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Rapallo, 20. Januar 1883: Lieber Freund, es geht gar nicht gut, und am besten wäre es, ich schwiege davon. Am Anfang Februar will ich nach Genua übersiedeln ich werde in dem gleichen Hause wohnen, wo ich vorigen Winter verlebte.1 Einen Ofen werde ich nicht haben ich habe auch hier keinen. Gefroren hab ich diesen Winter wie noch nie, auch nie so schlecht gegessen. Übrigens geht die Gesundheit stark rückwärts. Ich verstehe jetzt, welchen Werth für alle Einsiedler der Menschenhaß gehabt hat. Leider bin ich zum Gegentheil geartet. Auch wünschte ich, ich hätte einen felsenfesten Glauben an mich selber: aber dazu bin ich noch weniger angelegt. Ich bin schon viel zu viel krank dazu: und jeder Umschlag des Wetters, jeder trübe Himmel bringt in mir eine große Beängstigung hervor. Das Wetter letzten Sommers in Deutschland und diesen Winters hier ist das Schlimmste, was mir an physischen Widerwärtigkeiten begegnen kann. Im Grunde ist "die fröhliche Wissenschaft" nur eine überschwängliche Art sich zu freuen, daß man einen Monat reinen Himmel über sich gehabt hat.2 Man wird eben als Leidender sehr bescheiden und übertrieben dankbar gesinnt — was ich auch in Bezug auf andre Dinge3 im verflossenen Jahre viel zu viel gewesen bin. Das "moralische" Schluß-Ergebniß dieses bösen Jahres heißt so: man hat mich dasselbe Gift hundertmal und in den verschiedensten Dosen schlucken lassen, das Gift "Geringschätzung," von der schnöden Gleichgültigkeit an bis zur tiefen Verachtung. Das hat bei mir einen Zustand hervorgebracht wie bei einer Phosphorvergiftung: ewiges Erbrechen, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit usw. Ich habe Jahre lang nichts von außen her erlebt: im verflossenen Jahre aber sehr viel, leider immer dasselbe. Drum werde ich's so schwer los. Das beneficium mortis4 erlange ich aber nicht von mir ich will noch etwas von mir und darf mich durch schlechtes Wetter und schlechten Ruf daran nicht hindern lassen. Deutschland ist jetzt für mich eine üble Gegend: gerade die Art Menschen, welche ich dort achte, ist mir äußerst abgeneigt; und die Deutschen sind so ungeschickt in ihren Abneigungen, daß sie immer gleich auch taktlos-unhöflich werden. Ich bin als Student achtungsvoller behandelt worden als im letzten Jahre. So weiß ich denn gar nicht, wo ein, wo aus. Wüßte ich Jemanden, der mich nach Spanien begleitete! Für Europa sind dort die besten Möglichkeiten reinen Himmels. (Ich bin durch eine Abhandl[ung] in Perthes geogr[aphischer] Zeitschrift sehr gut über Mittelmeer-Klima unterrichtet.5) Frau Rothpletz6 erfreute mich Neujahr mit einem äußerst gütigen Briefe: sie stellt die Möglichkeit hin, daß wir uns alle zusammen im Sommer wiederfinden etwa in Tirol oder Südbayern. Aber, wie gesagt, ich fürchte Deutschland. Ich habe einiges Vertrauen zu irgend einer grandiosen Alpen-Wildniß: ich muß mir Muth machen. Und immer mehr sehe ich ein, daß ich nicht mehr unter Menschen passe ich mache lauter Thorheiten (ich bin, im Vertrauen gesagt, 1) viel zu aufrichtig und 2) bis zum Exceß gutmüthig, so daß alles Unrecht immer auf mir liegen bleibt was auf die Dauer ein sehr übles Resultat giebt. Adieu, mein lieber Freund, ich bemühe mich allen denen wohlwollend und gerecht zu sein, welche es nicht gegen mich sind. Den herzlichsten Gruß an Deine liebe Frau, und die besten Wünsche für Euch Beide. F.N. Köselitzens Erlebnisse haben manches Parallele mit den meinigen. Aber er hat einen Vorsprung vor mir: er ist vollkommen gesund. 1. Nietzsche stayed in Rapallo until 02-23-1883 at a house located at Salita delle Battestine 8.
