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Nizza, 9. Januar 1887: Lieber Freund, meine Karte ist kurz vor dem Eintreffen Deines Briefes abgegangen: für letzteren herzlichen Dank! Hoffentlich verbessert sich Deine Gesundheit unter der guten Pflege, die Du hast; gerade bei Augenleiden scheint mir es am wenigsten gut zu sein, "daß der Mensch allein ist." Der Winter ist hart, auch hier; statt Schnee haben wir tagelangen Regen; die näheren Berge sind seit längerer Zeit weiß (was in der bunten und farbensatten Landschaft wie eine Koketterie der Natur aussieht —). Zu dieser "Buntheit" gehören auch meine blauen Finger,1 nach wie vor; insgleichen meine schwarzen Gedanken. Eben lese ich, mit solcherlei Gedanken, den Commentar2 des Simplicius zu Epictet: man hat in ihm das ganze philosophische Schema klar vor sich, auf welches sich das Christenthum eingezeichnet hat: so daß dies Buch eines "heidnischen" Philosophen den denkbar christlichsten Eindruck macht (abgerechnet daß die ganze christliche Affekten-Welt und Pathologie fehlt, "Liebe," wie Paulus von ihr redet, "Furcht vor Gott" usw) Die Fälschung alles Thatsächlichen durch Moral steht da in vollster Pracht; erbärmliche Psychologie; der Philosoph auf den "Landpfarrer" reduzirt. — Und an alledem ist Plato schuld! er bleibt das größte Malheur Europas! — Dein N. 1. Nietzsche's room had no heat.
Venice, 11. Januar 1887: Verehrter Herr Professor! Ihren gütigen Brief, ich glaube vom 22. December, und Ihre vorgestrige Karte erhielt ich, Ihnen herzlich dafür dankend. Hier angekommen bin ich am 6. Januar Nachmittags um 3 Uhr, unter Schnee und Regen, sodass ich fast einen abstossenden Eindruck von der Stadt und ihrem fröstelnden Lumpengesindel hatte. Aber als ich wieder nach vorn, an die Riva, ging und, von ihrem oberen Ende aus, hinunter nach dem Dogenpalast, dem hervorlugenden Marcusthurm und der Salute sah, da fühlte ich wieder die Grösse und Feierlichkeit dieses Menschenwerkes, welches Venedig heisst. Was jetzt in diesem Werk herumkrabbelt ist Spott und Ironie auf die Vergangenheit, ist zum Erhabenen das complementäre Lächerliche; und auch dieses unterhält mich oft recht gut. Das aber, was mich eigentlich fesselt, ist doch wahrscheinlich die Erinnerung an die Glanzzeit Venedig's, die der Goldgrund für alles Gegenwärtige bleibt, die Dandolo, Foscari, Zeno und alle die Grossen bis auf Francesco Morosini, und die herrlichen Architekten und Maler. Ihren Chor erhielt ich von Hegar;1 ich dachte daran, ihm eine Begleitung vom üblichen Orchester zu geben. Eine blosse Bläserbegleitung ist für einen geschlossenen Raum unangenehm, davon habe ich mich in München überzeugen können; sie hebt den Chor nicht, sie bläst ihn todt, und man ärgert sich über die vielen singenden Menschen, die nicht durchdringen können. Die Trompeten waren in dem Manuscript an einigen Puncten allerdings zu hoch; die Clarinetten hätten allenfalls so bleiben können. Die von Hegar vorgeschlagenen Oboen wären als melodieführend zu schwach. — Mit dem üblichen Orchester lassen sich viel schönere Steigerungen erzielen. Hegar schrieb auch, dass Sie ihm vom Csardas geschrieben und lud mich ein, ihn zum Durchspielen nach Zürich zu schikken, was ich auch gethan habe. Ich danke Ihnen wiederum auf's Herzlichste für die Unermüdlichkeit in Ihren Bemühungen um mich!2 Das Septett3 hat Levi4 am 1. Januar in einem engen Zimmer des Hoftheaters spielen lassen — ohne Contrabass, so war mir's lieber. Gespielt wurde es viel schlechter, als in Leipzig, ich hätte fast gesagt noch dümmer. Tutto forte, senza grazia, senza brio. Der Capellmeister Richard Strauss,5 obgleich er's nicht gleich beim ersten Mal vollständig zu fassen vermochte, sprach sich nicht so skeptisch aus wie Levi. Dieser hingegen schnitt ein Gesicht dazu wie Freund 6 in Zürich, und gewiss hat er mich halb bedauert, halb ausgelacht. Ich solle in Deutschland bleiben, im grossen Musikstrom! Auch bon den bekannten "Anregungen" sprach er, die ein Künstler nicht entbehren könne. — Er machte alles das wieder gut mit dem Geständniss, dass er Ihr neuestes Buch7 gelesen habe, dass es einen starken Eindruck auf ihn machte und dass er niemals einem Buch so viel widersprochen habe, wie dem Ihrigen. Worauf ich ihm natürlich zu verstehen gab, dass es Ihre Aufgabe nicht sein könne, Gedanken zu haben, die schon allgemein vorhanden wären und zu denen man nur Ja zu sagen brauchte. Er trug mir auf, Ihnen seinen ergebenen Gruss auszurichten. Es ist ein lieber Mensch und ich muss sagen, dass ich ihn gern habe. Als Dirigent Beethoven's und Wagner's wird er nicht so bald seines Gleichen finden, hierin ist er Hans Richter8 gewiss überlegen. Auch seine künstlerischen Affectationen und närrisch sein sollenden Attitüden kommen recht natürlich heraus. Ihre Vorrede zur "Morgenröthe" wird hoffentlich in aller Ordnung bei Fritzsch angekommen sein; ich erhielt sowohl Ihre Correctur wie die meinige von Ihnen und trug Alles in den Bogen ein. Ich schrieb zwar Fritzschen, er möchte mir noch einen Abzug nach dieser Correctur zusenden, erhielt aber Nichts. Abzüge von Ihren Vorreden9 hat mir Fr[itzsch] gleichfalls nicht geschickt. — Man kann von München aus immer nur unter dem Vorbehalt, dass auf der Post Nichts verloren gegangen ist, Jemanden zur Rede stellen. In München sind die faulsten und unzuverlässigsten Briefboten, die mir je vorgekommen sind: Briefe, die zu Mittag in meinen Händen sein sollten, kamen am nächsten Tag früh; Ihr Chor, von Hegar abgesandt, wurde von einem Rollfuhrknecht auf der Strasse gefunden und mir überbracht. Das Wetter ist leidlich warm, der Scirocco macht das Meer brausen, der Himmel hat sich einige Stunden, seit ich hier bin, ausgeheitert. Von Bekannten habe ich noch Niemanden gesehen; so lange es geht, will ich sie auch vermeiden. Ihnen im neuen Jahr viel Glück wünschend, grüsse ich Sie verehrter Herr Professor, als Ihr dankbar ergebener Schüler K. Gott sei Dank sind die Östreicher aus dem Gartenhaus unter mir fortgezogen; es wohnt jetzt eine Advocatenwitwe da, von der man Nichts hört, noch sieht, noch weiss. 1. The conductor Friedrich Hegar (1841-1927) in Zurich. Hegar, whom Nietzsche had first met while visiting Richard Wagner, was the founder and director of the music conservatory in Zurich, the conductor of the Zurich Symphony, and a close friend of the German composer, Johannes Brahms (1833-1897).
Nice, 21. Januar 1887: Lieber Freund, es ist mir eine wahre Erleichterung, Sie wieder in Venedig zu wissen. Ihr Brief — oh was er mir wohlthat! Es war mir wie ein Versprechen darin, daß es auch bei mir nun wieder besser gehen solle — besser das heißt heller heiterer südlicher unbekümmerter, hoffentlich auch "unlitterarischer": denn diese ganze In-Scene-setzung meiner alten Litteratur hat mich greulich malträtirt und "persönlich" gemacht.1 Ich tauge nicht für's "Wiederkäuen" des Lebens. Jetzt ergötze und erhole ich mich an der kältesten Vernunft-Kritik, bei der man unwillkürlich blaue Finger2 bekommt (und folglich die Lust verliert, zu schreiben —) Ein Generalangriff auf den gesammten "Causalismus" der bisherigen Philosophie kommt dabei heraus, auch einiges Schlimmere noch. — Hätten Sie doch ein Stück Ihrer Oper zur Aufführung gebracht! Man muß, wenn man sich produziren will, das am Meisten Charakteristische, also Fremdeste produziren. Daß Sie dem Levi Ihr Septett vorführten, ist, nach meinem Gefühle, mehr Höflichkeit als etwas Anderes (etwas "Sachse" — Vergebung, alter Freund!) Das Beste an der Geschichte ist, daß Ihr Septett so aufgenommen wurde, wie Sie schreiben; hätte es gefallen, so hätte ich an eine Verwechslung geglaubt. —3 Levi hat mir vom Frühling her den besten Eindruck hinterlassen.4 Auch was mir von anderer Seite inzwischen aus München gemeldet wurde, bestätigt, daß er eine Art Zusammenhang mit mir (er nennt's Dankbarkeit) weder verloren hat, noch verlieren will: was übrigens von allen Wagnerianern gilt (ob ich es schon mir nicht recht zu erklären weiß) Man hat mich letzten Herbst in München erwartet "mit fieberhafter Spannung," wie Seydlitz (jetzt Präsident des Wagner-Vereins) meldete. Im Engadin, beiläufig gesagt, hatte ich als Tischnachbarin die Schwester des Barbier von Bagdad: Sie verstehen diese abgekürzte Redeweise?5 Zuletzt — neulich hörte ich zum ersten Male die Einleitung zum Parsifal (nämlich in Monte-Carlo!)6 Wenn ich Sie wiedersehe, will ich Ihnen genau sagen, was ich da verstand. Abgesehn übrigens von allen unzugehörigen Fragen (wozu solche Musik dienen kann oder etwa dienen soll?) sondern rein ästhetisch gefragt: hat Wagner je Etwas besser gemacht? Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt werden soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als descriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebniß, Ereigniß der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch "höheren Menschen," als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von "Höhe" im erschreckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht. Ob je ein Maler einen so schwermüthigen Blick der Liebe gemalt hat als W[agner] mit den letzten Accenten seines Vorspiels? — Treulich Ihr Freund Nietzsche 1. Nietzsche wrote new prefaces for the second editions of The Birth of Tragedy, Human, All Too Human, and Dawn. He also wrote a new preface, Book 5, and Appendix of Songs for The Joyful Science.
Nizza, 23. Februar 1887: Lieber Freund, heute nur meinen Dank für Deinen Brief und die Geldsendung,1 die mich sehr beruhigt hat; ich war selten in meinem Leben so sehr am Ende meines "Lateins." Übrigens bin ich krank, hüstele comme il faut, fröstele: dabei spielt sich der lärmende Carneval von Nizza fast vor meinem Fenster ab … Anbei ein Brief2 des Venediger maëstro, an dem Du, wie ich glaube, Freude haben wirst. Ich war so in Sorge! Aber es dreht sich zum Besseren. Eine kleine Machination, sehr indirekt, welche darauf abzielte, Herrn Hegar in Zürich zu einer Artigkeit gegen ihn zu veranlassen, scheint mir gelungen.3 Gesetzt, daß ich diesen Frühling nach Zürich komme und Hegar bereit finde, mir den Mizka-Czàrdas vorzuführen, werde ich nicht versäumen, Dich dazu einzuladen.4 Von Dostoiewsky5 wußte ich vor wenigen Wochen auch selbst den Namen nicht — ich ungebildeter Mensch, der keine "Journale" liest! Ein zufälliger Griff in einem Buchladen brachte mir das eben ins Französische übersetzte Werk l'esprit Souterrain6 unter die Augen (ganz so zufällig ist es mir im 21ten Lebensjahre mit Schopenhauer7 und im 35ten mit Stendhal8 gegangen!) Der Instinkt der Verwandtschaft (oder wie soll ich's nennen?) sprach sofort, meine Freude war außerordentlich: ich muß bis zu meinem Bekanntwerden mit Stendhals Rouge et Noir9 zurückgehen, um einer gleichen Freude mich zu erinnern. (Es sind zwei Novellen, die erste eigentlich ein Stück Musik, sehr fremder, sehr undeutscher Musik; die zweite ein Geniestreich der Psychologie,10 eine Art Selbstverhöhnung des ,11). Beiläufig gesagt: diese Griechen haben viel auf dem Gewissen — die Fälscherei war ihr eigentliches Handwerk, die ganze europäische Psychologie krankt an den griechischen Oberflächlichkeiten; und ohne das Bischen Judenthum usw. usw. usw. Diesen Winter habe ich auch Rénans Origines12 gelesen, mit viel Bosheit und — wenig Nutzen. Diese ganze Geschichte kleinasiatischer Zustände und sentiments scheint mir auf eine komische Weise in der Luft zu schweben. Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis zur Frage, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? — etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht "feststand?" — Lieber Freund, über das Deutschland, dessen Zeitgenossen wir sind, kein Wort! Ich lese eben Sybels Hauptwerk, in französischer Übersetzung, nachdem ich über die einschlägigen Probleme die Schule von Tocqueville und Taine durchgemacht habe — da finde ich z. B. diesen süperben Gedanken "c'est du régime féodal et non de sa chute, que sont nés l'égoisme, l'avidité, les violences et la cruauté, qui conduisirent aux terreurs des massacres de septembre."13 Ich glaube, das fühlt und weiß sich als "Liberalismus"; gewiß ist, daß ein solcher zur Schau getragener Haß gegen die ganze Gesellschafts-Ordnung des Mittelalters sich vortrefflich mit der rücksichtsvollsten Behandlung der preußischen Geschichte verträgt. Z. B. in Betreff der Theilung Polens. (Kennst Du Montalembert's Moines d'Occident?14 Oder vielmehr: weißt Du etwas Solideres und weniger Parteiisches, als dies Werk, aber mit der gleichen Absicht, die Wohlthaten, welche die europäische Gesellschaft den Klöstern verdankt, in's Licht zu stellen?) Dieser Winter thut mir wohl, wie ein Zwischen-Akt und Zurückschauen. Unglaublich! Ich habe in den letzten 15 Jahren eine ganze Litteratur auf die Beine gestellt und sie schließlich mit Vorreden und Zuthaten so weit "fertig gemacht," daß ich sie als losgelöst von mir betrachte, — daß ich darüber lachen kann, wie ich im Grunde über alles Litteratur-Machen lache. Alles in Allem, so habe ich nur die miserabelsten Jahre meines Lebens dazu verwendet. Treulich Dein alter Freund 1. Overbeck sent Nietzsche his pension.
Nizza, 24. Februar 1887: Glücklicher Weise, lieber Freund, bewies in Deinem eignen Falle Dein Brief ganz und gar nicht quod erat demonstrandum: sonst aber gebe ich Dir Alles zu, die verhängnißvollen Einwirkungen des bedeckten Himmels, der langen feuchten Kälte, der Nähe von Bajovaren und von bairischem Bier — ich bewundre jeden Künstler, der diesen Feinden die Stirn bietet, gar nicht zu reden von der deutschen Politik, welche nur eine andre Art permanenten Winters und schlechten Wetters ist. Mir scheint Deutschland in den letzten 15 Jahren eine förmliche Schule der Verdummung geworden zu sein. Wasser, Quark und Mist weit und breit: das blödsinnige Lächeln des alten Wilhelm1 über diesen Wassern schwebend — so sieht sich das aus der Ferne an. Ich bitte tausend Male um Entschuldigung, wenn ich damit Deine edleren Gefühle verletze, aber vor diesem gegenwärtigen Deutschland, so sehr es auch igelmäßig in Waffen starrt,2 habe ich keinen Respekt mehr. Es repräsentirt die stupideste verkommenste verlogenste Form des "deutschen Geistes," die es bisher gegeben hat — und was hat dieser "Geist" sich schon Alles an Geistlosigkeit zugemuthet! Ich vergebe es Niemanden, der mit ihm seinen Compromiß macht, heiße er selbst Richard Wagner, und namentlich nicht, wenn es so schändlich zweideutig und vorsichtig gemacht wird, wie dies der kluge, allzukluge Verherrlicher der "reinen Thorheit"3 in seinen letzten Jahren bewerkstelligt hat — — Hier, in unserm Sonnenlande — was für andre Dinge haben wir im Kopfe! Eben noch hatte Nizza seinen langen internationalen Carneval (mit Spanierinnen im Übergewichte, beiläufig gesagt) und dicht hinter ihm, sechs Stunden nach seiner letzten Girandola, gab es schon wieder neue und seltener erprobte Reize des Daseins. Wir leben nämlich in der interessanten Erwartung zu Grunde zu gehn — Dank einem wohlgemeinten Erdbeben,4 das nicht nur alle Hunde weit und breit heulen macht. Welches Vergnügen, wenn die alten Häuser über Einem wie Kaffemühlen rasseln! wenn das Tintenfaß selbständig wird! wenn die Straßen sich mit entsetzten halbbekleideten Figuren und zerrütteten Nervensystemen füllen! Diese Nacht machte ich, gegen 2-3 Uhr, comme gaillard,5 der ich bin, eine Inspektionsrunde in den verschiedenen Theilen der Stadt, um zu sehn, wo die Furcht am größten ist — die Bevölkerung campirt nämlich Tags und Nachts im Freien, es sah hübsch militärisch aus. Und nun gar in den Hôtels! wo Vieles eingestürzt ist und folglich eine vollkommene Panik herrscht. Ich fand alle meine Freunde und Freundinnen, erbärmlich unter grünen Bäumen ausgestreckt, sehr flanelliert, denn es war scharf kalt, und bei jeder kleinen Erschütterung düster an das Ende denkend. Ich zweifle nicht, dies macht der Saison ein plötzliches Ende, alles denkt ans Abreisen (gesetzt, daß man fortkommt und daß die Eisenbahnen nicht zu allererst "abgerissen" sind) Schon gestern Abend waren die Gäste des Hôtels, wo ich esse, nicht dazu zu bringen, ihre table d'hôte im Innern des Hauses einzunehmen — man aß und trank im Freien; und abgesehn von einer alten sehr frommen Frau,6 welche überzeugt ist, daß der liebe Gott ihr Nichts zu leide thun darf, war ich der einzige heitere Mensch unter lauter Larven und "fühlenden Brüsten."7 — Eben erwische ich ein Zeitungsblatt, das diese letzte Nacht bei weitem malerischer als Dein Freund vermag Dir zu Gemüthe führen wird. Ich lege es bei,8 lies es, bitte, Deiner lieben Frau vor und behalte mich in gutem Angedenken! Treulich (Verzeih die Eile und Hastigkeit meiner Schrift, aber der Brief soll mit dem nächsten Zuge fort.) 1. A mocking insult of Kaiser Wilhelm I (1797-1888; emperor, 1871-1888); redacted by Elisabeth Förster-Nietzsche in her editions of Nietzsche's correspondence.
