauen unsern Ohren nicht, wenn wir sie reden hören, alle diese Ehemaligen. Hier ist der Weg zum Glückedamit springt ein Jeder von ihnen auf uns los, mit einem Recept in der Hand und mit Salbung im hieratischen Maule. Aber was kümmert uns das Glück?fragen wir ganz erstaunt. Hier ist der Weg zum Glückfahren sie fort, diese heiligen Schreiteufel: und dies da ist die Tugend, der neue Weg zum Glück! ... Aber wir bitten Sie, meine Herrn! Was kümmert uns gar Ihre Tugend! Wozu geht Unsereins denn abseits, wird Philosoph, wird Rhinozeros, wird Höhlenbär, wird Gespenst? Ist es nicht, um die Tugend und das Glück los zu sein? Wir sind von Natur viel zu glücklich, viel zu tugendhaft, um nicht eine kleine Versuchung darin zu finden, Philosophen zu werden: das heißt Immoralisten und Abenteurer ... Wir haben für das Labyrinth eine eigne Neugierde, wir bemühn uns darum, die Bekanntschaft des Herrn Minotaurus zu machen, von dem man Gefährliches erzählt: was liegt uns an Ihrem Weg hinauf, an Ihrem Strick, der hinaus führt? zu Glück und Tugend führt? zu Ihnen führt, ich fürchte es ... Sie wollen uns mit Ihrem Stricke retten? Und wir, wir bitten Sie inständigst, hängen Sie sich daran auf! ... 2. Zuletzt: was hilft es! Es bleibt kein andres Mittel, die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen: man muß zuerst die Moralisten aufhängen. So lange diese von Glück und Tugend reden, überreden sie nur die alten Weiber zur Philosophie. Sehen Sie ihnen doch ins Gesicht, allen den berühmten Weisen seit Jahrtausenden: lauter alte, lauter ältliche Weiber, lauter Mütter, mit Faust zu reden [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Zweiter Theil. 6217. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 12. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856:?.]. Die Mütter! Mütter! s klingt so schauerlich. Wir machen aus ihr eine Gefahr, wir verändern ihren Begriff, wir lehren Philosophie als lebensgefährlichen Begriff: wie könnten wir ihr besser zu Hülfe kommen? Ein Begriff wird der Menschheit immer so viel werth sein, als er ihr kostet. Wenn Niemand Bedenken trägt, für den Begriff Gott, Vaterland, Freiheit Hekatomben zu opfern, wenn die Geschichte der große Dampf um diese Art Opfer ist, womit kann sich der Vorrang des Begriffs Philosophie vor solchen Popular-Werthen, wie Gott, Vaterland, Freiheit, beweisen, als dadurch, daß er mehr kostetgrößere Hekatomben? ... Umwerthung aller Werthe: das wird kostspielig, ich verspreche es 3. Dieser Anfang ist heiter genug: ich schicke ihm sofort meinen Ernst hinterdrein. Mit diesem Buche wird der Moral der Krieg erklärt,und, in der That, die Moralisten insgesammt werden zuerst von mir abgethan. Man weiß bereits, welches Wort ich mir zu diesem Kampf zurecht gemacht habe, das Wort Immoralist; man kennt insgleichen meine Formel Jenseits von Gut und Böse. Ich habe diese starken Gegen-Begriffe nöthig, die Leuchtkraft dieser Gegen-Begriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß. Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiberin diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Mensch war bisher das moralische Wesen, eine Curiosität ohne Gleichenund als moralisches Wesen absurder, verlogener, eitler, leichtfertiger, sich selber nachtheiliger als auch der größte Verächter des Menschen es sich träumen lassen möchte. Moral die bösartigste Form des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit: das was sie verdorben hat. Es ist nicht der Irrthum als Irrthum, was mir bei diesem Anblick Entsetzen macht, nicht der jahrtausendelange Mangel an gutem Willen, an Zucht, an Anstand, an Muth im Geistigen: es ist der Mangel an Natur, es ist die schauderhafte Thatsächlichkeit, daß die Widernatur selbst als Moral mit den höchsten Ehren geehrt worden ist und als Gesetz über der Menschheit hängen blieb ... In diesem Maaße sich vergreifen,nicht als Einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit! Worauf weist das? Daß man die untersten Instinkte des Lebens