Rapallo, 10. Februar 1883: Lieber Freund das Geld1 ist in meinen Händen: und wieder dachte ich darüber nach, welche unangenehme Mühsal ich Dir nun seit Jahren mache. Vielleicht hat es nun bald sein Ende. Ich will es Dir nicht verhehlen, es steht schlecht mit mir. Es ist wieder Nacht um mich; mir ist zu Muthe, als hätte es geblitzt ich war eine kurze Spanne Zeit ganz in meinem Elemente und in meinem Lichte. und nun ist es vorbei. Ich glaube, ich gehe unfehlbar zu Grunde, es sei denn, daß irgend Etwas passirt, ich weiß durchaus nicht was. Vielleicht, daß mich Jemand aus Europa wegschleppte ich, mit meiner physikalischen Denkungsweise, sehe in mir jetzt das Opfer einer terrestrisch-klimatischen Störung, der Europa ausgesetzt ist. Was kann ich dafür, daß ich einen Sinn mehr habe und eine neue furchtbare Leidensquelle! Selbst so zu denken ist schon eine Erleichterung so brauche ich doch nicht die Menschen als Ursachen meines Elends anzuklagen. Obwohl ich dies könnte! Und nur zu viel auch thue! Alles, worauf ich in meinen Briefen an Dich hingedeutet habe, ist nur das Nebenbei ich habe eine solche vielfache Last qualvoller und gräßlicher Erinnerungen zu tragen! So ist es mir zum Beispiel noch nicht Eine Stunde aus dem Gedächtnisse weggeblieben, daß mich meine Mutter eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat.2 Von anderen Beispielen will ich schweigen aber ein Pistolenlauf ist mir jetzt eine Quelle relativ angenehmer Gedanken. Mein ganzes Leben hat sich vor meinen Blicken zersetzt: dieses ganze unheimliche verborgen gehaltene Leben, das alle sechs Jahre einen Schritt thut und gar nichts eigentlich weiter will als diesen Schritt: während alles Übrige, alle meine menschlichen Beziehungen, mit einer Maske von mir zu thun haben, und ich fortwährend das Opfer davon sein muß, ein ganz verborgenes Leben zu führen. Ich bin den grausamsten Zufällen immer ausgesetzt gewesen oder vielmehr: ich bin es, der aus allen Zufällen sich Grausamkeiten gemacht hat. Dies Buch,3 von dem ich Dir schrieb, eine Sache von 10 Tagen, kommt mir jetzt wie mein Testament vor. Es enthält in der größten Schärfe ein Bild meines Wesens, wie es ist, sobald ich einmal meine ganze Last abgeworfen habe. Es ist eine Dichtung und keine Aphorismen-Sammlung. Ich fürchte mich vor Rom4 und kann mich nicht entschließen. Wer weiß, welche Tortur dort auf mich wartet! So habe ich mich daran gemacht, mein eigner Abschreiber zu sein. Was soll ich thun unter diesem Himmel und Wetter-Wechsel! Ah diese Beängstigung! Und dabei weiß ich, daß, relativ, am Meere es noch "am besten geht"! Mit herzlichem Danke und Dir und Deiner lieben Frau das Beste wünschend F.N. 1. Overbeck sent Nietzsche's pension.
Rapallo, 13. Februar 1883: Geehrtester Herr Verleger, Ihr Gruß1 war zufällig das erste Zeichen von Theilnahme, welches ich in Genua empfieng. Heute habe ich Ihnen etwas Gutes zu melden: ich habe einen entscheidenden Schritt gethan und ich meine nebenbei, auch einen solchen, der Ihnen nützlich sein soll. Es handelt sich um ein kleines Werk2 (kaum hundert Druckseiten), dessen Titel ist
Es ist eine "Dichtung," oder ein fünftes "Evangelium" oder irgend Etwas, für das es noch keinen Namen giebt: bei weitem das Ernsteste und auch Heiterste meiner Erzeugnisse, und Jedermann zugänglich. So glaube ich denn, daß es eine "sofortige Wirkung" thun wird zumal jetzt, nach verschiedenen Anzeichen zu schließen, die langsame und widerstrebende Art, sich mit mir zu beschäftigen, jetzt an einen gewissen Punkt gelangt ist Zufällig erfahre ich sowohl aus Wien3 wie aus Berlin, daß unter "intelligenten Männern" viel von mir geredet wird. Ich machte Sie auf Herrn Brandes, den Culturhistoriker aufmerksam, der jetzt in Berlin ist: es ist der geistreichste der jetzigen Dänen. Ich erfahre, daß er sich eingehend mit mir beschäftigt hat. Unsre "Bedingungen" des Verlags sind uns Beiden bekannt. Nur muß ich diesmal auf zwei Äußerlichkeiten besonderen Werth legen, weil dieses Buch als eine Spitze meiner bisherigen Bücher erscheinen soll. Bei ganz gleichem Formate und Drucke bitte ich um eine schwarze Linie, welche den Text jeder Seite einfaßt: so ist es einer Dichtung würdiger. Und dann: ein stärkeres Velin! Geben Sie mir gefälligst eine umgehende Benachrichtigung, ob ich Ihnen das Werk schicken soll. Ich arbeite mit allen "Kräften" (oh meine Augen!) selber an der Abschrift, und will, daß, im Falle Sie einverstanden sind, Teubner4 diese 6 Bogen in der größten Schnelligkeit absolvirt. Für mich ist die Zeit einer "Drucklegung" immer ein Krankheits-stadium. Deshalb so schnell als möglich! Mit den besten Wünschen Ihnen Santa Margherita Ligure, (Aufrichtig, ich schäme mich von "sofortiger Wirkung" zu sprechen; aber ich thue es Ihretwegen, der Sie vernünftiger Weise ganz andre Werthschätzungen im Kopfe tragen müssen als ich. Pardon!) 1. The letter is lost.