Nizza, 7. März 1887: Lieber Freund, soeben empfieng ich, dankbar Ihrer Hülfe eingedenk, die Correktur der "Lieder" — das ist die letzte Correktur, es freut mich dies Ihnen melden zu können.1 Mit dem "fünften Buche," dessen Manuscript seit mehreren Monaten in Fritzschens2 Händen ist und dessen Drucklegung ich selber zu bezahlen gewillt war, scheint besagter Leipziger wenig einverstanden.3 Genug, wir lassen es vor der Hand ungedruckt; vielleicht gehört es seinem Tone und Inhalte nach überdies mehr zu Jenseits von G[ut] und B[öse] und dürfte diesem Werke bei einer zweiten Auflage einverleibt werden —, mit mehr Recht, wie mir jetzt scheint als jener fröhl[ichen] Wissenschaft: so daß zuletzt hinter dem Widerstreben des Verlegers ein "höherer Sinn," ein Stück blauen Himmels von Vernünftigkeit sichtbar wird. Und welcher Verleger dürfte nicht etwas furchtsam sein, nachdem er sich ungeschickter Weise mit meiner Litteratur beschwert hat? Ich habe es noch nicht einmal zu Widersachern gebracht; seit 15 Jahren ist überhaupt über keines meiner Bücher eine tief gemeinte, gründliche, sach- und fachgemäße Recension erschienen — kurz, man muß dem Fritzsch Einiges zu Gute halten. — In welcher Lage wäre ich, gesetzt, daß die zehn Jahre Philologie und Basel in meinem Leben fehlten! — Eben ist ein Philologe mit verwandter Vorgeschichte hier bei mir zum Besuche, ein Dr. Adams,4 aus der Schule Rohde's und v. Gutschmidts [sic]5 erwachsen und von seinen Lehrern sehr gewürdigt, aber — leidenschaftlich degoutirt und gegen alle Philologie eingenommen. Er flüchtet zu mir, "seinem Meister" — denn er will sich schlechterdings der Philosophie weihen; und nun überrede ich ihn langsam, langsam, keine Dummheiten zu machen und sich durch keine falschen Vorbilder fortreißen zu lassen. Ich glaube, es gelingt mir, ihn zu "enttäuschen." — Dabei erfuhr ich, wie selbst im Tübinger Stift meine Schriften heimlich und gierig verschluckt werden; ich gelte dort als einer der "negativsten Geister." — Dr. Adams ist halb Amerikaner, halb Schwabe. — Mit Dostoiewsky ist es mir gegangen wie früher mit Stendhal: die zufälligste Berührung, ein Buch, das man in einem Buchladen aufschlägt, Unbekanntschaft bis auf den Namen — und der plötzlich redende Instinkt, hier einem Verwandten begegnet zu sein.6 Bis jetzt weiß ich noch wenig über seine Stellung, seinen Ruf, seine Geschichte: er ist 1881 gestorben. In seiner Jugend war er schlimm daran: Krankheit, Armut, bei vornehmer Abkunft; mit 27 Jahren zum Tode verurtheilt, auf dem Schaffot noch begnadigt, dann 4 Jahre Sibirien, in Ketten, inmitten schwerer Verbrecher. Diese Zeit war entscheidend: er entdeckte die Kraft seiner psychologischen Intuition, mehr noch, sein Herz versüßte und vertiefte sich dabei — sein Erinnerungs-Buch an diese Zeit "la maison des morts" ist eins der "menschlichsten" Bücher, die es giebt.7 Was ich zuerst kennen lernte, eben in französischer Übersetzung erschienen, heißt l'esprit souterrain,8 zwei Novellen enthaltend: die erste eine Art unbekannter Musik, die zweite ein wahrer Geniestreich der Psychologie — ein schreckliches und grausames Stück Verhöhnung des ,9 aber mit einer leichten Kühnheit und Wonne der überlegenen Kraft hingeworfen, daß ich vor Vergnügen dabei ganz berauscht war. Inzwischen habe ich noch, auf Overbeck's Empfehlung hin, den ich in meinem letzten Briefe befragte, Humiliés et offensés10 gelesen (das Einzige, was O[verbeck] kannte), mit dem größten Respekt vor dem Künstler Dostoiewsky. Auch merke ich bereits, wie die jüngste Generation von Pariser Romandichtern von dem Einflusse und der Eifersucht auf D[ostojewsky] vollständig tyrannisirt wird (zb. Paul Bourget).11 — Ich bleibe bis zum 3. April, hoffentlich ohne noch weitere Bekanntschaft mit dem Erdbeben12 zu machen: jener Dr. Falb13 nämlich warnt vor dem 9. März, wo er eine Recrudescenz der Erscheinungen für unsre Gegend erwartet, insgleichen vor dem 22. und 23. März. Bisher bin ich kaltblütig genug dabei geblieben und habe mitten unter tollgewordnen Tausenden mit dem Gefühl der Ironie und der kalten Neugierde gelebt. Aber man kann nicht für sich gut sagen: vielleicht bin ich in wenig Tagen unvernünftiger als irgend Jemand. Das Plötzliche, das imprévu hat seine Reize ... Wie geht es Ihnen? Nein, wie mich Ihr letzter Brief erquickt hat! Sie sind so tapfer! Treulich Ihr Freund N. 1. For the new edition of Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science).
Nizza, 23. März 1887: Geehrtester Herr, Sie erweisen mir in Ihrem eben angelangten Briefe1 so viel Ehre, daß ich nicht umhin kann, Ihnen noch eine Stelle aus meiner Litteratur zu verrathen, die sich mit den Juden beschäftigt: sei es auch nur, um Ihnen ein doppeltes Recht zu geben, von meinen "schiefen Urtheilen" zu reden. Lesen Sie, bitte, "Morgenröthe" p. 194.2 Die Juden sind mir, objektiv geredet, interessanter als die Deutschen: ihre Geschichte giebt viel grundsätzlichere Probleme auf. Sympathie und Antipathie bin ich gewohnt bei so ernsten Angelegenheiten aus dem Spiele zu lassen: wie dies zur Zucht und Moralität des wissenschaftlichen Geistes und — schließlich — selbst zu seinem Geschmack gehört. Ich gestehe übrigens, daß ich mich dem jetzigen "deutschen Geiste"" zu fremd fühle, um seinen einzelnen Idiosynkrasien ohne viel Ungeduld zusehn zu können. Zu diesen rechne ich in Sonderheit den Antisemitismus. Der auf S. 6 Ihres geschätzten Blattes gerühmten "klassischen Litteratur" dieser Bewegung verdanke ich sogar manche Erheiterung: oh wenn Sie wüßten, was ich im vorigen Frühling über die Bücher jenes ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs, der Paul de Lagarde heißt, gelacht habe! Es fehlt mir offenbar jener "höchste ethische Standpunkt," von dem auf jener Seite die Rede ist.3 Es bleibt nur übrig, Ihnen für die wohlwollende Voraussetzung zu danken, daß ich nicht "durch irgend eine gesellschaftliche Rücksichtnahme zu meinen schiefen Urtheilen verführt" bin; und vielleicht dient es zu Ihrer Beruhigung, wenn ich zuletzt noch sage, daß ich unter meinen Freunden keinen Juden habe. Allerdings auch keine Antisemiten.4 Giebt mein Leben irgend eine Wahrscheinlichkeit dafür ab, daß ich von irgend welchen Händen "die Schwingen verschneiden lasse"? — Mit diesem Fragezeichen empfehle ich mich Ihrem ferneren Wohlwollen — und Nachdenken ... Ihr ergebenster Ein Wunsch: geben Sie doch eine Liste5 deutscher Gelehrter, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Virtuosen von jüdischer Abkunft oder Herkunft heraus! (Es wäre ein werthvoller Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur (auch zu deren Kritik!)6 1. Unfortunately, Fritsch's letter is lost and we can only glean its contents from the brief sarcastic quotations by Nietzsche.
Nizza, 24. März 1887: Lieber Freund, eben erhalte ich Deine Nachrichten, — und in Anbetracht, daß ich Ende nächster Woche von hier fort will (auch fort muß), — so giebt es einen Grund mehr, Dir sofort zu antworten. Ich wünschte schreiben zu können: "auf Wiedersehn!," aber meine Gesundheit verbietet mir einstweilen Zürich1 und was damit zusammenhängt: ich bin sonderbar angegriffen, die ganze Zeit über, müde, geistig und leiblich unlustig und zu Nichts nutz, auch gegen Lärm und das ganze kleine Ärgerniß des Lebens so ungeduldig, daß ich mich in Etwas ganz Stilles und Abgezogenes flüchten will: nämlich in einen waldigen und spaziergeherischen Ort am Lago maggiore — Canobbio [sic]2 mit Namen. In der Nähe davon steht ein mir gut empfohlenes Pensionshaus Villa Badia; die Besitzer sind Schweizer. Dorthin habe ich mich für den 4. April angemeldet. Venedig, das um diese Zeit des herankommenden Frühlings die Tradition für sich hat, auch meine ernsthafte Liebe (der einzige Ort auf Erden, den ich liebe) ist mir jedes Jahr schlecht bekommen: der Grund liegt in ganz bestimmten meteorologischen Faktoren, die mir nur zu gut bekannt sind. — Ist es möglich, daß ich etwa am Mittwoch oder Donnerstag nächster Woche die 1000 frs.3 in den Händen habe? — Ein Dr. Adams4 ist, seit einem Monat etwa, hier, ein anscheinend begabter und tüchtiger Philologe aus der Schule Rohde's und Gutschmidts [sic],5 aber an aller Philologie leidenschaftlich degoutirt und durchaus entschlossen, sich der Philosophie zu weihen: weshalb er seine Wallfahrt hierher, zu seinem "Meister," gemacht hat. Vielleicht gelingt es mir, ihn zu enttäuschen und aus der Unklarheit solcher Absichten herauszuziehn: ich führe ihn sanft zur Geschichte der Philosophie hinüber (er hat bisher "de fontibus Diodori"6 gearbeitet), — es ist bereits nicht unmöglich, daß er meine im Stich gelassenen Laërtiana7 wieder aufnimmt! Das Ganze ist übrigens für mich eine Strapaze, die mich an eine frühere Strapaze (Tautenburger Sommer 1882)8 erinnert; und zuletzt kenne ich die Welt genug, um zu wissen, was in dergleichen Fällen "der Welt Lohn" ist. — Die "jungen Leute" sind mir zuwider. — Anbei ein komisches Faktum, das mir mehr und mehr zum Bewußtsein gebracht wird. Ich habe nachgerade einen "Einfluß," sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht. Bei allen radikalen Parteien (Socialisten, Nihilisten, Antisemiten, christl[ichen] Orthodoxen, Wagnerianern) genieße ich eines wunderlichen und fast mysteriösen Ansehens. Die extreme Lauterkeit der Atmosphäre, in die ich mich gestellt habe, verführt ... Ich kann meine Freimüthigkeit selbst mißbrauchen, ich kann schimpfen, wie es in meinem letzten Buche9 geschehn ist — man leidet darunter, man "beschwört" mich vielleicht, aber man kommt nicht von mir los. In der "antisemitischen Correspondenz" (die nur privatim versandt wird, nur an "zuverlässige Parteigenossen") kommt mein Name fast in jeder Nummer vor. Zarathustra "der göttliche Mensch" hat es den Antisemiten angethan; es giebt eine eigne antisemitische Auslegung davon, die mich sehr hat lachen machen.10 Beiläufig: ich habe "an zuständiger Stelle" den Vorschlag gemacht, ein sorgfältiges Verzeichniß der deutschen Gelehrten Künstler Schriftsteller Schauspieler Virtuosen von ganz- oder halbjüdischer Abkunft herzustellen: das gäbe einen guten Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur, auch zu deren Kritik.11 (Bei dem Allen bleibt, unter uns gesagt, mein Schwager völlig aus dem Spiele; ich verkehre mit ihm sehr höflich, aber fremd, und so selten als möglich. Seine Unternehmung in Paraguay prosperirt übrigens; meine Schwester gleichfalls.)12 Gesetzt, daß es mir in Canobbio [sic] nicht besser geht, gedenke ich einen Versuch mit einer kleinen Kaltwasserkur in Brestenberg zu machen. Ach, es ist Alles so unsicher und wacklig in meinem Leben; und dabei diese abscheuliche Gesundheit! Die Nöthigung andererseits liegt auf mir mit dem Gewicht von hundert Centnern, einen zusammenhängenden Bau von Gedanken in den nächsten Jahren aufzubauen — und dazu brauche ich fünf sechs Bedingungen, die mir alle noch fehlen und selbst unerreichbar scheinen! — Der vierte Stock der Pension de Genève, in dem der 3. und 4. Theil meines Zarathustra entstanden ist, wird jetzt völlig abgetragen, nachdem ihn das Erdbeben gründlich durcheinandergeschüttelt hat. Diese "Vergänglichkeit" thut mir wehe. — Der Boden zittert immer noch gelegentlich. — Mit herzlichem Gruß und Wunsch, auch an Deine liebe Frau, Dein Nietzsche (Hoffentlich giebt es gute Nachrichten aus Teneriffa?)13 Lecky habe ich selbst in Besitz: aber solchen Engländern fehlt "der historische Sinn" und auch noch einiges Andre. Das Gleiche gilt von dem sehr gelesenen und übersetzten Amerikaner Draper. — 14 1. They were planning to visit Zurich to attend a performance of "Mizka-Czardàs," a composition by Heinrich Köselitz that Nietzsche had promised to present to his friend Friedrich Hegar (1841-1927). Hegar, whom Nietzsche had met while visiting Richard Wagner, was the founder and director of the music conservatory in Zurich, the conductor of the Zurich Symphony, and a close friend of the German composer, Johannes Brahms (1833-1897). Overbeck and Nietzsche eventually got together on May 1.
Nizza, 27. März 1887: Lieber Freund, ich bin augenleidend: Vergebung, wenn ich nur mit einem Kärtchen mich bedanke, für Brief und die eben eintreffende Dostoijewsky-Übersetzung.1 Es freut mich, daß Sie, muthmaaßlich, zuerst dasselbe von ihm gelesen haben wie ich, — "die Wirthin" (französisch als erster Theil des Romans l’esprit Souterrain)[.]2 Ich sende Ihnen dagegen "Humiliés et offensés"3: die Franzosen übersetzen delikater als der greuliche Jüd Goldschmidt4 (mit seinem Synagogen-Rhythmus) — Seltsam! Inzwischen habe ich mir eingebildet, daß Sie zu Ihrer Nausicaa5 zurückgekehrt sind: und ich habe Ihnen schon Glück und Heil dazu gewünscht, im Traume natürlich, — und mir gleichfalls: denn mein Bedürfniß nach einer goldenen gesättigten gereinigten leuchtenden Kunst ist heftig geworden wie ein Durst. — Es giebt doch noch Druckbogen: helfen Sie, lieber Freund!6 — Sonntag den 3. April reise ich ab; meine Adresse von da an: Canobbio [sic]7 (Lago maggiore) Villa Badia. Italia. Treulich Ihr Freund N. 1. Erzählungen. F.M. Dostojewskij. Frei nach dem Russischen von Wilhelm Goldschmidt. Leipzig: Philipp Reclam, [1886]. [Series: Universal-Bibliothek, 2126. Contents: Einleitung [Translator's introduction (2 pp.)]. Die Wirtin [The Landlady]. Christbaum und Hochzeit [A Christmas Tree and a Wedding]. Helle Nächte [White Nights]. Weihnacht [The Little Boy at Christ's Christmas Tree]. Der ehrliche Dieb [An Honest Thief].]
Nizza, 29. März 1887: Sehr geehrter Herr, hiermit sende ich Ihnen die drei übersandten Nummern Ihres Correspondenz-Blattes1 zurück, für das Vertrauen dankend, mit dem Sie mir erlaubten, in den Principien-Wirrwarr auf dem Grunde dieser wunderlichen Bewegung einen Blick zu thun. Doch bitte ich darum, mich fürderhin nicht mehr mit diesen Zusendungen zu bedenken: ich fürchte zuletzt für meine Geduld. Glauben Sie mir: dieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den Werth von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter "Autoritäten," welche von jedem besonneneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z. B. E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde — wer von ihnen ist in Fragen der Moral und Historie der unberechtigtste, ungerechteste?),2 diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe "germanisch," "semitisch," "arisch," "christlich," "deutsch" — das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen und aus dem ironischen Wohlwollen herausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäismen der jetzigen Deutschen zugesehen habe. — Und zuletzt, was glauben Sie, das ich empfinde, wenn der Name Zarathustra3 von Antisemiten in den Mund genommen wird? ... Ihr ergebenster 1. Antisemitische Correspondenz und Sprechsaal für innere Partei-Angelegenheiten.