verachten lehrt, daß man in der tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen des Lebens, in der Selbstsucht, das böse Princip sieht: daß man in dem typischen Ziel des Niedergangs, der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im Selbstlosen im Verlust des Schwergewichts in der Entpersönlichung und Nächstenliebe grundsätzlich einen höheren Werth, was sage ich! den Werth an sich sieht! Wie? Wäre die Menschheit selber in décadence? Wäre sie es immer gewesen? Was feststeht, ist daß ihr nur décadence-Werthe als oberste Werthe gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die typische Niedergangs-Moral par excellence. Hier bliebe eine Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit selber in décadence sei, sondern jene ihre Lehrer! ... Und in der That, das ist mein Satz: die Lehrer, die Führer der Menschheit waren décadents: daher die Umwerthung aller Werthe ins Nihilistische (Jenseitige ...) 4. Was dürfte dagegen ein Immoralist von sich verlangen? Was werde ich mir mit diesem Buche zur Aufgabe stellen? Vielleicht auch die Menschheit zu verbessern, nur anders, nur umgekehrt: nämlich sie von der Moral zu erlösen, von den Moralisten zumal,ihre gefährlichste Art von Unwissenheit ihr ins Bewußtsein, ihr ins Gewissen zu schieben ... Wiederherstellung des Menschheits-Egoismus! 23 [4] Der Immoralist. A. Psychologie des Guten: ein décadent oder das Heerdenthier B. seine absolute Schädlichkeit: als Parasitenform auf Unkosten der Wahrheit und der Zukunft C. der Macchiavellismus der Guten ihr Kampf um die Macht ihre Mittel, zu verführen ihre Klugheit in der Unterwerfung z.B. vor Priestern vor Mächtigen D. Das Weib im Guten |
Güte als feinste Sklaven-Klugheit, Rücksicht überall gebend und folglich empfangend. |
E. Physiologie der Guten an welchem Punkt der Gute auftritt in Familien, in Völkern zu gleicher Zeit, wo die Neurosen auftreten
Gegensatz-Typus: die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichthum, aus dem welche nicht giebt, um zu nehmen,welche nicht sich damit erheben will, daß sie gütig ist,die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichthum an Person als Voraussetzung |
der Begriff Pflichteine Unterwerfung, Folge der Schwäche um nicht mehr fragen und wählen zu müssen
die Schwäche des Heerdenthiers erzeugt eine ganz ähnliche Moral, wie die Schwäche der décadents: sie verstehen sich, sie verbünden sich ... die großen décadence-Religionen rechnen immer auf die Unterstützung durch die Heerde ... An sich fehlt alles Krankhafte am Heerdenthier, es ist unschätzbar selbst; aber unfähig, sich zu leiten, braucht es einen Hirtendas verstehen die Priester ... der Staat ist nicht intim, heimlich genug, die Gewissensleitung entgeht ihm
Worin das Heerdenthier krank gemacht wird durch den Priester? Der décadence-Instinkt im Guten |
1) | die Trägheit: er will nicht mehr sich verändern, nicht mehr lernen, er sitzt als schöne Seele in sich selber ... | 2) | die Widerstands-Unfähigkeit: z.B. im Mitleiden,er giebt nach (nachsichtig tolerant ... er versteht Alles) Frieden und den Menschen ein Wohlgefallen | 3) | er wird gelockt durch alles Leidende und Schlechtweggekommeneer hilft gerne er ist instinktiv eine Verschwörung gegen die Starken | 4) | er bedarf der großen Narcotica,wie das Ideal, der große Mann, der Held, er schwärmt ... | 5) | die Schwäche, die sich in der Furcht vor Affekten, starkem Willen, vor Ja und Nein äußert: er ist liebenswürdig, um nicht feind sein zu müssen,um nicht Partei nehmen zu müssen | 6) | die Schwäche, die sich im Nicht-sehn-Wollen verräth, überall, wo vielleicht Widerstand nöthig werden würde (Humanität) | 7) | wird verführt durch alle großen décadents: das Kreuz die Liebe den Heiligen die Reinheit im Grunde lauter lebensgefährliche Begriffe und Personen auch die große Falschmünzerei in Idealen | 8) | die intellektuelle Lasterhaftigkeit Haß auf die Wahrheit, weil sie keine schönen Gefühle mit sich bringt Haß auf die Wahrhaftigen, |