Rapallo, Mitte Februar 1883: Sie haben Einem Ziele gelebt und ihm jedes Opfer gebracht; über den Menschen hinaus empf[anden] Sie das Ideal dieses Einen, und ihm, welches nicht stirbt, gehören Sie, gehört Ihr Name für immer.1 und über die Liebe jenes Menschen hinaus erfaßten Sie das Höchste, was seine Liebe und seine Hoffnung erdachten: Dem dienten Sie, Dem gehören Sie und Ihr Name für immerdar — dem was nicht mit einem M[enschen] stirbt, ob es schon in ihm geboren wurde So sehe ich heute auf Sie, und so sah ich, wenn gleich aus großer Ferne, immer auf Sie, als auf die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt. Wenige wollen so etwas: und von den Wenigen: wer kann es so wie Sie!
Sie haben es sich früher nicht verwehrt in ernsten Lagen auf meine Stimme zu hören: und eben jetzt, wo mich die erste Nachricht ereilt, daß Sie das Ernsteste jetzt erlebt haben, weiß ich mein Gefühl nicht anders auszuschütten als indem ich ganz an Sie und nur an Sie allein es richte weiß ich nicht anders zu thun als ich es früher that als die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt. Wir sind nicht Gegner in kleinen Dingen gewesen nicht was Sie verlieren, sondern was Sie jetzt besitzen, steht mir vor der Seele: und es wird wenig M[enschen] geben, die mit Einem so tiefen Gefühl sagen: so war es Alles meine Pflicht — es war auch mein ganzer Besitz — was ich um diesen Einen that, und nichts [— — —]
Ich denke, ich spreche mit diesem Allem von Ihnen meine hochverehrte Frau? Aber ich denke, ich sprach mit diesem Allem auch ganz und gar von ihm. Ja es ist jetzt schwer geworden, von Ihnen allein zu reden. — ich glaube durchaus nicht an irgendwelche noch versteckte Welten, aus denen etwas Tröstungen zu entnehmen wären. Das Leben ist genau so tief und schwerwiegend als wir es tief [und] schwerwiegend zu machen wissen: aber es giebt Einige die aus hundert furchtbaren Zufällen die nicht in unserer Hand stehen, immer wieder Vernunft und Schönheit aufzurichten wissen durch den Glauben an V[ernunft] und Sch[önheit] — das ist nun der beste gute Wille und die beste gute Kraft, das war und ist im Höchsten Ihre Kraft. Es ist immer noch Kampf; und die ersten Bollwerke sind immer noch zu erstürmen. Da ist der Anblick des Lebens hart, gräßlich, — und wenn man Einen sieht, der um neuer Farben und Töne willen, wie ein — — — Sie haben es sich früher nicht verwehrt, in ernsten Lagen auch meine Stimme [zu] hören: und jetzt, wo die Kunde zu mir kommt, daß das Ernsteste Sie getroffen hat, weiß ich nicht anders zu thun als ich früher that und bitte Sie desgleichen zu thun — ich habe kein Mittel, das Gefühl, das mir diese Kunde giebt, auszuhalten als indem ich es ganz auf Sie und nur allein auf Sie richte. Nicht was Sie verlieren, sondern was Sie jetzt erst besitzen, soll nun vor meiner Seele stehn: wie Sie jetzt wohl zu sich sprechen dürfen: dies nun habe ich vollbracht, so wollte es meine Pflicht, was ich um diesen Einen that, und Alles habe ich gethan und dargebracht und mich nicht geschont, ich war unerbittlich, und wo ist der Tropfen Blutes, den ich für mich behielt: eine tiefe Ruhe hinter allem Schmerze: ich fühle es. Und so habe ich es einstmals gewollt." — bis um letzten Blutstropfen sich vergeben und ohne Schonung so — — — Über die Liebe jenes Menschen hinaus erfaßte ich das Höchste, was seine Hoffnung erdachte: dem diente ich, und diesem Höchsten, das nicht stirbt, gehöre ich an und mein Name für immerdar. So sehe ich heute auf Sie, und so sah [ich], wenn gleich aus großer Ferne, immer auf Sie — als auf die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt. Wenige wollen so etwas von sich wie Sie es wollen: und von diesen Wenigen — wer kann es dann so wie Sie es können und konnten! Ein Kampf ist fortwährend, jedes große Leben durch und durch, und es gäbe Gründe über Gründe, wenn der Anblick eines solchen kämpfenden Lebens immer hart und gräßlich wäre. 1. Richard Wagner died on February 13, 1883. Nietzsche's actual letter of condolence is lost.