Cannobio, 14. April 1887: Lieber Freund, seit dem 3. April bin ich hier am Lago maggiore,1 das Geld2 kam noch zur rechten Zeit in meine Hände, auch war es mir lieb, daß Du nicht Alles schicktest: denn auch heute weiß ich noch nicht genau, wo ich den Sommer verleben werde. Mein altes Sils-Maria muß, wie ich mir ungern eingestehe, ad acta gelegt werden, ebenso wie Nizza: es fehlt mir jetzt an beiden Orten jene erste und wesentlichste Bedingung, die Einsamkeit, die tiefe Ungestörtheit, Abseitigkeit, Fremdheit, ohne welche ich nicht zu meinen Problemen hinunter kann (denn, unter uns gesagt, ich bin in einem geradezu erschrecklichen Sinn ein Mensch der Tiefe; und ohne diese unterirdische Arbeit halte ich das Leben nicht mehr aus) Mein letzter Winter in Nizza ist zur Marter geworden, ebenso wie mein letzter Aufenthalt in Sils: weil mir jene stille Verborgenheit abhanden gekommen ist, welche eine Existenz-Bedingung für mich ist, auch der einzige Weg, es zur Gesundheit zu bringen. Es ist von Jahr zu Jahr wieder schlechter gegangen mit dieser Gesundheit; und sie ist ein zuverlässiger Maaßstab für mich, ob ich auf meinen Wegen bin — oder auf denen Anderer. Die Probleme, die auf mir liegen, denen ich nicht mehr ausweiche (was habe ich alle Ausweichungen büßen müssen! Z. B. meine Philologie) vor denen ich wörtlich bei Tag und Nacht keine Ruhe habe — sie nehmen für jede fehlerhafte Beziehung (zu Menschen, Orten, Büchern) eine grausame Vergeltung. Ich sage das Dir ins Ohr, denn wie dürfte ich voraussetzen, daß die absonderlichen Voraussetzungen meines Schaffens sich von selber verstünden? Es scheint mir, daß ich gegen Menschen zu mild, zu rücksichtsvoll bin, auch werde ich, wo ich nur gelebt habe, alsbald so sehr von Menschen in Anspruch genommen, daß ich mich zuletzt gegen sie nicht mehr zu vertheidigen weiß. Diese Überlegung hindert mich z. B. es einmal mit München* zu versuchen, wo eine Menge Wohlwollen für mich parat liegt,3 wo aber Niemand lebt, der Ehrfurcht vor den ersten und wesentlichsten Bedingungen meines Daseins hätte — oder gar Willens wäre, sie mir zu schaffen. Nichts agaçirt die Menschen so sehr als merken zu lassen, daß man sich mit einer Strenge behandelt, der sie sich selber nicht gewachsen fühlen. Es giebt für mich gar nichts Lähmenderes, Entmuthigenderes als hinein in das jetzige Deutschland zu reisen und mir die vielen gutartigen Personen näher anzusehn, welche sich mir "wohlgesinnt" glauben. Einstweilen fehlt eben alles Verständniß für mich; und, wenn mich ein Wahrscheinlichkeits-Schluß nicht trügt, so wird es vor 1901 nicht anders werden. Ich glaube, man hielte mich einfach für toll, wenn ich verlauten ließe, was ich von mir selber halte. Es gehört zu meiner "Humanität," die allgemeine Unklarheit über mich bestehn zu lassen: ich würde meine achtbarsten Freunde gegen mich erbittern und Niemandem damit wohlthun. Inzwischen habe ich ein tüchtiges Stück Arbeit abgethan, mit der Revision und Neu-Herausgabe meiner älteren Schriften. Gesetzt, es wäre bald mit mir zu Ende — und ich verschweige nicht ein immer tieferes Verlangen nach dem Tode — so bleibt Etwas von mir zurück, ein Stück Cultur, das einstweilen durch kein andres sich ersetzen läßt. (Diesen Winter habe ich mich reichlich in der europäischen Litteratur umgesehn, um jetzt sagen zu können, daß meine philosophische Stellung bei weitem die unabhängigste ist, so sehr ich mich auch als Erbe von mehreren Jahrtausenden fühle: das gegenwärtige Europa hat noch keine Ahnung davon, um welche furchtbaren Entscheidungen mein ganzes Wesen sich dreht, und an welches Rad von Problemen ich gebunden bin — und daß mit mir eine Katastrophe sich vorbereitet, deren Namen4 ich weiß, aber nicht aussprechen werde.) Nimm an, lieber Freund, daß ich etwa bis Ende April noch hier bleibe. Wie erreiche ich von hier jenes Brestenberg, wo ich gerne eine Massage-Kur durchmachen möchte (Monat Mai)? Auch Mammern ist mir empfohlen.5 Ich lege einen Brief meines Venediger Corrector's6 bei, wir sind eifrig beim Druck der fröhl[ichen] Wissenschaft. Aus dem Briefe magst Du auch meine Entschuldigung entnehmen, wenn ich meine Einladung nach Zürich, zum Anhören des Mizka-Czardàs, hiermit zurückziehn muß.7 Jedenfalls möchte ich Dich in diesem Frühjahr ein Mal sprechen. Treulich Dein Freund Adresse: Cannobio (Lago maggiore) Villa Badia In der Fremdenliste der Villa Badia von 1885 finde ich: Mademoiselle Maria Overbeck, de Dresde8. Herzlichen Gruß an Deine liebe Frau und Dank für die guten Nachrichten aus Teneriffa.9 Die Reise hierher, sehr winterlich, unterbrochen (wie alle meine Reisen) durch einen heftigen Ausbruch meines Kopfleidens. In Laveno eine entsetzliche eiskalte Nacht mit beständigem Erbrechen. — Vorgestern und gestern Wiederholung des Krankheits-Anfalls. Heute Erleichterung. * Ich habe einen Ort mit einer großen Bibliothek10 für meine „Zwischenakte“ nöthig; zuletzt habe ich an Stuttgart gedacht. Man hat mir die sehr liberalen Statuten der Stuttgarter Bibliothek übersandt. 1. In northern Italy.
Zürich, 4. Mai 1887: Lieber Freund, Dein Besuch1 war mir eine wahre Erquickung, ich danke Dir von Herzen dafür. Übrigens bleibt es dabei, daß Zürich zu sonnig und zu unruhig für mich ist: ich verlasse es in den nächsten Tagen. — Bleibtreu2 giebt mir eine bittre Empfindung: ein Deutschland, in dem das die Unzufriednen sind, ist gewiß nicht meine Heimat und noch viel weniger meine Hoffnung! — Am gleichen Tage las ich einen unzufriednen Franzosen, einen Unabhängigen (denn zu seinem Katholicismus gehört jetzt mehr Unabhängigkeit als zur Freidenkerei): Barbey d'Aurevilly, Oeuvres et hommes. Sensations d’histoire.3 Lies ihn, auf meine Verantwortung: er gehört auf die Lesegesellschaft.4 (Als romancier ist er mir nicht erträglich.) Danke insgleichen für die Mutter Bertz5 und die vortrefflichen Zahnbürsten. Adresse vorläufig Chur, poste restante. Treulich und in Liebe Dein N. 1. Overbeck visited Nietzsche in Zurich from April 30 to May 1, 1887. Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Chur, 12. Mai 1887: Hochverehrte Freundin. Seltsam! Was Sie zuletzt mir mit solcher Güte ausdrückten, ob es nicht für uns Beide jetzt fruchtbar und erquicklich sein müßte, unsre zwei Einsamkeiten wieder einmal in die allernächste herzlichste Nachbarschaft zu rücken, das habe ich selbst oft genug in der letzten Zeit gedacht und gefragt. Noch Einen winter mit Ihnen zusammen, vielleicht gar von Trina gemeinsam gepflegt und gewartet — das ist in der That eine äußerst verlockende Aussicht und Perspektive, für die ich Ihnen nicht genug Dank sagen kann! Am liebsten schon noch einmal in Sorrent1 ( sagen die Griechen: "alles Gute zwei Mal, drei Mal!") Oder in Capri — wo ich Ihnen wieder Musik machen will, und bessere als damals! Oder in Amalfi, oder Castellammare. Zuletzt selbst in Rom (obschon mein Mißtrauen gegen römisches Klima und gegen die großen Städte überhaupt auf guten Gründen steht und nicht leicht umzuwerfen ist) Die Einsamkeit mit der einsamsten Natur war bisher mein Labsal, mein Mittel der Genesung: solche Städte des modernen Treibens wie Nizza, wie sogar schon Zürich (von wo ich eben komme) machen mich auf die Dauer reizbar, traurig, ungewiß, verzagt, unproduktiv, krank. Von jenem stillen Aufenthalte da unten habe ich eine Art Sehnsucht und Aberglauben zurückbehalten, wie als ob ich dort, wenn auch nur ein Paar Augenblicke, tiefer aufgeathmet hätte als irgendwo sonst im Leben. Zum Beispiel bei jener allerersten Fahrt in Neapel, die wir zusammen nach dem Posilipp2 zu machten. — — Am Ende, Alles erwogen, sind Sie allein mir zu einem solchen Wunsche übrig geblieben: im Übrigen fühle ich mich zu einer Einsamkeit und Burg verurtheilt. Da giebt es keine Wahl mehr. Das, was mich noch leben heißt, eine ungewöhnliche und schwere Aufgabe, heißt mich auch den Menschen aus dem Wege zu gehn und mich an Niemanden mehr anzubinden. Es mag die extreme Lauterkeit sein, in die mich eben jene Aufgabe gestellt hat, daß ich nachgerade "die Menschen" nicht mehr riechen kann, am wenigsten die "jungen Leute," von denen ich gar nicht selten heimgesucht werde (— oh, sie sind zudringlich-täppisch, ganz wie junge Hunde!) Damals, in der Sorrentiner Einsamkeit, waren mir B[renner] und R[ée] zu viel: ich bilde mir ein, daß ich damals gegen Sie sehr schweigsam gewesen bin, selbst über Dinge, über die ich zu Niemandem lieber geredet hätte als zu Ihnen. Auf meinem Tische liegt die neue Auflage (die zweibändige) von Menschliches, Allzumenschliches,3 deren erster Theil damals ausgearbeitet wurde — seltsam! seltsam! gerade in Ihrer verehrungswürdigen Nähe! In den langen "Vorreden," welche ich für die Neuherausgabe meiner sämmtlichen Schriften nöthig befunden habe, stehen kuriose Dinge von einer rücksichtslosen Aufrichtigkeit in Bezug auf mich selbst: damit halte ich mir "die Vielen" ein für alle Mal vom Leibe, denn nichts agaçirt die Menschen so sehr als etwas von der Strenge und Härte merken zu lassen, mit der man sich selbst, unter der Zucht seines eigensten Ideals, behandelt und behandelt hat. Dafür habe ich meine Angel nach "den Wenigen" ausgeworfen, zuletzt auch dies ohne Ungeduld: denn es liegt in der unbeschreiblichen Fremdheit und Gefährlichkeit meiner Gedanken, daß erst sehr spät — und gewiß nicht vor 1901 — die Ohren sich für diese Gedanken aufschließen werden. Nach Versailles4 zu kommen — ach wäre es nur irgendwie mir möglich! Denn ich verehre den Kreis Menschen, den Sie dort vorfinden (sonderbares Bekenntniß für einen Deutschen: aber ich fühle mich im heutigen Europa nur den geistigsten Franzosen und Russen verwandt, und ganz und gar nicht meinen gebildeten Landsleuten, die alle Dinge nach dem Princip "Deutschland, Deutschland über Alles" beurtheilen) Aber ich muß wieder in die kalte Luft des Engadins: der Frühling setzt mir unglaublich zu: ich mag gar nicht eingestehn, bis in welche Abgründe von Muthlosigkeit ich mich unter seinem Einflusse verirre. Mein Leib fühlt sich (wie übrigens auch meine Philosophie) auf die Kälte als sein conservirendes Element angewiesen — das klingt paradox und ungemüthlich, ist aber die bewiesenste Thatsache meines Lebens. — Damit verräth sich zuletzt keineswegs eine "kalte Natur": das verstehen Sie gewiß, meine hochverehrte und treue Freundin! … In alter Liebe und Dankbarkeit Ihr Frl. Salomé hat mir gleichfalls die Verlobung mitgetheilt; aber auch ich habe ihr nicht geantwortet, so aufrichtig ich ihr Glück und Gedeihen wünsche. Dieser Art Mensch, der die Ehrfurcht fehlt, muß man aus dem Wege gehn. Wer Dr. Andreas ist, weiß Niemand mir zu sagen.5 — In Zürich habe ich das vortreffliche Fräulein von Schirnhofer aufgesucht, eben von Paris zurückkehrend, über ihre Zukunft, Absicht, Aussicht ungewiß, aber, gleich mir, für Dostoiewsky schwärmend.6 1. From October 1876 to May 1877, Paul Rée, Nietzsche, and his student Albert Brenner, stayed with Malwida von Meysenbug in Sorrento at the Villa Rubinacci.
Chur, Rosenhügel 13. Mai 1887: Lieber Freund, bis jetzt giebt es nichts Gutes zu vermelden, meine Versuche unterwegs sind allesammt mißrathen; ich habe mich hier, einen Sprung weit von Chur, im Hause eines Lehrers1 festgesetzt und warte die Zeit ab, wo man ins Engadin abreisen kann, ohne daselbst zu erfrieren. Jedenfalls warte ich den 10. Juni ab. Trübes feuchtes Wetter, gelegentlich sogar Wintertage; eine entsprechende Trübsal bei mir, Muthlosigkeit, Fragezeichen ohne Antworten, keine "Wünsche" selbst, nirgends etwas Erfreuliches am Horizonte, weder Mensch, noch Buch, noch Musik, alle animalischen Funktionen gedrückt, die Augen beständig schmerzhaft, das Spazierengehn eine Last, insofern ich eigentlich zu müde dazu bin, aber nichts anderes "zu thun" habe. Ebenso stand es voriges Jahr in Naumburg, ebenso die früheren Jahre in Venedig: es scheint, daß der Frühling mein Feind ist? Leider auch der Herbst; und wahrscheinlich würde es auch der Sommer sein, wenn ich ihn mir nicht zu einem räsonabeln Winter umgeschaffen hätte (denn der Durchschnittsgrad des Engadiner Sommers, 10 Grad Celsius, entspricht dem Januar in Nizza) Unser Zusammensein in Zürich2 war das gute Erlebniß der ganzen letzten Monate: ich sage Dir nochmals meinen besten Dank dafür. Gestern habe ich an Rohde in Angelegenheiten des Dr. Adams3 geschrieben: letzterer wünscht irgendwo eine kleine Stellung und Beschäftigung an einer Bibliothek. Gesetzt, daß Du selbst etwas dergleichen weißt, so habe die Güte, es mir gelegentlich mitzutheilen. — Natürlich hatte der genannte "junge Mann," als ich ihn am Tage vor meiner Abreise gerade noch erwischte, ganz und gar kein Geld (ich sagte Dir, daß er mir etwas schuldig ist) Die "jungen Leute" sind mir zur Last, in Sonderheit, wenn sie als Verehrer meiner Litteratur zu mir kommen. Denn es liegt auf der Hand, daß das keine Litteratur für "junge Leute" ist. — Beiläufig: der Druck bei Fritzsch4 stockt wieder, Gründe nicht klar; aber ich bin zum Mißtrauen jetzt leider zu gut präparirt. — Ich lege eine "Recension"5 meines letzten Buches bei, die, ganz ausnahmsweise, dies Mal in meine Hände gelangt ist. (Meine Verleger haben im Allgemeinen die Weisung, mich mit dergleichen zu verschonen) "Nord und Süd": ist das nicht das Blatt des Paul Lindau? — Was mir immer an deutschen Bücher-Anzeigen auffällt, ist die Stumpfheit des Blicks für das eigentlich Charakteristische und "In die Augen-Springende" eines Buchs. Dieser Recensent z. B. ist ersichtlich beim Lesen in Zweifel darüber gewesen, ob es sich nicht am Ende um eine "witzige Persiflage" handelt: während Taine,6 wie es sich von selbst versteht, zu allererst an meinem Buche das "Tief-Leidenschaftliche" empfand. — Ich lege auch noch ein andres Aktenstück bei: die "Proklamation"7 meines Schwagers in Sachen Paraguays. Es scheint in der That, daß meine Angehörigen sehr stolz und glücklich über ihre nunmehr vollendete Besitzergreifung sind: das Land, groß wie ein kleines Fürstenthum (12 Quadrat-Meilen) enthält herrlichen Hochwald, und alle Arten edlen Nutzholzes: man ist auf Holzhandel mit dem holzarmen Argentinien angewiesen und hat dazu eine Wasserstraße. Bis jetzt ist Alles sehr gut gegangen, von Seiten der dortigen Regierung ist der Dr. Förster in aller Weise ausgezeichnet worden, und meine Schwester hat viel zu thun gehabt, weil ihr Haus eine Art Rendez-vous der Sozietät von Parag[uay] geworden war, wo man spanisch, englisch, deutsch, französisch redete und selten unter 14 Personen zu Tische saß. Die neueste Acquisition ist ein deutscher Bäcker und ein deutscher Fleischer, insgleichen ein sehr zu schätzender deutscher Arzt. Zuletzt sende ich Dir auch noch den "Bleibtreu"8 zurück, dem ich nicht einen Augenblick treu bleiben möchte: ich kann durchaus nicht ersehen, daß seine Prätensionen auf wirkliche Qualitäten gegründet sind: so sehr ich auch gewohnt bin, bei "jungen Leuten" mich nicht ohne Weiteres durch die Prätension als solche schon abschrecken zu lassen. Für einen Menschen, der für nichts als für "Litteratur" Sinn und Auge hat, schreibt dieser Bl[eibtreu] wie ein Schwein inmitten des allergewöhnlichsten Zeitungs-Düngers, vollkommen stumpf gegen alle nuances der Worte; sein Zorn überredet nicht, sein Witz geht nicht über das hinaus, was man "Geschnotter" nennt — und gar sein Hintergrund von Philosophie! Selbst keine Aesthetik! Byron und Skott im jetzigen Deutschland!9 Damit verträglich die Verehrung Zola's!10 Und welche psychologische Armseligkeit, zb. in dem kurzen Abweise, mit dem er das letzte Werk Dostojewsky's bedenkt!11 (Gerade daß die höchste psychologische Mikroscopie und Feinsichtigkeit noch ganz und gar nichts zum Werthe eines Menschen hinzuthut, das ist ja eben das Problem D[ostojewsky]'s, das ihn am meisten interessirt: wahrscheinlich weil er es in russischen Verhältnissen zu oft aus der Nähe erlebt hat! (Ich empfehle dafür übrigens das zuletzt ins Französische übersetzte kleine Werk D[ostojewsky]'s "l'esprit souterrain"12 dessen zweiter Theil jenes sehr thatsächliche Paradoxon auf eine beinahe fürchterliche Weise illustrirt). — Adieu, mein lieber Freund! Und die herzlichsten Grüße an Deine Frau! Treulich NB. Ich mache eine kleine Kur mit Karlsbader Salz frühmorgens (— wovor hat man sich da diätetisch in Acht zu nehmen? Ich denke vor Saurem, vor Butter, Obst usw?) 1. For more info on Nietzsche's stay in Chur, see "Nietzsche in Graubünden. Eine Saison-Erinnerung." In: Der freie Rätier. August 13, 1911.