der Selbsterhaltungs-Instinkt des Guten, der sich die Zukunft der Menschheit opfert: im Grunde widerstrebt er schon der Politik jeder weiteren Perspektive überhaupt jedem Suchen, Abenteuern, Unbefriedigt-sein er leugnet Ziele, Aufgaben, bei denen er nicht zuerst in Betracht kommt er ist frech und unbescheiden als höchster Typus und will über Alles nicht nur mitreden, sondern urtheilen. er fühlt sich denen überlegen, welche Schwächen haben: diese Schwächen sind die Stärken des Instinktswozu auch der Muth gehört, sich ihrer nicht zu schämen Der Gute als Parasit. Er lebt auf Unkosten des Lebens: als Weglügner der Realität als Gegner der großen Instinkt-Antriebe des Lebens als Epikureer eines kleinen Glücks, der die große Form des Glücks als unmoralisch ablehnt da er nicht mit Hand anlegt und fortwährend Fehlgriffe und Täuschungen verschuldet, so stört er jedes wirkliche Leben und vergiftet es überhaupt durch seinen Anspruch, etwas Höheres darzustellen in seiner Einbildung, höher zu sein, lernt er nicht, verändert er sich nicht, sondern nimmt Partei für sich, auch wenn er noch so große malheurs hervorgebracht hat. 23 [5] Der Immoralist. 1. | Typus des Guten (Siehe zweitnächste Seite.) | 2. | der Gute macht aus sich eine Metaphysik eine Psychologie einen Weg zur Wahrheit eine Politik eine Lebens- und Erziehungsweise | 3. | Resultat: eine absolut schädliche Art Mensch // nach der Wahrheit, nach der Zukunft der M[enschheit] hin // Ursache davon, daß erst seit 20 Jahren die wichtigen Dinge wichtig genommen werden | 4. | Problem: was ist eigentlich der gute Mensch? |
der gute Mensch als Instinkt | ïï ïï ïï ïï ïï ïï | erstens der schwache: er will alle Menschen schwach
zweitens der bornirte: er will alle Menschen bornirt
drittens das Heerdenthier, das Wesen ohne eigene Rechte: es will alle Menschen als Heerdenthiere. |
5. | Der gute Mensch gemißbraucht zu anderen Zwecken |
er kämpft gegen das Böse ... | ï ï ï | in Dienst genommen von dem Priester, gegen die Mächtigen, gegen die Starken und Wohlgerathenen |
liberal gleiche Rechte | ï ï ï | in Dienst genommen von den Umsturz-Politikern, den Socialisten, Ressentiments-M[enschen] gegen die Herrschenden | | | | | | |
zu 3: die schädlichste Art Mensch A. Er erfindet Handlungen, die es nicht giebt |
die unegoistischen, die heiligen |
Vermögen, die es nicht giebt |
Seele Geist freier Wille |
Wesen, die es nicht giebt |
eine Ordnung im Geschehen, die es nicht giebt |
die sittliche Weltordnung, mit Lohn und Strafeeine Vernichtung der natürlichen Causalität |
B. mit diesen Erdichtungen entwerthet er |
1) | die einzigen Handlungen, die egoistischen | 2) | den Leib | 3) | die wirklich werthvollen Arten Mensch, die werthvollen Antriebe | 4) | die ganze Vernunft im Geschehen,er verhindert das Lernen aus ihm, die Beobachtung, die Wissenschaft, jeden Fortschritt des Lebens durch Wissen ... |
23 [6] I. | der Mangel an Mißtrauen | | die Pietät | | die Ergebung in den Willen Gottes die Frömmigkeit | | das gute Herz, die hülfreiche Handdas genügt ... | | der Ernst, den höheren Dingen zugewendet,man darf dabei niedrige Sphären, wie den Leib und sein Wohlbefinden nicht zu ernst nehmen | | die Pflicht: man hat seine Schuldigkeit zu thun,darüber hinaus soll man Alles Gott überlassen | | |
Ich frage ganz ernsthaft: habe ich hiermit nicht den guten Menschen beschrieben? Glaubt man nicht, daß dies ein wünschenswerther Mensch ist? Möchte man nicht so sein? Wünscht man sich seine Kinder anders? | |
II. | Sehen wir zu, wie die Guten aus sich |
1. | eine Metaphysik machen | 2. | eine Psychologie | 3. | eine Politik | 4. | eine Lebens- und Erziehungsweise | 5. | eine Methode der Wahrheit |
23 [7] Mein Satz: die guten Menschen sind die schädlichste Art Menschen. Man antwortet mir: aber es giebt nur wenige gute Menschen! Gott sei Dank! Man wird auch sagen: es giebt gar keine ganz guten Menschen Um so besser! Immer würde ich aber noch aufrecht halten, daß in dem Grade indem ein Mensch gut ist, er schädlich ist.