Rapallo, 19. Februar 1883: Lieber Freund, jeder Ihrer letzten Briefe war eine Wohlthat für mich: ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür. Dieser Winter war der schlechteste meines Lebens; und ich betrachte mich als das Opfer einer Natur-Störung. Das alte Sündfluth-Europa bringt mich noch um: aber vielleicht kommt mir noch ein Mensch zu Hülfe und schleppt mich auf die Hochlande von Mexico.1 Allein kann ich solche Reisen nicht unternehmen: das verbieten die Augen und einiges Andre. Die ungeheure Last, die in Folge des Wetters auf mir liegt (sogar der alte Aetna beginnt zu speien!) hat sich bei mir in Gedanken und Gefühle verwandelt, deren Druck furchtbar war: und aus dem plötzlichen Loswerden von dieser Last, in Folge von 10 absolut heitern und frischen Januartagen, die es gab, ist mein "Zarathustra" entstanden, das losgebundenste meiner Erzeugnisse. Teubner druckt bereits daran;2 ich selber habe die Abschrift gemacht. Übrigens meldet Schmeitzner, daß im vergangnen Jahre alle meine Schriften besser gekauft worden sind, und ich erfahre sonst allerlei über eine wachsende Theilnahme. Sogar ein Mitglied des Reichstags und Anhänger Bismarcks (Delbrück)3 soll seinen äußersten Unwillen darüber ausgedrückt haben, daß ich nicht — in Berlin lebe, sondern in St. Margherita!! Verzeihen Sie dies Geschwätz, Sie wissen, was mir sonst jetzt gerade im Kopfe und am Herzen liegt. Ich war einige Tage heftig krank und machte meinen Wirthen Besorgnisse. Es geht nun wieder, und ich glaube sogar, daß der Tod Wagners4 die wesentlichste Erleichterung war, die mir jetzt geschafft werden konnte. Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat, und ich bin nicht grob genug dazu gebaut. Zuletzt war es der altgewordne Wagner, gegen den ich mich wehren mußte; was den eigentlichen Wagner betrifft, so will ich schon noch zu einem guten Theile sein Erbe werden (wie ich es oft gegen Malvida gesagt habe) Im letzten Sommer5 empfand ich, daß er mir alle die Menschen weggenommen hatte, auf welche in Deutschland zu wirken überhaupt Sinn haben kann, und sie in die verworrne wüste Feindseligkeit seines Alters hineinzuziehn begann. Es versteht sich, daß ich an Cosima geschrieben habe. Im Übrigen, alter Freund, auch Ihnen hat sich mit diesem Tode der Himmel aufgehellt. Es ist jetzt Verschiedenes möglich zB. daß wir noch einmal im Bayreuther "Tempel" sitzen, um Sie zu hören. Was Ihre Worte über Lou betrifft, so habe ich sehr lachen müssen. Glauben Sie denn, daß ich darin einen andern "Geschmack" habe als Sie? Nein, durchaus nicht! Aber im gegebnen Falle handelte es sich verdammt wenig um "mit oder ohne Liebreiz," sondern darum, ob ein groß angelegter Mensch zu Grunde geht oder nicht. — Also die Correcturen dürfen wieder zu Ihnen laufen, mein alter hülfreicher Freund? Schönsten Dank für Alles. FN. 1. Cf. 08-14-1881 letter to Heinrich Köselitz.