Sils-Maria, 28. Juni 1887: Hochgeehrter Herr Doktor, vorigen Sommer haben Sie mich in keinen kleinen Schrecken versetzt: ich fand eines Tages hierselbst im Café die vortrefflichen Einwohner von Sils über ihren regelmäßigen Sommer-Gast stutzig und nachdenklich geworden, — sie hatten allesammt den Bund gelesen.2 "Wie! dieser anscheinend so harmlose Einsiedler und Höhlenbär ist also im Grunde etwas ganz Gefährliches?" — Das las ich in Aller Augen. Ich selbst, nachdem auch ich den Bund gelesen, hatte freilich einen andren Eindruck: nämlich als ob ich über mich etwas sehr Liebenswürdiges und Wohlwollendes gelesen hätte. Ein paar Aeußerungen, die sich im Munde des Redacteurs eines demokratischen Blattes ganz von selbst verstanden, habe ich vielleicht überhört oder vergessen — in der Hauptsache muß ich Ihnen dankbar bezeugen, nach Jahresfrist nunmehr, daß Ihre Besprechung jedenfalls bei Weitem die "intelligenteste" Besprechung gewesen ist, die dieses unsympathische Buch bisher erfahren hat. Die Dichter sind nun einmal "divinatorische" Wesen: ein solches Räthselbuch wird zuletzt immer noch eher von einem Dichter errathen und "aufgeknackt," als von einem sogenannten Philosophen und "Fachmann." Zum Danke dafür erlaube ich mir, Ihnen ein älteres Buch3 von mir zu überreichen, das eben jetzt neu erscheint, mehrfach verändert und verbessert (oder verbösert?) — in der Annahme, daß es Ihnen unbekannt geblieben ist. Vielleicht erscheint es Ihrem Geschmacke im Ganzen annehmbarer und erquicklicher, als jenes "Jenseitige" vom letzten Jahre. Doch mag es ebenfalls "ein gefährliches Buch" sein: wenigstens hat mir gerade das seiner Zeit Gottfried Keller in artigster Weise brieflich zu Gemüthe geführt.4 Mit hochachtungsvollem Gruße Ihr ergebenster 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund.
Sils-Maria, 4. Juli 1887: Hochverehrter Herr! es gäbe so viele Gründe für mich, Ihnen Dank zu sagen: für die nachsichtige Güte Ihres Briefes, in dem die Worte über Jakob Burckhardt2 mir besonders erquicklich zu Ohren klangen; für Ihre unvergleichlich starke und einfache Charakteristik Napoleon's in der Revue,3 deren ich in diesem Mai beinahe zufällig habhaft wurde (ich war zuletzt nicht übel auf sie vorbereitet durch ein neuerdings erschienenes Buch4 Ms. Barbey d'Aurevilly's, dessen Schlußkapitel — über neuere Napoleon-Litteratur — wie ein langer Schrei des Verlangens klang — wonach doch? Unzweifelhaft gerade nach einer solchen Erklärung und Auflösung jenes ungeheuren Problems von Unmensch und Uebermensch,5 wie Sie sie uns gegeben haben). Ich will auch das nicht vergessen, daß ich mich freute, Ihrem Namen in der Widmung des letzten Romans von Mr. Paul Bourget6 zu begegnen: obwohl ich das Buch nicht mag — es wird Mr. B[ourget] niemals möglich sein, ein wirkliches physiologisches Loch in der Brust eines Mitmenschen glaubwürdig zu machen (dergleichen ist für ihn bloß quelque chose arbitraire, wovon ihn sein delikater Geschmack hoffentlich fürderhin fernhalten wird. Aber es scheint, daß der Geist Dostoiewskys7 diesen Pariser Romanciers keine Ruhe läßt?) Und nun seien Sie so geduldig, verehrter Herr, und lassen Sie sich die Ueberreichung von zweien meiner Bücher8 gefallen, die eben in neuen Auflagen erschienen sind. Ich bin ein Einsiedler, Sie werden es wissen, und bekümmere mich nicht viel um Leser und um Gelesenwerden, doch hat es mir seit meinen zwanziger Jahren (ich bin jetzt 43) niemals an einzelnen ausgezeichneten und mir sehr zugethanen Lesern gefehlt (es waren immer alte Männer), darunter zum Beispiel Richard Wagner, der alte Hegelianer Bruno Bauer,9 mein verehrter College Jacob Burckhardt und jener Schweizer Dichter, den ich für den einzigen lebenden deutschen Dichter halte, Gottfried Keller.10 Ich hätte eine große Freude daran, wenn ich auch den von mir am meisten verehrten Franzosen unter meinen Lesern hätte. Diese zwei Bücher sind mir lieb. Das erste, die Morgenröthe, habe ich in Genua geschrieben, in Zeiten schwersten und schmerzhaftesten Siechtums, von den Aerzten aufgegeben, Angesichts des Todes und inmitten einer unglaublichen Entbehrung und Vereinsamung: aber ich wollte es damals nicht anders und war trotzdem mit mir in Frieden und Gewißheit. Das andre, die fröhliche Wissenschaft, verdanke ich den ersten Sonnenblicken der wiederkehrenden Gesundheit: es entstand ein Jahr später (1882), ebenfalls in Genua, in ein paar sublimklaren und sonnigen Januarwochen. Die Probleme, mit denen sich beide Bücher beschäftigen, machen einsam. Darf ich Sie bitten, dieselben aus meinen Händen mit Wohlwollen in Empfang zu nehmen? Ich bin und verbleibe mit dem Ausdruck meiner tiefen und persönlichen Hochschätzung Ihr ergebenster 1. Hippolyte Taine (1818-1897): French historian and critic. See the entry for Taine in Nietzsche's Library.
Sils-Maria, 18. Juli 1887: Lieber Freund, eine sofortige Antwort auf Ihren Brief, der eben zur Thür hereinspaziert ist, bei großem Regenwetter, welches mit seinem sanften Dunkel mir gar nicht unerquicklich scheint. Vielleicht haben Sie es auch — und sind damit den Alpdruck ein wenig los, den der Sommer auf die Seele legt. Sie haben Recht, ich sollte recht erkenntlich für meine kühle Sommer-Residenz sein (dies Jahr habe ich selbst hier oben gelegentlich an Schwüle gelitten, — was müssen Sie Ärmster ausstehen!) Sonst glauben Sie mir, mit einem gesunden Leibe kommt man über Alles hinweg, und mit einem kranken ist Nichts gut, und die besten Geschenke des Himmels werden kalt und traurig bei Seite gelegt. Eine physiologische Hemmung, die mir, ohne jede Übertreibung, seit Jahresfrist nicht Einen guten Tag gegeben hat und sich in Form von Allerlei Kleinmuth, Verwundbarkeit, Mißtrauen, Arbeitsunfähigkeit wie eine schwere seelische Erkrankung ausnimmt, so bestimmt ich auch die Physis als die Schuldige weiß und anklage — das ist eine Misere, mit der ein guter Gott Ihr Leben, lieber Freund, verschont hat. Zuletzt will ich billig sein und eine wesentliche Veränderung seit 8 Tagen ungefähr zugestehn — doch ist mein Mißtrauen so tief und die ganz schlimmen Anfalls-Tage immer noch so häufig, daß es mich dünkt, es könne morgen wieder ganz beim Alten sein. — Diese besseren Tage habe ich sofort vehement ausgenutzt und eine kleine Streitschrift1 abgefaßt, die das Problem meines letzten Buchs,2 wie mir scheint, recht vor die Augen bringt: — alle Welt hat sich beklagt, daß man "mich nicht verstehe," und die verkauften ca. 100 Exemplare gaben mir’s recht handgreiflich zu verstehn, daß man mich nicht verstehe. Denken Sie, ich habe ca. 500 Thaler Druckkosten in den letzten 3 Jahren gehabt — kein Honorar, wie sich von selbst versteht — und dies in meinem 43ten Jahre, nachdem ich 15 Bücher herausgegeben habe! Mehr noch: nach genauer Revue aller überhaupt in Betracht kommenden Verleger und vielen äußerst peinlichen Verhandlungen ergiebt sich als strenges Faktum, daß kein deutscher Verleger mich will (selbst wenn ich kein Honorar beanspruche) — Vielleicht bringt es diese kleine Streitschrift zu Wege, daß man ein paar Exemplare meiner älteren Schriften kauft (aufrichtig, es thut mir immer weh, wenn ich an den armen Fritzsch denke, auf dem nun die ganze Last hockt). Mags also meinen Verlegern zu Gute kommen: ich für meine allereigenste Person weiß nur zu genau, daß es mir nicht zu Gute kommt, wenn man anfängt, mich zu verstehen ... Overbeck schrieb, daß er die Vorreden hintereinander wie "die spannendste Odyssee im Reich des Gedankens" gelesen habe.3 — Marie Rothpletz4 verheirathet sich mit einem Major a. D. von der Marck (dessen Schwester mir von Nizza her als sehr gute Tischnachbarin im Gedächtniß ist) Komisches Hin-und-Her, Briefe und Anfragen zwischen Weimar und den dortigen Goetheforschern und unsrer Familie. Man hat nämlich "entdeckt," wer das "Muthgen" (eines der Räthsel des Goetheschen Tagebuchs) ist: der Archivrath Burkart hat es sogar schon drucken lassen — nämlich meine Großmutter. Nun habe ich diesen Herren den Streich gespielt, etwas dagegen zu stellen: "es schiene mir unwahrscheinlich, daß 'Muthgen' (Erdmuthe Krause) 1778 ,dem jungen Dichter befreundet gewesen sei," weil — ... Muthgen erst im December des genannten Jahres das Licht der Welt erblickt habe. Große Bestürzung. Nun vermuthet man, es müsse die Mutter von "Muthgen" sein. Die Beziehungen zu "Goethens" stehn übrigens außer allem Zweifel. Daß der Bruder Muthgens, der Prof. theol. Krause in Königsberg nach Weimar berufen wurde als Nachfolger Herders (als Generalsuperintendent5 des Landes) war Goethes Werk. Lieber Freund, es wird nicht nur gedruckt, bei Naumann, es wird auch gestochen, bei Fritzsch: fühlen Sie den Stich? ... Zum Mindesten werden Sie ihn bald sehn.6 Aber seien Sie doch so engelhaft (wie die Dönhoff7 zu sagen pflegte) und schicken Sie, was zu schicken ist, an Bülow ... alter Freund — bitte8 — (curiosum anbei: Dr. Widmann vom "Bund" hat mir geschrieben,9 enthusiastisch; auch von Brahms, mit dem er zusammen ist (letzterer "lebhaft interessirt von Jenseits," jetzt im Begriff sich fröhl[iche] Wissenschaft zu Gemüthe zu führen. — Sollte ich in dieser Richtung Etwas für matrim[onio] segreto10 thun können??? Fragezeichen. Treulich Ihr 1. Zur Genealogie der Moral (On the Genealogy of Morality).
Sils-Maria, 10. September 1887: Werthester Herr, auf dergleichen Anfragen2 habe ich bisher immer Nein gesagt; es hilft nichts, ich muß es auch in diesem Falle thun. Sehen Sie darin nicht mehr als eine der fünftausend Necessitäten, die ein resoluter Wille zur Unabhängigkeit in sich schließt. Man ist nicht ungestraft "Philosoph." Ich will schlechterdings nichts mit Zeitschriften zu thun haben: sie sind immer Parteischriften, und am meisten dann, wenn sie es selbst nicht zu sein glauben. — Ich kann, zu meinem Bedauern, hier weder von meiner alten Theorie, noch alten Praxis abgehn. — Übrigens giebt man mir diese meine "Enthaltsamkeit" artig genug zurück: man "enthält sich" auch meiner. Wenigstens sagt mir dies Gottfried Keller3 (— "mein Name sei in deutschen Zeitschriften so gut wie nicht mehr vorhanden.") Ich selbst, drei und vierzig Jahre alt, überdies, wie ich fürchte, Vater von fünfzehn Büchern (vielleicht verzähle ich mich? die Ziffer ist schrecklich) — ich selbst habe über mich noch nicht drei Zeilen gelesen, die mich interessirt hätten, irgend etwas Gründliches, Kluges, psychologisch-Zurechnungsfähiges. Dies als factum, nicht als "Seufzer." Um Ihnen andrerseits meine Antheilnahme zu beweisen, mache ich Sie, werthester Herr Lyricus,4 auf zwei Männer aufmerksam, deren feiner und freier Geschmack in artibus schon mehrfach meine Bewunderung erregt hat (— und die zu schreiben verstehn) Der Eine ist ein deutscher Musiker, der seit Jahren in Venedig lebt, in einer dedaigneusen Zurückgezogenheit; gelegentlich, sehr gelegentlich greift er auch zur Feder (unter irgend einem Pseudonym z. B. Thomas Mürner): man müßte ihn dazu verführen, seine Urtheile über Musik und Musiker niederzuschreiben. Ich gebe Ihnen die genaue Adresse, mit der Bitte um Diskretion: Signor Enrico Köselitz
Der Andre ist ein Schweizer, Professor Spitteler (Neuveville im Kanton Bern); vielleicht ist er Ihnen unter dem Namen "Tandem" bekannt? Ein paar ästhetische Aufsätze von ihm, die ich zufällig kennen lernte (z. B. eine "Kritik des modernen Orchesters"5 von einem kulturhistorischen Gesichtspunkte aus, insgleichen über Theater,6 "theatralisch," dies als Problem gefaßt) verriethen mir einen ungewöhnlich nachdenklichen und feinen Kopf (— er schreibt lustig: welches Glück!) Beide Männer mögen Ihnen bestens empfohlen sein; ihre Mitarbeiterschaft würde der verwöhntesten Zeitschrift zur Ehre gereichen. Erinnern Sie sich, bitte, dieser obscurorum virorum wenn Sie sich etwa meiner wieder erinnern sollten … Hochachtungsvoll Ad vocem Musik: hüten Sie Sich vor allen Wagnerianern, die schreiben, — das ist Hornvieh oder Sumpf. 1. Ferdinand Avenarius (1856-1923), founding editor of Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. See the entry for Der Kunstwart in "Miscellaneous Titles: Catalogs / Periodicals / Series" in Nietzsche's Library. Avenarius published the original handwritten four-page letter in 1921. See Ferdinand Avenarius, "Ein Brief Nietzsches." In: Kunstwart und Kulturwart. Januar 1921, 222-225.