Woran liegt es, daß man seit 20 Jahren die ersten Fragen des Lebens ernst nehme? Daß man Probleme sehe, wo man ehedem Alles ein für alle Mal laufen ließ?
: der Mangel an Mißtrauen
: die Trägheit, die Furcht vor dem Nachdenken
: das subj[ektive] Behagen, welches keine Gründe findet, in den Dingen Probleme zu sehen
: die Überzeugung, daß ein gutes Herz, eine hulfbereite Hand das Werthvollste sei,daß man dazu erziehen müsse
: die Ergebung,der Glaube, daß Alles in guten Händen ist ...
: die Falschmünzerei der Interpretation, welche dieses Gut Gott überall wiederfindet
: der Glaube, daß das Heil der Seele, überhaupt die moralischen Dinge getrennt sind von all solchen irdisch-leiblichen Fragen: es gilt als niedrig, den Leib und sein Wohlbefinden so ernst nehmen ...
: die Ehrfurcht vor dem Herkommen: es ist pietätlos zu verneinen, oder auch nur Kritik am Überlieferten zu üben
Ecco! Und diese Art Mensch ist die schädlichste Art Mensch 23 [8] IV. | Dionysos Typus des Gesetzgebers |
23 [9] Auf die Gefahr hin, den Herren Antisemiten einen gut[be]messenen Tritt zu versetzen, bekenne ich, daß die Kunst zu lügen, das unbewußte Ausstrecken langer, allzulanger Finger, das Verschlucken fremden Eigenthums mir an jedem Antisemiten bisher handgreiflicher erschienen als an irgend welchem Juden. Ein Antisemit stiehlt immer, lügt immerer kann gar nicht anders ... Denn er hat [ ] ... Man sollte die Antisemiten beklagen, man sollte für sie sammeln. 23 [10] Das Bibel-Verbot du sollst nicht tödten! ist eine Naivetät im Vergleich zu meinem Verbot an die décadents ihr sollt nicht zeugen!es ist Schlimmeres noch, es ist der Widerspruch zu mir... Das höchste Gesetz des Lebens, von Zarathustra zuerst formulirt, verlangt, daß man ohne Mitleid sei mit allem Ausschuß und Abfall des Lebens, daß man vernichte, was für das aufsteigende Leben bloß Hemmung, Gift, Verschwörung, unterirdische Gegnerschaft sein würde,Christenthum mit Einem Wort ... Es ist unmoralisch, es ist widernatürlich im tiefsten Verstande zu sagen du sollst nicht tödten!
Das Bibel-Verbot du sollst nicht tödten! ist eine Naivetät im Vergleich zu meinem Verbot an die décadents ihr sollt nicht zeugen!es ist Schlimmeres noch ... Gegen den Ausschuß und Abfall des Lebens giebt es nur Eine Pflicht, vernichten; hier mitleidig sein, hier erhalten wollen um jeden Preis wäre die höchste Form der Unmoralität, die eigentliche Widernatur, die Todfeindschaft gegen das Leben selbst.