Sils-Maria, 11. September 1887: Hochgeehrter Herr Doktor, machen Sie, bitte, Ihrem ausgezeichneten Mitarbeiter dem Herrn Prof. Spitteler mein ergebenstes Compliment: ich las eben seine Kritik des modernen Orchesters.2 Wie viel Wissen, Takt, Unabhängigkeit des Unheils! welcher esprit, welche gute Artisten-Laune! Und was seinen Geschmack in rebus musicis et musicantibus anbetrifft, so verhindert mich nur Eins ihn zu loben, — daß es gerade mein Geschmack ist. Mir kamen dabei ein Paar nachdenkliche Sachen von ihm in's Gedächtniß, die ich vorigen Winter in Nizza gelesen habe (über Theater und Theatralisches3): leider ohne Kopf und Ende, in ganz zufällig erwischten einzelnen Sonntags-Beilagen des "Bund." Könnte man dergleichen Aesthetica des genannten Herrn nicht beisammen lesen? Es gäbe ein Buch seltenen Ranges ab, gemacht für einige Feinschmecker und Abseitige, an denen es gerade heute nicht fehlt. Pulchrum est paucorum hominum.4 — Gestern, von einem Dresdener Herrn Avenarius höflichst zu einem neu zu begründenden Kunstblatte eingeladen,5 habe ich mir die Freiheit genommen, an meiner Stelle Herrn Spitteler in Vorschlag zu bringen.6 — Mit angelegentlichem Gruße Nota bene, ich habe mich noch gar nicht für die liebenswürdige Gesinnung Ihres Briefes bedankt! Gesetzt, daß Sie irgend einen Werth darauf legen sollten, die Geburt der Tragoedie in der zweiten Auflage zu besitzen (sie enthält ein Curiosum, den Versuch einer Kritik dieser Schrift, von mir selbst), so genügen zwei Worte an den Verleger Herrn E. W. Fritzsch, Leipzig, Königstraße 6 (derselbe ist über Ihre Antheilnahme7 an meinen Büchern unterrichtet; ich nehme an, daß die "fröhliche Wissenschaft" glücklich in Ihre Hände gelangt ist?) Zuletzt: würden Sie vielleicht gewillt sein, Herrn Johannes Brahms Etwas in meinem Namen zu überreichen,8 gesetzt, daß er noch in Ihrer Nähe ist? (nämlich eine Composition von mir, die jetzt eben erscheint: "Hymnus an das Leben," Chor und Orchester) … Ich bin nämlich, wie Wagner sagte,9 eigentlich "ein verunglückter Musikus"10 (er selbst sei ein "verunglückter Philologe" —). 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund.
Bern, 13. September 1887: Verehrtester Herr! Brahms ist im Begriff zu verreisen.2 Eben schreibt er mir, daß er zu Anfang nächster Woche Montag oder Dienstag bei mir übernachten wolle. Kommt also Ihre Composition auf diesem Zeitpunkt noch an, so wird es mir natürlich ein Vergnügen sein, sie Brahms zu überreichen.3 Nur ist vielleicht der Zeitpunkt, da er in Reisestimmung ist, nicht eben der geeignetste. Wenn Sie sie ihm am Ende direkt zusenden wollten nach Baden-Baden (Hotel "Bären"), wohin er von hier aus geht? Ihr Buch "die fröhliche Wissenschaft" ist noch nicht eingetroffen. Kommt es von Leipzig? ich sehe ihm mit großer Spannung entgegen. Außerordentlich hat mich gefreut, was Sie über Spittelers Arbeiten äußern. Der Arme, den die deutsche Kritik seit Jahren consequent todt schweigt! Er hat unter dem Pseudonym C. Felix Tandem zwei Bücher geschrieben: Prometheus und Epimetheus (Verlag Sauerländer in Aarau) und Extra mundana (Verlag Hässel in Leipzig).4 Über keines erschien eine Besprechung von irgend welcher Bedeutung in einem deutschen Blatte. Über "Prometheus und Epimetheus" schrieb Gottfried Keller,5 — gewaltig angeregt von dieser außerordentlichen Dichtung — mehrere Bogen, die, glaube ich, für die "deutsche Rundschau" bestimmt waren; aber schließlich ließ er die Studie unvollendet liegen. Das wäre eine Barmherzigkeit und zugleich eine göttliche Gerechtigkeit von Ihnen, wenn Sie diese Bücher von den Verlegern als Freund des Autors sich schicken ließen und vielleicht dazu kämen, irgendwo etwas darüber zu sagen. Es ist bei Spitteler wirklich, als ob sich alle Gewöhnlichkeit und Gemeinheit der Welt verschworen hätte, diesen außerordentlichen Menschen nicht zum Worte kommen zu lassen. Abgesehn von seinem kurzen Intermezzo als Redakteur der verflossenen "Grenzpost" in Basel hat er beinahe nirgends in einem Blatte jemals Aufnahme für seine Arbeiten gefunden (mein Blatt selbstverständlich ausgenommen.) Wollen Sie nicht gern an die Verleger schreiben, aber doch die Bücher lesen, so bin ich gern so frei, Ihnen dieselben zu schicken; nur möchte ich sie nicht aufdrängen. Herrn Spitteler werde ich Ihren Brief mittheilen. Das wird ein Sonnenstrahl sein in ein von Natur edles aber durch die gemeine Erfahrung etwas verdunkeltes Gemüth. Hochachtungsvoll 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund.
Sils-Maria, 14. September 1887: Verehrtestes Fräulein, es scheint mir, daß Sie mit Marschlins den besseren Theil gewählt haben: denn Sils ist nichts mehr werth, seitdem Sie fort sind.1 Der September hat einen heimtückischen Charakter: kalt, schneeig, regnerisch, verdrossen — ich selbst bin jeden Augenblick krank. Stünde es anders, so hätten Sie längst Nachricht von mir, auch ein Wort herzlichsten Dankes: denn Sie haben mir wacker dabei geholfen, über einen schweren und im Grunde von conträren Winden heimgesuchten Arbeits-Sommer — "hinwegzugondeln." — Daß Sie meine Bücher lesen, macht mir jetzt weniger Besorgniß: der kürzeste persönliche Verkehr wirkt als Correktur auf ein bloß buchmäßiges Kennenlernen fremder Meinungen und Werthe; — man sieht, hört und schließt hintendrein ruhiger (alles Gedruckte ist an sich noch zweideutig und macht Unruhe) — Eben ist ein erbärmlicher Aufsatz angelangt, von einem Spiritisten und Wagnerianer abgefaßt, des Titels: "Variationen über Themen von Friedrich Nietzsche."2 Insgleichen kam eine Einladung des Dresdener Avenarius,3 meinen Namen mit zur Begründung eines neuen Kunstblattes herzugeben: natürlich Nein gesagt. — Malvida schweigt. — Den 20. Sept. will ich nach Venedig abreisen; der Herbst scheint kalt zu werden: das ist in Hinsicht auf die Lagunenstadt für mich eine Hoffnung. — Neulich, an einem gründlichen Regentage, entwickelte sich ein artiges, sehr principielles Gespräch, bei dem die Rollen hübsch vertheilt waren: der preußische Landrath, der Mediziner aus Gießen, der Jurist aus Heidelberg (Geh.Rath Gierke) und ich (comme philosophe). — Mein Druck ist beim letzten Drittel angelangt; das Buch wird heißen "Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift." Damit ist nunmehr alles Wesentliche angedeutet, was zur vorläufigen Orientierung über mich dienen kann: von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letzt genannten Buchs — das giebt eine Art "Entwicklungsgeschichte."4 Nichts ist übrigens degoutanter, als sich selbst commentieren zu müssen; aber bei der vollkommnen Aussichtslosigkeit dafür, daß irgend jemand Anders mir dies Geschäft hätte abnehmen können, habe ich die Zähne zusammengebissen und gute Miene, hoffentlich auch "gutes Spiel" gemacht. Die Arbeit eines ganzen Jahrs! (eingerechnet das fünfte Buch der gaya scienza, das ich besonders empfehle) — Mein verehrtes Fräulein, behalten Sie diesen Sommer in guter Erinnerung, — ich will es auch thun. Mich Ihrer ausgezeichneten Freundin5 angelegentlich empfehlend bleibe ich Ihr ergebenster Diener NB. Aber man soll nicht sagen: "Marschlins bei Igis,"6 sondern "Igis bei Marschlins“ — oder vielmehr, man soll gar nicht "Igis" sagen … Ich vergaß, mich Ihrer verehrten Frau Mutter7 zu empfehlen. 1. Cf. Philosoph und Edelmensch. Ein Beitrag zur Charakteristik Friedrich Nietzsche's. Von Meta von Salis-Marschlins, Dr. phil. Leipzig: Naumann, 1897, 58. Sils-Maria, 15. September 1887: Malheur! Gleichzeitig mit meinem ersten Brief kam die Mittheilung des Verlegers, daß die "Fröhliche Wissenschaft" an Sie abgesandt sei. Was mag geschehen sein? Ich habe von Herrn E. W. Fritzsch umgehend Auskunft verlangt. — — Was die Werke2 des Herrn Spitteler angeht: so darf man dergleichen feine Sachen den heutigen Deutschen eigentlich nicht zumuthen. Es steht nicht zum Besten mit dem "Deutschen Geiste." Ich selbst, wenn ich eine Reise nach Deutschland nöthig habe, mache mir vorher immer erst mit einem naturwissenschaftlichen Spruche Muth, zum Beispiel:
Mit ergebenstem Gruße 1. Joseph Viktor Widmann (1842-1911): literary editor of Der Bund.
Venedig, 24. September 1887: Lieber Freund, in Venedig angelangt, unter erträglicheren Bedingungen als andere Male. Die Luft auch jetzt limpida elastica. Die Reise selbst nicht ohne Gefahr (Sturm und Gewitter auf dem Comersee) Ich finde unsern maëstro1 besser eingerichtet als sonst; ein herrliches neues Pastorale2 (für Orchester) verräth mir das schönste Gleichgewicht und Glück am Vollkommenen, — so daß ich nunmehr diese Sorge ad acta lege. — Was das Geld3 anbetrifft, so scheint es mir besser, wenn Du mir hierher nur 300 frs ital[ienisches] Papier schickst (den Rest später nach Nizza) Ich glaube doch nicht länger als bis c. den 21. Okt. hier zu bleiben. (Das Licht ist äußerst angreifend für meine Augen; es ist ein grundverschiedenes Licht als das in Sils und Nizza, von wegen der Luftfeuchtigkeit.) Ein guter (aber feindseliger) Aufsatz4 über "Jenseits" in der Nationalzeitung (4 Dezemb. 1886) hier mir erst zu Gesicht kommend. Treulich Dein N. Adresse: Venezia, calle dei preti 1263 (San Marco) 1. Heinrich Köselitz.
Venedig, 10. Oktober 1887: Meine liebe Mutter, ich danke Dir herzlich für Deinen Brief, der mich erheiterte; auch brachte er sehr gute Nachrichten über unsre Südamerikaner.1 Es scheint in der That, daß das Lama2 ihrer dortigen Aufgabe auf das Tapferste nachkommt, — insgleichen daß sie eine Aufgabe hat, bei der ihre Talente sich frei und natürlich entfalten können: mehr darf man eigentlich vom Leben nicht wünschen. Wenn die Sache geräth, so hat sie (wie mir wenigstens vorkommen will) den Löwenantheil am Gelingen. Die Männer geben in solchen Fällen allerdings die Initiative, aber meistens auch das Malheur hinzu. — Die Zeit bisher in Venedig war im Ganzen nicht ungünstig; im Grunde habe ich seit 10 Jahren keinen Ort für den Herbst gewählt, der sich so wohlthätig erwiesen hätte, wie dies Venedig. Allerdings auch ein Wetter ohne Vergleich; klar, frisch, rein, wolkenlos, fast wie in Nizza. Unsern Köselitz finde ich besser eingerichtet (würdiger, distinguirter, unabhängiger) als ich es je gewesen bin. Die alte vornehme Familie, in deren Haus er wohnt, lebt ganz für ihn, hat seit seinem Wiederkommen die besten Zimmer ihm abgetreten, kocht für ihn: so daß er auch besser genährt ist als man es sonst im Süden wird. In dieser verbesserten Lage hat er wieder wunderschöne Musik3 gemacht, die sich auf das Glücklichste von dem Wagnerischen Kampf- und Krampfwesen unterscheidet. Wir Beide sind nicht gar zu leicht nach dem lieben Vaterlande zu verführen; die Bornirtheit daselbst macht mich lachen; und wenn ich es vielleicht nöthig habe, dorthin zurückzukehren (zu gelehrten Zwecken), so werde ich mir erst mit einem naturwissenschaftlichen Sprüchlein Muth machen, zum Beispiel:
Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften Alles über mein letztes Buch5 gedruckt worden ist: ein haarsträubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung. Bald ist mein Buch "höherer Blödsinn,"6 bald ist es "diabolisch berechnend,"7 bald verdiente ich, dafür aufs Schaffot8 zu kommen (wenigstens nach der Art der früheren Zeiten, sich gegen unangenehme Freigeister zu wehren) bald werde ich als "Philosoph der junkerlichen Aristokratie"9 verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen10 verhöhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts11 bemitleidet, bald als "Dynamit"12 und Unmensch vorsichtig bei Seite gethan. Und dies Stück Erkenntniß in Bezug auf mich hat ungefähr 15 Jahre Zeit gebraucht; hätte man etwas von meiner ersten Schrift "Geburt der Tragoedie" verstanden, so hätte man schon damals in gleicher Weise sich entsetzen und bekreuzigen können. Aber damals lebte ich unter einem hübschen Schleier und wurde vom deutschen Hornvieh verehrt, gleich als ob ich zu ihm gehörte. Nun, dies hat seine Zeit gehabt. Unzweifelhaft werde ich immer noch einige Jahre früher in Frankreich "entdeckt" sein, als im Vaterlande. Meine Absicht ist, am 21. Oktober von hier nach Nizza überzusiedeln, zu einem langen arbeitsamen Winter. Dein altes Geschöpf. In Hinsicht auf eine frühere Frage: man zahlt Strafe, wenn etwas Geschriebenes in ein Paket eingelegt wird: ich rede aus Erfahrung. 1. The failed Paraguayan colony, "Nueva Germania," of Elisabeth's husband, Bernhard Förster (1843-1889), a leader of the German anti-Semitic movement. Förster eventually committed suicide.
Venedig, 18. Oktober 1887: Meine liebe Mutter, Dein Brief, am Geburtstage eintreffend, fand mich bei einer Thätigkeit, an der Du Vergnügen gehabt hättest: ich schrieb gerade ein Briefchen an das südamerikanische Lama.1 Dein Brief und Deine Glückwünsche waren übrigens die einzigen, die bei mir anlangten: was mir einen guten Begriff von meiner inzwischen erreichten "Unabhängigkeit" gegeben hat: letztere aber ist für einen Philosophen die Bedingung ersten Ranges. Hoffentlich hast Du an meinen letzten Mittheilungen die gute Laune nicht überhört, mit der ich Dir die Speisekarte deutscher Urtheile2 über mich vorlegte: diese kennen zu lernen hat mich wirklich erheitert, — auch bin ich Menschenkenner genug, um zu wissen, wie sich in 50 Jahren das Urtheil über mich herumgedreht haben wird, und in welcher Glorie von Ehrfurcht dann der Name Deines Sohnes strahlt, wegen derselben Dinge, derentwegen ich bis jetzt mißhandelt und beschimpft worden bin. Seit meiner Kindheit nie ein tiefes und verständnißvolles Wort gehört zu haben — das gehört eben zu meinem Loos, auch erinnere ich mich nicht, darüber geklagt zu haben. Übrigens bin ich "den Deutschen" gar nicht gram deshalb; erstens fehlt ihnen gerade die ganze Bildung, der ganze Ernst für die Probleme, wo mein Ernst ist, und dann — sie sind wirklich sehr okkupirt und haben alle Hände voll zu thun, als daß sie Zeit hätten, sich mit etwas absolut Fremdem zu beschäftigen. Anbei, zu Deiner Beruhigung gesagt: Du scheinst zu glauben, daß der Widerspruch, den ich finde, etwas Wesentliches mit meiner Stellung zum Christenthum zu thun hat. Nein! So "harmlos" ist Dein Sohn nicht, so "harmlos" sind auch meine Herrn Gegner nicht. Die Urtheile, die ich Dir schrieb, stammen sammt und sonders aus der Sphäre der unkirchlichsten Parteien, die es jetzt giebt; das waren keine Theologen-Urtheile. Fast jede dieser Kritiken (die zum Theil von sehr intelligenten Kritikern und Gelehrten stammten) wehrte sich ausdrücklich gegen den Verdacht, als ob sie etwa mich durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit meines Buchs "den Kanzelraben und den Altarkrähen ausliefern"3 wollte. Der Gegensatz, in dem ich mich befinde, ist hundert Mal radikaler, als daß dabei die religiösen Fragen und Confessions-Schattirungen ernstlich in Betracht kämen. Verzeihung für diese allzulange Zwischenrede: aber wenn ich sage, daß die intelligentesten Gelehrten sich in Bezug auf mich bisher vergriffen haben, so versteht es sich von selber, daß der alte Pinder4 nicht etwa feiner gewesen ist. Der empfand natürlich nichts weiter als daß seine und meine Ansichten verschiedene Ansichten sind, — und bedauerte dies. — Die Nachrichten über Paraguay sind wirklich sehr erquicklich; doch fehlt bei mir immer noch auch der leiseste Wunsch, mich in die Nachbarschaft meines antisemitischen Herrn Schwagers5 zu setzen. Seine und meine Ansichten sind verschiedne Ansichten: — und ich bedaure dies nicht. — Der Koffer zu meiner Abreise ist bereits zur Hälfte gepackt; übermorgen Abends oder Morgens geht es fort. Die Gesundheit hat sich im Ganzen gehalten, abgesehn, daß die Augen mir Noth machen. Meine Adresse von jetzt ab ist:
Mit den herzlichsten und dankbarsten Grüßen Von Nizza aus will ich über den Transport des kleinen Carbon-Natron-Öfchens schreiben, den ich für mein dortiges Nordzimmer nöthig haben werde (mit einem Centner Material)6 1. Nietzsche's pet name for Elisabeth Förster-Nietzsche.
Venedig, 22. Oktober 1887: Verehrter Herr, es gab eine Zeit, wo Sie über ein Stück Musik1 von mir das allerberechtigtste Todesurtheil gefällt haben, das in rebus musicis et musicantibus2 möglich ist. Und nun wage ich es trotzalledem, Ihnen noch einmal Etwas zu übersenden, — einen Hymnus auf das Leben,3 von dem ich um so mehr wünsche, daß er leben bleibt. Er soll einmal, in irgend welcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse gesungen werden, zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal hat haben wollen. Verdient er das?… Zu alledem wäre es möglich, daß ich in den letzten zehn Jahren auch als Musiker Etwas gelernt hätte. Ihnen, verehrtester Herr, in alter unveränderlicher Gesinnung zugethan Dr. Fr. Nietzsche. 1. Nietzsche's 1872 piano composition, "Manfred-Meditation." Cf. Munich, 07-24-1872: Letter from Hans von Bülow to Nietzsche in Basel. In German. In English.
Nizza, 27. Oktober 1887: (blaue Finger, Pardon!) Lieber Freund, eben langte Ihr Brief an; ich las Montaigne,1 um mich aus einer grillig-düsteren und gereizten Stimmung zu ziehen — Ihr Brief half mir gründlicher noch davon. Seit gestern Abend habe ich eine Fischgräte im Halse, die Nacht war peinlich; trotz wiederholten Versuchen des Erbrechens hält sie fest. Sonderbar, ich empfinde eine Abundanz von Symbolik und Sinn in dieser physiologischen Niederträchtigkeit. — Zu alledem ist es kalt, januarlich; mein Nordzimmer läßt mich nicht mit mir spaßen — und auch nicht mit sich! — Overbeck meldet eben seinerseits Rheumatismus (überdies Neues über Spitteler, seinen alten Schüler), tiefe Versenkung in den Wust der Scholastik (über welche er diesen Winter zum ersten Male liest2), auch daß man R[ichard] W[agner]'s Symphonie3 in Basel gemacht hat. Wir wollen ihm (nach Ihrem Vorschlag) den Hymnus jetzt schicken: als welcher zu aller Art Tapferkeit auffordert. Beiläufig: die Schlußwendung "wohlan! noch hast du deine Pein! ..."4 ist das Stärkste von Hybris in griechischem Sinne, von lästerlicher Herausforderung des Schicksals durch einen Exceß von Muth und Übermuth: — mir läuft immer noch jedes Mal, wenn ich die Stelle sehe (und höre), ein kleiner Schauder über den Leib. Man sagt, daß für solche "Musik" die Erinnyen Ohren haben. — Ais erleichtert mich, ich kann Ihnen nicht helfen, es macht die Brücke zu der "süßen" Entschlossenheit der letzten Phrasirung. Ich würde a aushalten, wenn es den Anfang einer langen leidenschaftlichen, tragischen, auf- und abschwellenden Cadenz (auf fis-moll), etwa mit einem Violinen-Unisono, machte; an sich allein steht es da, dürr, schmerzhaft, hoffnungslos. Auch bewegt sich in diesen Takten die Melodie in lauter kleinen Sekunden: diese einzige große h—a klingt wie ein Widerspruch. — Sie sehen, ich komme über den moralischen Querstand dieses a schlecht hinweg.5 — Die Partitur hat mir übrigens großes Vergnügen gemacht; und es scheint mir, daß Fritzsch sich besser aus der Sache herausgezogen hat als wir ihm zugetraut haben. Was für gutes Papier hat er genommen! Im Grunde ist es die "eleganteste" Partitur, die ich bisjetzt gesehn habe; und daß F[ritzsch] wirklich die Stimmen dazu hat herstellen lassen (ohne mir vorher ein Wort davon zu sagen), freut mich: es verräth seinen Glauben an die Aufführbarkeit des Hymnus. Oh, alter lieber Freund, was haben Sie sich damit um mich "verdient gemacht"! Diese kleine Zugehörigkeit zur Musik und beinahe zu den Musikern, für welche dieser H[ymnus] Zeugniß ablegt, ist in Hinsicht auf ein einstmaliges Verständniß jenes psychologischen Problems, das ich bin, ein unschätzbarer Punkt; und schon jetzt wird es nachdenken machen. Auch hat der H[ymnus] etwas von Leidenschaft und Ernst an sich und präzisirt wenigstens einen Hauptaffekt unter den Affekten, aus denen meine Philosophie gewachsen ist. Zu allerletzt: er ist etwas für Deutsche, ein Brückchen, auf dem vielleicht sogar diese schwerfällige Rasse dazu gelangen kann, sich für eine ihrer seltsamsten Mißgeburten zu interessiren. — Nizza, aufgerüttelt durch sein Erdbeben,6 schickt sich diesen Winter an, alle seine Verführungskünste anzuwenden. Reinlicher war es nie; die Häuser schöner angestrichen; die Küche in den Hôtels besser. Das italiänische Theater (Sonzogno,7 als Impresario, bringt selber den Winter hier zu) verspricht zuerst, wie Bülow i pescatori di perle8 (26. Nov.); darauf Carmen;9 darauf Amleto (von wem?),10 darauf Lakmé (von Delibes)11 — lauter Feinschmeckerei. Eben haben wir einen glänzenden Astronomen-Congreß hier gehabt, le congrès Bisch genannt (nämlich der reiche Jude Bischoffsheim,12 amateur in astronomicis, bestreitet die Kosten des ganzen Congresses und wirklich, man ist entzückt über die von ihm veranstalteten Feste.) Ihm verdankt N[izza] bereits sein Observatorium, insgleichen dessen Unterhaltung, Besoldung der Angestellten, nebst dem, was die Publikationen kosten. Ecco! Jüdischer Luxus in großem Stile! — Lieber Freund, ich habe Sie dies Mal nicht nur mit großer Dankbarkeit verlassen, auch mit großem Respekt. Bleiben Sie sich treu, ich weiß Ihnen nichts Besseres zu wünschen! Von Herzen Ihr N. 1. Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592): French moralist. Nietzsche owned two works by Montaigne. Michaels Herrn von Montagne [sic] Versuche, nebst des Verfassers Leben. Nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt [von Johann Daniel Titius]. T. 1-3. Leipzig: F. Lankischens Erben, 1753-54. Essais de Michel de Montaigne avec des notes de tous les commenteurs. Paris: Didot, 1864. The latter edition in French was a Christmas present from Cosima Wagner. Cf. Tribschen, 12-30-1870: Letter to his mother and sister in Naumburg. "Zu Weihnachten bekam ich [...] eine stattliche Ausgabe des ganzen Montaigne (den ich sehr verehre)" (For Christmas I received [...] a handsome edition of the complete Montaigne (whom I greatly admire).) See the entry for Montaigne in Nietzsche's Library.
Nizza, 10. November 1887: Lieber Freund, der Zufall will (— oder ist's gar nicht der Zufall?) daß auch ich in der letzten Woche am Problem Piccini-Gluck1 hängen blieb. Sie wissen, daß im Monat November 1787 Gluck starb? — vielleicht auch, daß der größte und geistreichste Piccinist, der Abbé Galiani im gleichen Jahre starb? (30. Oktober 1787 in Neapel) Wir feiern also das hundertjährige Jubiläum eines großen Problems und einer verhängnißvollen, wahrscheinlich falschen Entscheidung desselben. Ich lese Galiani:2 mich agaçirt es geradezu, daß dieser verwöhnteste und raffinirteste Geist des vorigen Jahrhunderts in diesem Grade außer sich ist über seinen Piccini (ungefähr wie Stendhal über Rossini,3 aber noch naiver und "verwandter," wenn ich recht empfinde) Er macht einen scharfen Unterschied zwischen den komischen Opern Piccini's, die bloß für Neapel und in Neapel möglich sind, und den anderen, die in ganz Italien und selbst in Frankreich ungefähr goutirt werden können. Nur von den ersteren sagt er, daß P[iccini]) damit auf dem höchsten Gipfel der Kunst4 angelangt sei; er sagt zu Madame d’Épinay, sie könne sich gar keine Idee davon machen, so sehr sei es supérieur Allem, was sie je gehört habe. Der Zeitpunkt, wo Piccini auf diese Höhe kommt, ist 1770-71 etwa (aus letzterem Jahre sind die Briefe Galianis) Damals spielte man in Neapel von P[iccini] La Fenta giardiniera5 und II Don Chisciotto,6 insgleichen La Gelosia per Gelosia:7 auf eins dieser Werke, wenn nicht auf alle, muß sich das Entzücken G[aliani]s beziehn (— "er hat mich gelehrt, daß wir alle und immer singen, wenn wir sprechen. Die Schwierigkeit besteht darin, unsern Ton und unsre Modulation zu finden, wenn wir sprechen."8) Er macht sich lustig über Mad. d'Épinay, welche diese Sachen nach Paris haben will; er sagt "ils ne vont pas même à Rome."9 "Sie werden seine italiänischen komischen Opern haben, solche wie La Buona Figliuola, aber keine der neapolitanischen."10 (Diese Oper, La B[uona] F[igliuola],11 mit dem Texte Goldoni's ist zuerst in Rom aufgeführt 1760; in Paris erst 1770, mit großem Erfolg. Die französische Kritik sagte damals "les oreilles françaises, habituées depuis quelques années à une genre qui leur répugnait d'abord, ont reçu celle-ci avec la plus délicieuse sensation. Les accompagnements surtout ont paru travaillés avec un art infini."12 Klingt das nicht sehr merkwürdig?) Es scheint mir nöthig, den ganzen Gegensatz "italiänische und französische Musik" erst wieder zu entdecken und den hybriden Begriff "deutsche Musik" einmal bei Seite zu thun. Es handelt sich um einen Stilgegensatz: die Herkunft der Componisten ist dafür ganz gleichgültig. So ist Händel ein Italiäner, Gluck ein Franzose (— die französische Kritik feiert z. B. in diesem Augenblick Gluck als das größte musikalische Genie des französischen Geistes, als ihren Gluck) Es giebt geborene Italiäner, die dem französischen Stile huldigen, es giebt geborene Franzosen, die italiänische Musik machen. Aber worin eigentlich besteht der große Stilgegensatz? Ich empfehle besonders die mémoires des Präsident de Brosses (seine Reise in Italien 1739),13 in denen fortwährend dies Problem leidenschaftlich berührt wird: da erscheint z. B. il Sassone, Ihr Venediger Hasse, als fanatischer Antifranzose.14 Können Sie sich nicht in Venedig den Anblick Piccini'scher Partituren verschaffen? namentlich seiner Napolitana? Sollte da Etwas verloren und vergessen worden sein? — Man muß dem bornirten "deutschen Ernst" in der Musik das Genie der Heiterkeit entgegenstellen. — Dies erinnert mich an den hymnum ecclesiasticum,15 über den inzwischen nur Ein Urtheil eingelaufen ist, das Rudhardts: "sehr würdig, rein im Satz und wohlklingend."16 Der 2te Band des "Journal des Goncourt" ist erschienen: die interessanteste Novität. Er betrifft die Jahre 1862-65;17 in ihm sind die berühmten dîners chez Magny18 auf das Handgreiflichste beschrieben, jene Diners, welche zwei Mal monatlich die damalige geistreichste und skeptischste Bande der Pariser Geister zusammenbrachten (Sainte-Beuve, Flaubert, Th[éophile] Gautier, Taine, Rénan, les Goncourts, Schérer, Gavarni, gelegentlich Turgenjew usw). Exasperirter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein — ich kenne diese Herrn auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei Allen an der Hauptsache — "la force." Treulich Ihr Freund Nietzsche 1. Cf. Nachlass, Mai-Juli 1885 35[64] (From Nietzsche's Notebooks, May-July 1885 35[64]).
Nizza, 11. November 1887: Lieber Freund, es scheint mir, daß ich noch Etwas von diesem Frühjahre her bei Dir gut zu machen habe?1 Zum Zeichen, daß es mir nicht an gutem Willen dazu fehlt, sende ich hiermit eine eben erschienene Schrift2 an Dich ab (— vielleicht bin ich Dir dieselbe zu alledem auch schuldig, denn sie steht im engsten Verbände mit jener, welche ich Dir zuletzt übersendete3 —) Nein, laß Dich nicht zu leicht von mir entfremden! In meinem Alter und in meiner Vereinsamung verliere ich wenigstens die Paar Menschen nicht mehr, zu denen ich einmal Vertrauen gehabt habe. Dein N. Nota bene. Über Ms. Taine bitte ich Dich zur Besinnung zu kommen. Solche groben Sachen, wie Du über ihn sagst und denkst, agaçiren mich.4 Dergleichen vergebe ich dem Prinzen Napoleon;5 nicht meinem Freunde Rohde. Wer diese Art von strengen und großherzigen Geistern mißversteht (— T[aine] ist heute der Erzieher aller ernsteren wissenschaftlichen Charaktere Frankreichs), von dem glaube ich nicht leicht, daß er etwas von meiner eignen Aufgabe versteht. Aufrichtig, Du hast mir nie ein Wort gesagt, das mir zu vermuthen erlaubte, Du wüßtest, welches Schicksal auf mir liegt. Habe ich Dir je daraus einen Vorwurf gemacht? Nicht einmal in meinem Herzen; und sei es auch nur deshalb, weil ich es überhaupt von Niemandem anders gewohnt bin. Wer wäre mir bisher auch nur mit einem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen! Hat irgend wer auch nur einen Schimmer von dem eigentlichen Grunde meines langen Siechthums errathen, über das ich vielleicht doch noch Herr geworden bin? Ich habe jetzt 43 Jahre hinter mir und bin genau noch so allein, wie ich es als Kind gewesen bin. — 1. In a lost letter to Nietzsche, Rohde had made a disparaging remark about Hippolyte Taine (1828-1893), the French historian and critic. This drew Nietzsche's ire, as well as a remark belittling Rohde. Rohde never replied to any of Nietzsche's correspondence after the dispute.
Nizza, 12. November 1887: Lieber Freund, zu Deinem Geburtstage1 habe ich bereits ein paar kleine Gaben vorausgeschickt: den Hymnus an das Leben*,2 insgleichen das neueste (und für längere Zeit letzte) Buch.3 Heute habe ich nicht nur meine Wünsche für Dein bevorstehendes Lebensjahr hinzuzufügen (für Deine Gesundheit, für Deinen Kampf mit Rheumatism und Scholastik!..)4: vor Allem den Ausdruck meiner Verehrung und Dankbarkeit für die unwandelbare Treue, die Du mir in der härtesten und unverständlichsten Zeit meines Lebens bewiesen hast. Es scheint mir, daß sich eine Art Epoche für mich abschließt; ein Rückblick ist mehr als je am Platz. Zehn Jahre Krankheit, mehr als zehn Jahre; und nicht so einfach Krankheit, für die es Ärzte und Arzneien gäbe. Weiß eigentlich irgend Jemand, was mich krank machte? was mich Jahre lang in der Nähe des Todes und im Verlangen nach dem Tode festhielt? Es scheint mir nicht so. Wenn ich R. Wagner ausnehme, so ist mir Niemand bisher mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen, um mich mit ihm "zu verstehn"; ich war dergestalt schon als Kind allein, ich bin es heute noch, in meinem 44ten Lebensjahre. Dieses schreckliche Jahrzehend, das ich hinter mir habe, hat mir reichlich zu kosten gegeben, was Allein-sein, Vereinsamung bis zu diesem Grade, bedeutet: die Vereinsamung und Schutzlosigkeit eines Leidenden, der kein Mittel hat sich auch nur zu wehren, sich auch nur "zu vertheidigen." Mein Freund Overbeck abgerechnet (und drei Menschen noch dazu) hat sich in den letzten zehn Jahren fast Jedermann, den ich kenne, mit irgend einer Absurdität an mir vergriffen, sei es mit empörenden Verdächtigungen, sei es mindestens in der Form schnöder Unbescheidenheit (zuletzt noch Rohde, dieser unverbesserliche Flegel5) Das hat mich, um das Beste davon zu sagen, unabhängiger gemacht; aber auch härter vielleicht und menschenverachtender als ich selbst wünschen möchte. Glücklicher Weise habe ich esprit gaillard6 genug, um mich gelegentlich über diese Erinnerungen ebenso lustig zu machen, wie über alles Andre, was nur mich betrifft; und überdies habe ich eine Aufgabe, die mir nicht erlaubt, viel an mich zu denken (eine Aufgabe, ein Schicksal oder wie man's nennen will) Diese Aufgabe hat mich krank gemacht, sie wird mich auch wieder gesund machen, und nicht nur gesund, sondern auch wieder menschenfreundlicher und was dazu gehört. — Das Geld7 ist glücklich in meine Hände gelangt, und ohne daß ich vorher in irgend welche Schwierigkeit gerathen wäre. Mit Nizza halte ich es jetzt so, wie mit Sils-Maria: ich versuche mich mit ihm zu arrangieren und stelle mir die guten und bewiesenen Faktoren in den Vordergrund: sein belebendes und erheiterndes Clima, seine Lichtfülle (welche mir einen Gebrauch meiner Augen gestattet, der außer allem Verhältniß zu dem steht, was sie anderwärts, namentlich in Deutschland, leisten) Die pension de Genève, tüchtig verbessert und mit viel gutem Willen der Zukunft entgegensehend, hat mir dies Mal ein wirkliches Arbeits zimmer hergerichtet (mit Licht- und Farbenmodifikationen, welche für mich absolut wichtig sind); ein kleiner Natron-Carbon-Ofen ist von Naumburg aus an mich unterwegs.8 Ich zahle etwas mehr Pension als früher (5 ½ frs. per Tag, Wohnung und 2 Mahlzeiten: meinen Morgenthee besorge ich selbst); aber, unter uns gesagt, jeder andre Gast zahlt mehr (8-10 frs.) Beiläufig: eine Tortur für meinen Stolz!!! — Du weißt, was ich jetzt von mir verlange: meine Orte dafür sollen Nizza und Sils-Maria bleiben (Venedig als Zwischenakt: ich habe eine herrliche Erinnerung an Köselitz, der seine gütige und hohe Seele sich zu bewahren gewußt hat, trotz aller Art Enttäuschung, und jetzt Musik macht, für die ich kein anderes Wort mehr habe als "klassisch" (Zwei Sätze einer Symphonie z. B., der schönste "Claude Lorrain" in Musik, den ich kenne)9 Dir und Deiner lieben Frau einen glücklichen und guten Tag wünschend, Dein N. Prof. Deussen sendet Dir seinen Gruß; er war diesen Herbst in Athen. Ich bekam von ihm ein Lorbeer- und Feigenblatt geschickt, dort gepflückt, wo die Akademie Platos gestanden hat.10 In diesen Wochen wird auch die Rechnung11 C. G. Naumann's über die Herstellungskosten des neuen Buchs einlaufen; Du bekommst sofort von mir Mittheilung. * Der Hymnus soll einmal dienen, "zu meinem Gedächtnisse" gesungen zu werden: sagen wir, etwa heute über hundert Jahre, wenn man begriffen haben wird, worum es sich bei mir gehandelt hat. 1. November 16.