Das Bibel-Verbot du sollst nicht tödten! ist eine Naivetät im Vergleich zu meinem Verbot an die décadents ihr sollt nicht zeugen! Es ist Schlimmeres noch ... Gegen den Ausschuß und Abfall des Lebens giebt es nur Eine Pflicht: keine Solidarität anerkennen; hier human sein, hier gleiche Rechte dekretiren wäre die höchste Form der Widernatur: Widernatur, die Verneinung des Lebens selbst. Das Leben selbst erkennt keine Solidarität zwischen den gesunden und entartenden Gliedern eines Organismus anletztere muß es ausschneiden, oder das Ganze geht zu Grunde ...
Das Bibel-Verbot du sollst nicht tödten! ist eine Naivetät im Vergleich zum Ernst des Verbots an die décadents ihr sollt nicht zeugen! Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein gleiches Recht zwischen gesunden und entartenden Theilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden, oder das Ganze geht zu Grunde. Mitleid mit den décadentsdas wäre die tiefste Unmoralität, die Widernatur selber als Moral. 23 [11] Fern von den Windzügen jeder Skepsis, von jeder feineren Frage-stellung gewachsen, fett, schwäbisch, mit runden Augen rund selber wie ein Apfel sitzt diese Art Tugend auf dem festesten Grunde, den es giebt: auf dem der Dummheit,auf dem Glauben ...
diese Tugend glaubt heute noch, daß Alles in guter Hand ist, nämlich in der Hand Gottes, wenn sie einen solchen Satz mit jener bescheidenen Sicherheit hinstellt wie als ob sie sagte, daß zwei Mal zwei vier ist Die Dummheit hat ihre Vorrechte: eines von ihnen ist die Tugend ...
Die Dummheit spiegelt sich selbst in die Dinge hineinsie heißt diese glückliche Vereinfachung aller Dinge zur Biederkeit des Schwaben den alten Gott ... Wir Anderen sehen etwas Anderes in die Dinge hineinwir machen Gott interessant ... 23 [12] Wir sind Immoralisten: das sagen wir mit dem Stolz, als ob wir sagten Wir leugnen, daß der Mensch nach Glück strebt, wir leugnen, daß die Tugend der Weg zum Glück ist,wir leugnen, daß es die Handlungen, welche man bisher moralische Handlungen nannte, die selbstlosen die unegoistischen überhaupt giebt. In all den Behauptungen, denen wir ein ehernes Nein entgegenstellen drückt sich eine vollkommene unheimliche [] über die bisherigen Erzieher der Menschheit aus: 23 [13] Der freie Geist Kritik der Philosophie als nihilistischer Bewegung
Der Immoralist Kritik der Moral als der gefährlichsten Art der Unwissenheit
Dionysos philosophos 23 [14] An diesem vollkommenen Tage, wo alles reift und nicht nur die Traube gelb wird, fiel mir eben ein Sonnenblick auf mein Lebenich sah rückwärts, ich sah hinaus,ich sah nie so viel und so gute Dinge auf einmal. Nicht umsonst begrub ich eben das vierundvierzigste Jahr ich durfte es: was in ihm Leben war, ist gerettet,ist unsterblich. Das erste Buch der Umwerthung der Werthe; die ersten 6 Lieder Zarathustras; die Götzen-Dämmerung, mein Versuch mit dem Hammer zu philosophirenAlles Geschenke dieses Jahres, sogar seines letzten Vierteljahrswie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein!...
Und so erzähle ich mir mein Leben.
Wer den geringsten Begriff von mir hat, erräth, daß ich mehr erlebt habe, als irgend ein Mensch. Das Zeugniß ist sogar in meinen Büchern geschrieben: die, Zeile für Zeile, erlebte Bücher aus einem Willen zum Leben sind und damit, als Schöpfung, eine wirkliche Zuthat, ein Mehr jenes Lebens selber darstellen. Ein Gefühl, das mich oft genug überkommt: eben wie ein deutscher Gelehrter es mit bewunderungswürdiger Unschuld von sich und seinen Dingen sprach: jeder Tag bringt dem mehr als denen ihr ganzes Leben bringt! Schlimmes unter anderemes ist kein Zweifel! Aber das ist die höchste Auszeichnung des Lebens, daß es uns auch seine höchste Gegnerschaft entgegenstellt ...
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