Nice (France), 16. November 1887: Lieber Freund, Du wirst von Deiner Odyssee1 jetzt glücklich in Deinen Berufshafen wieder eingelaufen sein: ich wünsche Dir einen glücklichen und schülerreichen Winter und ein Vorwärts in jedem Sinne auf Deiner Bahn (ohne Hemmung, (ohne "Quarantänen"2 —) Die schöne Symbolik Deiner Handlung3 am 15. Okt. hat mich tief gerührt: — vielleicht ist dieser alte Plato mein eigentlicher großer Gegner? Aber wie stolz bin ich, einen solchen Gegner zu haben! — Behalte mich lieb!4 Dein Einen herzlichen Gruß an die kleine tapfere Kameradin!5 1. Paul Deussen visited Nietzsche in September 1887, while on vacation. His travels took him to Italy, Greece, Turkey, and Switzerland.
Nizza, 24. November 1887: Lieber Freund ich genieße diesen Morgen eine große Wohlthat: zum ersten Male steht ein "Feuergötze" in meinem Zimmer: ein kleiner Ofen1 — ich bekenne, daß ich um ihn herum bereits einige heidnische Sprünge gemacht habe. Die Zeit bis heute war eine blaufingrige Fröstelei, bei der auch meine Philosophie nicht auf den besten Füßen stand. Es ist schlecht erträglich, wenn man im eignen Zimmer den eiskalten Anhauch des Todes spürt, — wenn man sich nicht auf sein Zimmer wie auf seine Burg zurückziehen kann, sondern nur wie in sein Gefängniß zurückgezogen wird —. Der Regen floß stromweise die letzten zehn Tage: man hat berechnet, daß auf einen Quadratmeter 208 Liter Wasser gefallen sind. Der Oktober war der kälteste, den ich bisher erlebte, der November der regenreichste. Nizza ist noch ziemlich leer; doch sind wir 25 Personen bei Tische, freundliche und wohlwollende Menschlein, gegen die nichts einzuwenden ist. Inzwischen hat nur Overbeck geschrieben,2 voll Freude über den "Hymnus" und seine "schöne, ungemein eindringliche und würdevolle Weise"; ("mir kommt Deine jetzige Musik außerordentlich einfach vor") Er hebt den "prachtvollen, wiederum so sprechenden Accent auf dem ersten 'Pein' heraus und die mir fast noch mehr ins Herz klingende Beschwichtigung der Schlußtakte." — Freund Krug (der mich übrigens bittet, den Justizrath in Regierungsrath "umzuwerthen" —) spricht von "tiefer Rührung bis zu Thränen." "Ich hoffe bestimmt, daß der Chor hier aufgeführt wird… Die Instrumentation ist vortrefflich, soweit ich beurtheilen kann. Sie zeigt eine angenehme Steigerung und Abwechslung bei weiser Mäßigung, wie z. B. auf S. 8, wo die Worte 'und in der Gluth des Kampfes' durch das tremolo der Bratschen und die Tenorposaune mit nachfolgender p Fanfare der Trompete nur leise gedeutet werden. Schön wird sich auch S. 6 und 10 die zart herabsteigende Flöte ausnehmen" usw usw —3 Daß Gluck4 zu seinen ersten Anhängern Rousseau gehabt hat, giebt zu denken: mir wenigstens ist Alles, was dieser Mensch geschätzt hat, ein wenig fragezeichenwürdig; insgleichen Alle, die ihn geschätzt haben (— es ist eine ganze Familie Rousseau, dahin gehört auch Schiller, zum Theil Kant, in Frankreich G[eorge] Sand, sogar Sainte-Beuve; in England die Eliot usw). Jedermann, der "die moralische Wörde" nöthig gehabt hat, faute de mieux, hat zu den Verehrern Rousseaus gehört, bis auf unsern Liebling Dühring5 hinab, der den Geschmack hat, sich in seiner Selbstbiographie6 geradezu als Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts zu präsentiren. (Bemerken Sie, wie Jemand sich zu Voltaire und Rousseau verhält: es macht den tiefsten Unterschied, ob er zum ersten Ja sagt oder zum zweiten. Die Feinde Voltaire's (zb. Victor Hugo, alle Romantiker, selbst die letzten Raffinirten der Romantik, wie die Gebrüder Goncourt) sind allesammt gnädig gegen den maskirten Pöbel-Mann Rousseau — ich argwöhne, daß auf dem Grunde der Romantik selbst etwas von pöbelhaftem Ressentiment zu finden ist..) Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche Canaille; aber ich bin der Meinung Galiani's: "un monstre gai vaut mieux V[oltaire] ist nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann … — Sehen Sie, welche warmen Gefühle, welche "Toleranz" bereits mein Ofen in mich überzuströmen beginnt… Bitte, lieber Freund, halten Sie sich diese Aufgabe gegenwärtig, Sie kommen nicht um dieselbe herum: Sie müssen in rebus musicis et musicantibus8 die strengeren Principien wieder zu Ehren bringen, durch That und Wort, und die Deutschen zu dem Paradoxon verführen, das nur heute paradox ist: daß die strengeren Principien und die heitere Musik zusammengehören … Treulich und dankbar Ihr Freund N. 1. From his mother.
Copenhagen, 26. November 1887: Verehrter Herr! Vor einem Jahre erhielt ich durch Ihreu Verleger Ihr Werk Jenseits von Gut und Böse; vor kurzem kam mir durch denselben Weg Ihr neuestes Buch zu. Ich besitze ausserdem von Ihnen "Menschliches, Allzumenschliches." Ich hatte eben die beiden Bände, die ich besass, nach dem Buchbinder geschickt, als das Werk "Zur Genealogie der Moral" ankam, ich habe es also nicht mit den früheren vergleichen können, wie ich es thun will. Nach und nach werde ich Alles von Ihnen aufmerksam lesen. Es drängt mich aber dies Mal, Ihnen sogleich meinen ernsten Dank für die Zusendung auszudrücken. Es ist mir eine Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, und solcherweise gekannt, dass Sie daran gedacht haben, mich als Leser zu gewinnen. Es weht mir ein neuer und ursprünglicher Geist aus Ihren Büchern entgegen. Ich verstehe noch nicht völlig was ich gelesen habe; ich weiss nicht immer wo Sie hinaus wollen. Aber vieles stimmt mit meinen eignen Gedanken und Sympathien überein, die Geringschätzung der asketischen Ideale und der tiefe Unwille gegen demokratische Mittelmässigkeit, Ihr aristokratischer Radikalismus. Ihre Verachtung der Moral des Mitleids ist mir noch nicht durchsichtig. Auch waren in dem anderen Werk Reflexionen über die Frauen im Allgemeinen, die mit meiner eigenen Gedankenrichtung nicht übereinstimmten. Sie sind so völlig anders organisirt als ich, dass ich Schwierigkeit empfinde, mich hineinzufühlen.1 Sie sind trotz Ihres Universalismus in Ihrer Denkart und Schreibart sehr deutsch. Sie gehören zu den wenigen Menschen, mit denen ich sprechen möchte. Ich weiss nichts über Sie. Ich sehe mit Staunen, dass Sie Professor, Doctor sind. Ich gratulire Ihnen jedenfalls dazu dass sie geistig so wenig Professor sind. Was Sie von mir kennen, weiss ich nicht. Meine Schriften versuchen nur bescheidene Aufgaben zu lösen. Die Mehrzahl existirt nur in dänischer Sprache. Seit mehreren Jahren habe ich nicht deutsch geschrieben. Ich habe in den slavischen Ländern mein bestes Publicum, glaub ich. Zwei Jahre nach einander habe ich in Warschau, und in diesem Jahr in [St.] Petersburg und Moskau Vorträge in französischer Sprache gehalten. So strebe ich aus den kleinen Verhältnissen meines Vaterlandes heraus. Obschon nicht mehr jung, bin ich noch immer einer der lernbegierigsten, neugierigsten Menschen. Deshalb werden Sie mich nicht gegen Ihre Gedanken abgeschlossen finden, selbst wo ich anders denke und fühle. Ich bin oft dumm, aber nie im geringsten bornirt. Erfreuen Sie mich mit einigen Zeilen wenn Sie es der Mühe werth halten. Ihr zum Dank verpflichteter 1. Cf. Georg Brandes, Copenhagen, 04-20-1890: Letter to August Strindberg in Värmdö, Sweden in response to a 04-12-1890 letter from Strindberg. See "August Strindberg — Georg Brandes: Breve." In: Tilskueren, 97-122 (104-106). In his letter, Brandes warns: "De maa endelig ikke fordybe Dem saaledes i Nietzsche. Der er et Element i ham som er at bruge, et andet, som leder Følelsen og Tanken vild. De er som Poet ikke mistroisk nok overfor Idégange. / Naturligvis skal de fattige i Aanden ikke ovenpaa, men ligesaa sikkert har den Undertrykte sin Ret, og N.s Lære kan løbe ud i Proklameren af den brutale Ret til at undertrykke." (Whatever you do, you must not immerse yourself so in Nietzsche. There is an element in him which can be used, and another which leads feeling and thought astray. As a poet you are not suspicious enough when faced with trains of thought. / Naturally the poor in spirit must not be allowed to dominate; but just as surely, the oppressed man has his rights, and N's teaching can develop into a proclamation of the brutal right to oppress.) Translation in: Walton Glyn Jones, Georg Brandes: Selected Letters. Norwich: Norvik Press, 1990, 164.
Nizza, 2. Dezember 1887: Verehrter Herr, ein paar Leser, die man bei sich selbst in Ehren hält und sonst keine Leser — so gehört es in der That zu meinen Wünschen. Was den letzten Theil dieses Wunsches angeht, so sehe ich freilich immer mehr, daß er unerfüllt bleibt. Um so glücklicher bin ich, daß zum "satis sunt pauci"1 mir die pauci nicht fehlen und nie gefehlt haben. Von den Lebenden unter ihnen nenne ich (um solche zu nennen, die Sie kennen werden) meinen ausgezeichneten Freund Jakob Burckhardt, Hans von Bülow, Ms. Taine,2 den Schweizer Dichter Keller;3 von den Todten den alten Hegelianer Bruno Bauer4 und Richard Wagner. Es macht mir eine aufrichtige Freude, daß ein solcher guter Europäer und Cultur-Missionär, wie Sie es sind, fürderhin unter sie gehören will: ich danke Ihnen von ganzem Herzen für diesen guten Willen. Freilich werden Sie dabei Ihre Noth haben. Ich selber zweifle nicht daran, daß meine Schriften irgendworin noch "sehr deutsch" sind: Sie werden das freilich viel stärker empfinden, verwöhnt, wie Sie sind, durch sich selbst, ich meine durch die freie und französisch-anmuthige Art, mit der Sprache umzugehn (eine geselligere Art im Vergleich zu der meinen).5 Viele Worte haben sich bei mir mit andren Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern: das kommt hinzu. In der Skala meiner Erlebnisse und Zustände ist das Übergewicht auf Seiten der seltneren ferneren dünneren Tonlagen gegen die normalen mittleren. Auch habe ich (als alter Musikant zu reden, der ich eigentlich bin) ein Ohr für Viertelstöne. Endlich — und das wohl am meisten macht meine Bücher dunkel — es giebt in mir ein Mißtrauen gegen Dialektik, selbst gegen Gründe. Es scheint mir mehr am Muthe, am Stärkegrade seines Muthes gelegen, was ein Mensch bereits für "wahr" hält oder noch nicht… (Ich habe nur selten den Muth zu dem, was ich eigentlich weiß).6 Der Ausdruck "aristokratischer Radikalismus,"7 dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe. Wie weit mich diese Denkweise schon in Gedanken geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird — ich fürchte mich beinahe mir dies vorzustellen. Aber es giebt Wege, die es nicht erlauben, daß man sie rückwärts geht; und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts muß. Damit ich meinerseits nichts versäume, was Ihnen den Zugang zu meiner Höhle, will sagen Philosophie erleichtern könnte, soll mein Leipziger Verleger Ihnen meine früheren Schriften en bloc übersenden. Ich empfehle in Sonderheit deren neue Vorreden zu lesen (sie sind fast alle neu herausgegeben) Diese Vorreden möchten, hintereinander gelesen, vielleicht etwas Licht über mich geben, vorausgesetzt, daß ich nicht dunkel an sich (dunkel an und für mich —) bin, als obscurissimus obscurorum virorum8 … — Dies wäre nämlich möglich. — Sind Sie Musiker? So eben giebt man ein Chorwerk mit Orchester von mir heraus, einen "Hymnus an das Leben."9 Derselbe ist bestimmt, von meiner Musik übrig zu bleiben und einmal "zu meinem Gedächtniß" gesungen zu werden: angenommen, daß sonst genug von mir übrig bleibt. Sie sehen, mit was für posthumen Gedanken ich lebe. Aber eine Philosophie, wie die meine, ist wie ein Grab — man lebt nicht mehr mit. "Bene vixit, qui bene latuit"10 — so steht auf dem Grabstein des Descartes. Eine Grabschrift, kein Zweifel! Es ist auch mein Wunsch, Ihnen einmal zu begegnen.11 Ihr NB. Ich bleibe diesen Winter in Nizza. Meine Sommeradresse ist: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. — Meine Universitäts-Professur habe ich aufgegeben. Ich bin drei Viertel blind. 1. "A few are enough." Cf. seventh letter of Seneca in Epistulae Morales Ad Lucilium (Letters from a Stoic: Epistulae Morales Ad Lucilium. Translated by Robin Campbell. Harmondsworth: Penguin, 1969: 42-44):
Nizza, 14. Dezember 1887: Lieber und werther Freund, es war ein sehr guter Augenblick, mir einen solchen Brief zu schreiben.1 Denn ich bin, fast ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbittlichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Mensch und Ding bei mir abzurechnen und mein ganzes "Bisher" ad acta zu legen. Fast Alles, was ich jetzt thue, ist ein Strich-drunter-ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erschrecklich, die letzten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer neuen und höheren Form übergehn muß, brauche ich zuallererst eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entpersönlichung. Dabei ist es wesentlich, was und wer mir noch bleibt. — Wie alt ich eigentlich schon bin? Ich weiß es nicht; ebensowenig, wie jung ich noch sein werde. — Ich betrachte mit Vergnügen Ihr Bild; es scheint mir viel Jugend und Tapferkeit drin zu sein, gemischt, wie es sich ziemt, mit beginnender Weisheit (und weißen Haaren? ..) In Deutschland beschwert man sich stark über meine "Excentricitäten."2 Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher "excentrisch" gewesen bin. Zum Beispiel, daß — ich Philologe war — damit war ich außerhalb meines Centrum (womit, glücklicher Weise, durchaus nicht gesagt ist, daß ich ein schlechter Philologe war) Insgleichen: heute scheint es mir eine Excentricität, daß ich Wagnerianer gewesen bin. Es war ein über alle Maaßen gefährliches Experiment; jetzt, wo ich weiß, daß ich nicht daran zu Grunde gegangen bin, weiß ich auch, welchen Sinn es für mich gehabt hat — es war meine stärkste Charakter-Probe. Allmählich disciplinirt Einen freilich das Innewendigste zur Einheit zurück; jene Leidenschaft, für die man lange keinen Namen hat, rettet uns aus allen Digressionen und Dispersionen, jene Aufgabe, deren unfreiwilliger Missionär man ist. Dergleichen ist sehr schwer aus der Ferne zu verstehn. Meine letzten zehn Jahre waren dadurch über die Maaßen schmerzhaft und gewaltsam. Falls Sie Lust haben sollten, mehr von dieser bösen und problematischen Geschichte zu hören, so seien Ihrer freundschaftlichen Theilnahme die Neuausgaben meiner früheren Schriften empfohlen, insbesondere deren Vorreden. (Anbei bemerkt: mein aus guten Gründen etwas desperater Verleger, der treffliche E. W. Fritzsch in Leipzig, ist bereit, Jedermann diese Neuausgaben auszuhändigen, vorausgesetzt, daß man ihm dafür einen längeren Essai (über "Nietzsche en bloc") verspricht. Die größeren Litteraturblätter, wie Lindau’s Nord und Süd,3 sind reif dafür, einen solchen Essai nöthig zu haben, da eine wirkliche Unruhe und Aufregung über die Bedeutung meiner Litteratur sich bemerkbar macht. Bisher hat noch Niemand genug Muth und Intelligenz gehabt, mich den lieben Deutschen zu entdecken: meine Probleme sind neu, mein psychologischer Horizont ist bis zum Erschrecken umfänglich, meine Sprache kühn und deutsch, vielleicht giebt es keine gedankenreicheren und unabhängigeren deutschen Bücher als die meinen) — Der Hymnus4 gehört auch zu diesem "Strich-drunter-ziehn." Können Sie ihn nicht sich einmal singen lassen? Man hat mir von verschiedenen Seiten schon die Aufführung in Aussicht gestellt (zb. Mottl in Carlsruhe).5 Seine eigentliche Bestimmung soll freilich sein, einmal "zu meinem Gedächtniß" gesungen zu werden: er soll von mir übrig bleiben, gesetzt, daß ich selbst übrig bleibe. Behalten Sie mich in guter Erinnerung, mein lieber Herr Doktor: ich danke Ihnen auf das Herzlichste dafür, daß Sie mir auch in der zweiten Hälfte Ihres Jahrhunderts zugethan bleiben wollen.6 Ihr Freund 1. Cf. Danzig, 11-20-1887: Letter from Carl Fuchs to Nietzsche in Nice.
Baden-Baden, Mitte Dezember 1887: Johannes Brahms erlaubt sich hierdurch seinen verbindlichsten Dank für Ihre Sendungen zu sagen; für die Auszeichnung, als welche er sie empfindet und die bedeutsamen Anregungen welche er Ihnen verdankt.1 In hoher Achtung ergeben 1. Cf. Nice, 11-08-1887: Letter to Constantin Georg Naumann in Leipzig, in which Nietzsche advised Naumann to send the German composer Johannes Brahms (1833-1897) a copy of Zur Genealogie der Moral (On the Genealogy of Morality). Nietzsche also advised Joseph Viktor Widmann (1842-1911), literary editor of Der Bund, to send Brahms a copy of Hymnus an das Leben (Hymn to Life). Brahms sent this perfunctory response. See Peter Gast, "Nietzsche und Brahms." In: Die Zukunft. Bd. 19. Berlin: Zukunft, 1897, 266-269. David S. Thatcher, "Nietzsche and Brahms: A Forgotten Relationship." In: Music & Letters. Vol. 54. No. 3 (July 1973): 261-280. Cf. Sils Maria, 07-18-1887: Letter to Heinrich Köselitz in Venice.
Copenhagen, 15. Dezember 1887: Verehrter Herr! Die letzten Worte Ihres Briefes1 sind die, welche am meisten Eindruck auf mich gemacht haben; die nämlich, dass Ihre Augen stark angegriffen sind. Haben Sie gute, die besten Augenärzte um Rath gefragt? Es ändert ja das ganze seelische Leben, wenn man nicht gut sieht. Allen, die Sie verehren, sind Sie es schuldig, das Mögliche für Erhaltung und Besserung Ihres Gesichts zu machen. Ich habe die Beantwortung Ihres Briefes aufgeschoben, weil Sie mir eine Sendung Bücher2 an kündigten, und ich Ihnen gern zugleich für den Empfang danken wollte. Da aber die Sendung noch nicht eingetroffen ist, will ich Ihnen heute ein Paar Worte schreiben. Ich habe Ihre Bücher von dem Buchbinder zurück und habe während ich Vorlesungen ausarbeite und allerlei literarische und politische Wirksamkeit habe treiben müssen, mich nach Vermögen darin vertieft. 17. December. Sie dürfen mich sehr gerne einen "guten Europäer" nennen, weniger gern einen "Cultur-Missionär." Alle Missionsthätigkeit ist mir ein Greuel geworden — weil ich nur moralisirende Missionäre gesehen habe — und an das, was man Cultur nennt, fürchte ich nicht recht zu glauben. Unsere Cultur als Ganzes kann nicht begeistern, nicht wahr? und was wäre ein Missionär ohne Begeisterung! D. h. ich bin vereinzelter als Sie glauben. Mit dem Deutschsein meinte ich nur, dass Sie mehr für sich schreiben, schreibend mehr an sich selbst denken, als an das grosse Publicum, während die meisten nichtdeutschen Schriftsteller sich haben zwingen müssen an eine gewisse Pädagogik des Stils, welche denselben zwar klarer und plastischer macht, aber alles Tiefe nothwendig verflacht und den Schriftsteller nöthigt sein intimstes und bestes Selbst, das Anonyme an ihm, für sich zu behalten. So erschrecke ich selbst bisweilen darüber wie wenig von meinem Innersten in meinen Schriften mehr als angedeutet ist. Ich bin kein musikverständiger Mensch.3 Die Künste, von welchen ich einen Begriff habe, sind Plastik und Malerei, ihnen verdanke ich meine tiefsten künstlerischen Eindrücke. Mein Gehör ist unentwickelt. Es ist mir in meiner Iugend ein grosser Schmerz gewesen. Ich habe viel gespielt auch einige Iahre mich mit Generalbass beschäftigt, aber ohne Erfolg. Ich kann gute Musik sehr stark geniessen, bin aber doch ein Uneingeweihter. Ich glaube in Ihren Werken gewisse Uebereinstimmungen mit meinem Geschmack zu spüren, die Vorliebe für Beyle4 z. B., auch die Vorliebe für Taine; ich habe ihn aber seit 17 Jahren nicht gesehen. Ich bin von seinem Werk über die Revolution nicht so entzückt wie Sie scheinen. Er bedauert und haranguirt ein Erdbeben.5 Ich gebrauchte das Wort "aristokratischen Radikalismus" weil es so genau meinen eigenen politischen Ueberzeugungen entspricht. Mich verletzt es aber ein wenig, wenn Sie in Ihren Schristen so schnell und heftig über Phänomene wie Socialismus oder Anarchismus absprechen. Der Anarchismus des Fürsten Krapotkin6 z. B. ist nicht dumm. Auf den Namen kommt es ja nicht an. Ihr Geist, der in der Regel so blendend ist, scheint mir ein wenig zu kurz zu kommen, wo die Wahrheit in der Nuance liegt. Im höchsten Grade interessiren mich Ihre Gedanken über Ursprung der moralischen Ideen. Sie theilen — zu meinem freudigen Erstaunen — einen gewissen Unwillen, den ich gegen Herbert Spencer7 hege. Bei uns gilt er für den Gott der Philosophie. Nur haben diese Engländer in der Regel den entschiedenen Vorzug, dass ihr weniger hochfliegender Geist Hypothesen scheut, während die Hypothese die deutsche Philosophie um ihre Weltherrschaft gebracht hat. Ist nicht viel Hypothetisches in Ihren Ideen über den Kastenunterschied als Quelle verschiedener Moralbegriffe?8 Ich kenne Rée, den Sie angreifen, habe ihn in Berlin gesehen; es war ein stiller, in seinem Betragen vornehmer Mensch, aber ein etwas trockner, beschränkter Kopf. Er lebte — nach seiner Aussage als Bruder und Schwester — mit einer ganz jungen intelligenten Russin zusammen, die vor ein Paar Iahren ein Buch herausgab: Der Kampf um Gott, das aber keinen Begriff von ihrer wirklichen Begabung mittheilen konnte.9 Ich freue mich auf den Empfang der Werke, die Sie mir versprechen. Es wäre mir lieb, wenn Sie mich in der Zukunft nicht aus den Augen verlieren. Ihr 1. "Ich bin drei Viertel blind." (I'm three-quarters blind.)
Nice, 20. Dezember 1887: Lieber Freund, selten in meinem Leben hat mir ein Brief solche Freude gemacht wie der Deinige vom 30. November. Es scheint mir, daß damit Alles zwischen uns auf das Rechtschaffenste und Gründlichste wieder in Ordnung gebracht ist.1 Ein solches Glück konnte gar nicht auf einen passenderen Zeitpunkt mir aufgespart bleiben, als es der jetzige ist. In einem bedeutenden Sinn steht mein Leben gerade jetzt wie im vollen Mittag: eine Thür schließt sich, eine andre thut sich auf. Was ich nur in den letzten Jahren gethan habe, war ein Abrechnen, Abschließen, Zusammenaddiren von Vergangnem, ich bin mit Mensch und Ding nachgerade fertig geworden und habe einen Strich drunter gezogen. Wer und was mir übrig bleiben soll, jetzt wo ich zur eigentlichen Hauptsache meines Daseins übergehn muß (überzugehn verurtheilt bin …) das ist jetzt eine capitale Frage. Denn, unter uns gesagt, die Spannung, in welcher ich lebe, der Druck einer großen Aufgabe und Leidenschaft, ist zu groß, als daß jetzt noch neue Menschen an mich herankommen könnten. Thatsächlich ist die Oede um mich ungeheuer; ich vertrage eigentlich nur noch die ganz Fremden und Zufälligen und, anderseits, die von Altersher und aus der Kindheit mir Zugehörigen. Alles Andre ist abgebröckelt oder auch abgestoßen worden (es gab viel Gewaltsames und Schmerzliches dabei —) Es bewegte mich, Deinen Brief, und Deine alte Freundschaft darin, gerade jetzt zum Geschenk zu erhalten. Etwas Ähnliches geschah im vorigen Sommer, als plötzlich Deussen2 im Engadin erschien, den ich 15 Jahre lang nicht gesehn hatte (— er ist der erste Philosophie-Professor Schopenhauerischer Confession und behauptet, daß ich die Ursache seiner Verwandlung sei) Insgleichen bin ich tief dankbar für Alles das, was ich dem Venediger maëstro3 verdanke. Ich habe ihn fast jedes Jahr besucht und darf Dir ohne jede Übertreibung sagen: er ist in rebus musicis et musicantibus4 meine einzige Hoffnung, mein Trost und mein Stolz. Denn er ist beinahe aus mir gewachsen: und das, was er jetzt von Musik macht, ist an Höhe und Güte der Seele und an Classicität des Geschmacks weit über Allem, was jetzt sonst von Musik gemacht wird. Daß man sich ablehnend und unanständig gegen ihn verhält und daß er ganze Jahre einer wirklichen Tortur durch Zurückweisungen, Taktlosigkeiten und deutsche Tölpeleien durchgemacht hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Aber dies ist die Moral der Geschichte: entweder geht man an den Widerwärtigkeiten des Lebens zu Grunde oder kommt stärker aus ihnen heraus. Auch Du, mein lieber alter Freund! Du Viel-Geprüfter! wirst diesen Satz unterschreiben können? — Es scheint mir, daß ich Dir dies Mal einen Geburtstagsbrief geschrieben habe? Ganz wie ehedem, in unsrer "guten alten" Zeit? (Ich bin Dir wirklich nicht einen Augenblick untreu geworden: sage das auch Deiner lieben Frau, zugleich mit meiner angelegentlichen Empfehlung!) In alter Liebe und Eben erschienen, bei E. W. Fritzsch: Hymnus an das Leben. Für gemischten Chor und Orchester componirt von Friedrich Nietzsche. Partitur.5 — Bitte, lies doch die neue Ausgabe der fröhlich Wissenschaft:6 — es ist Einiges zum Lachen darin. 1. Their friendship was severed by Gersdorff's affair with a woman, Nerina Finochietti, an Italian countess from a disreputable family. He was introduced to her by Malwida von Meysenbug, who later discovered and broadcast her true origins. Gersdorff responded by castigating Meysenbug in his correspondence with her, to which Nietzsche took great offense.
Nizza, Ende Dezember 1887: Man hat mir inzwischen schwarz auf weiß bewiesen, daß Herr Dr Förster auch jetzt noch nicht seine Verbindung mit der antis[emitischen] Bewegung aufgegeben hat.late-december- Ein Leipziger Tolpatsch und Biedermeyer (Fritsch,2 wenn ich mich recht erinnere) unterzog sich dieser Aufgabe, — er übersandte mir bisher regelmäßig, trotz meines energischen Protestes die antis[emitische] Corresp[ondenz]3 (ich habe nichts Verächtlicheres bisher gelesen als diese Correspondenz) Seitdem habe ich Mühe, etwas von der alten Zärtlichkeit und Schonung wie ich sie gegen Dich so lange gehabt habe zu Deinen Gunsten geltend zu machen, die Trennung zwischen uns ist ja nachgerade damit in der absurdesten Weise festgestellt. Hast Du gar nichts begriffen, wozu ich in der Welt bin? Willst Du einen Katalog der Gesinnungen die ich als antipodisch empfinde? Du findest sie ganz hübsch bei einander in den "Nachklängen zu[m] P[arsifal]"4 Deines Gatten; als ich sie las, gieng mir als haarsträubende Idee auf, daß Du nichts, nichts von meiner Krankheit begriffen hast, ebenso wenig als meine schmerzhafteste und überraschendste Erlebniß — daß der Mann,5 den ich am meisten verehrt hatte, in einer ekelhaften Entartung gradwegs in das überging, was ich immer am meisten verachtet hatte, in den Schwindel mit moralischen und christlichen Idealen. — Jetzt ist so viel erreicht, daß ich mich mit Händen und Füßen gegen die Verwechslung mit der antis[emitischen] Canaille wehren muß; nachdem meine eigne Schw[ester], meine frühere Schw[ester] wie neuerdings wieder Widemann6 zu dieser unseligsten aller Verwechslungen den Anstoß gegeben haben. Nachdem ich gar den Namen Z[arathustra] in der antis[emitischen] Correspondenz gelesen habe, ist meine Geduld am Ende — ich bin jetzt gegen die Partei Deines Gatten im Zustand der Notwehr. Diese erfluchten Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen!! Daß unser Name durch Deine Ehe mit dieser Bewegung zusammen gemischt ist, was habe ich daran schon gelitten! Du hast die letzten 6 Jahre allen Verstand und alle Rücksicht verloren. Himmel, was mir das schwer wird! Ich habe, wie es billig ist, nie von Dir verlangt, daß Du etwas von der Stellung [verstündest], die ich als Ph[ilosoph] zu meiner Zeit einnehme; trotzdem hättest Du, mit ein wenig Instinkt der Liebe, es vermeiden können, so geradewegs Dich bei meinen Antipoden anzusiedeln. Ich denke jetzt über Schwestern ungefähr so, wie Sch[openhauer]7 dachte, — sie sind überflüssig, sie stiften Unsinn. Ich genieße als Ergebniß der letzten 10 Jahre, daß [ich] die gutmüthige Illusion verloren habe, als ob irgend Jemand wüßte, worum es sich bei mir handelt. Ich bin Jahre lang in der Nähe des Todes gewesen: nicht eine Ahnung davon bei irgend Jemandem, warum. Und als ich wieder heil wurde und langsam wieder haben fast alle M[enschen] die ich kenne förmlich gewetteifert, meine Genesung durch die beleidigendste Mißhandlung immer wieder in Frage zu stellen: ich hüte mich nachgerade, mich mit gegenwärtigen M[enschen] einzulassen; denn meine Erinnerung in Betreff fast aller derer, die ich bis jetzt kenne, ist, daß ich von ihnen in den härtesten Zeiten meines Lebens schändlich mißhandelt worden bin Bis jetzt [habe ich es] freilich Niemandem vergessen, der sich in den letzten 10 Jahren an mir vergriffen hat: [doch lerne ich vielleicht auch das noch,] mein Gedächtniß hat wenig Platz für meine Erlebnisse es war mir z. B. bisher unmöglich, Overbecks in Basel zu besuchen, weil [ich] es Frau Overbeck nicht vergeben hatte, daß sie sich schmutzige und unwürdige Vorstellungen über ein [Wesen gebildet hatte,] von dem ich ihr selbst gesagt habe, daß es die einzige Verwandte Natur ist, der ich bisher im Leben begegnet bin.8 Dasselbe gilt auch von Malvida9 und im Grunde von allen meinen alten Bekannten: man hat in diesem Punkte meine Ehre bis diese[m] Augenblick nicht wieder hergestellt. Der Besuch des vortreffl[ichen] Deussen10 erinnerte mich an diese Sachlage. 3. Ich habe allzulange aus einer gewissen absurden Gutmüthigkeit vorausgesetzt, daß man ungefähr wisse, worum es sich bei mir handele (z. B. warum ich Jahrelang in der nächsten Nachbarschaft des Todes gelebt habe.) Nun, Schritt für Schritt bin ich hierüber (daß Niemand etwas von mir weiß) "wissend" geworden; und das Beste ist, daß ich, seitdem ich das "weiß," mich besser unabhängiger [unbefangener] wohlwollender gegen Jedermann gestimmt fühle. Ich habe mich jetzt in die Lage geschickt, zu der ich mich bisher nur [immer] "verurtheilt" fühlte (nämlich nie einen verwandten Laut zu hören) mehr noch, ich habe eben darin das Auszeichnende meiner Lage, meines Problems, meiner neuen Fragestellung begriffen. Ich lerne es mich in die Lage zu schicken zu der ich mich bisher immer verurtheilt glaubte: nämlich nie einen verwandten Laut zu hören 1. Elisabeth's husband, Bernhard Förster (1843-1889), a leader of the German anti-Semitic movement in the late 1870s and founder of the failed Paraguayan colony, "Nueva Germania." Förster eventually committed suicide. The "proof" referred to by Nietzsche was Förster's article "Unsere Arbeit, unsere Ziele!" See above. |
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