Rapallo, 21. Februar 1883: Liebe verehrte Freundin, so geht es! Ich warte Tag um Tag um Ihnen schreiben zu können: "ich komme!", weil ich Tag um Tag denke, es wird besser gehn. Aber es geht immer schlechter, und jetzt, nach dem Tode Wagner's1 zumal, ganz schlecht. Meine Gesundheit ist jetzt, wie Februar 1883 vor drei Jahren; es ist Alles krank an mir, und ich will und mag keinen Menschen sehn und sprechen. Es soll mein altes strenges Selbst-Régime noch einmal versucht werden: denn mein Erfahrungs-satz ist "wenn ich mir selber nicht allein helfe, werde ich keine Hülfe finden." Das heißt also: ich komme nicht nach Rom.2 W[agner]s Tod hat mir fürchterlich zugesetzt; und ich bin zwar wieder aus dem Bett, aber keineswegs aus der Nachwirkung heraus. — Trotzdem glaube ich, daß dies Ereigniß, auf die Länge hin gesehn, eine Erleichterung für mich ist. Es war hart, sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man so verehrt und geliebt hat, wie ich W[agner] geliebt habe; ja, und selbst als Gegner sich zum Schweigen verurtheilen müssen — um der Verehrung willen, die der Mann als Ganzes verdient. W[agner] hat mich auf eine tödtliche Weise beleidigt — ich will es Ihnen doch sagen! — sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich empfunden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, insofern ich einem Geiste, der dieses Schrittes fähig war, gehuldigt hatte.3 Dies so stark zu empfinden — dazu bin ich durch unausgesprochne Ziele und Aufgaben gedrängt. Jetzt sehe ich jenen Schritt als den Schritt des alt werdenden Wagner an; es ist schwer, zur rechten Zeit zu sterben. Hätte er noch länger gelebt, oh was hätte noch zwischen uns entstehen können! Ich habe furchtbare Pfeile auf meinem Bogen, und W[agner] gehörte zu der Art Menschen, welche man durch Worte tödten kann. — Dies war bei weitem der härteste und qualvollste Winter meines Lebens, und mein Leid gieng außerordentlich in die Tiefe und die Abgründe; — die Anlässe dazu sind fast gleichgültig. Es gab irgend eine große Nothwendigkeit für mich, einmal gemartert zu werden und zu sehn, ob mein Ziel mich leben läßt und am Leben festhalten läßt. Der Tod Wagner's gab in diese Empfindungen hinein einen tiefen dumpfen Donner; aber vielleicht geht mein Ungewitter jetzt seinem Ende zu. Mit der wärmsten Dankbarkeit Ich habe an Cosima geschrieben.4 Sie werden dies billigen? 1. Richard Wagner died on February 13, 1883.
Genua, 6. März 1883: Lieber Freund, Dein Brief1 that mir herzlich wohl. Verzeihung, wenn ich jetzt wenig schreibe. Ich bin krank, fast vom Augenblick an, wo ich Genua betrat. Fieber, Kopfschmerz, Nachts Schweiß, große Müdigkeit. Zumeist zu Bett; ich habe weder Appetit noch Geschmack. Man nennt diese Krankheit hier Influenza. Dr. Breiting2 (der erste Arzt Genua's und mir äußerst zugethan) hat mir Chinin verordnet; das hatte ich mir natürlich auch selber schon verordnet. — Es soll eine Sache von 4-6 Wochen sein. Wie gut, daß ich allein und nicht in Rom bin! Sonst sieht der Himmel fortwährend rein und klar aus, und auch in mir ist Alles geordneter und zufriedener. Ich begreife eine gewisse Nothwendigkeit für mich, darin, daß ich so gelitten habe; ich habe mir drei oder vier Glücks-Wünsche persönlicher Art, die ich noch hatte, damit aus der Seele geschnitten, und bin wieder freier als ich es vorher war. — Die Loslösung von meinen Angehörigen fängt an, sich mir als wahre Wohlthat darzustellen; ach, wenn Du wüßtest, was ich in diesem Capitel (seit meiner Geburt —) Alles zu überwinden gehabt habe! Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen; ich bin immer krank geworden, wenn ich mit ihnen zusammen war. "Gezankt" haben wir uns fast gar nicht, auch im vorigen Sommer nicht; ich weiß schon mit ihnen umzugehen, aber es bekommt mir schlecht. Eine andere "Befreiung" will ich Dir nur andeuten: ich habe es abgelehnt, daß Rée's Hauptbuch "Geschichte des Gewissens" mir gewidmet wird — und damit einem Verkehre ein Ende gesetzt, aus dem manche unheilvolle Verwechslung entstanden ist. — Ob mein letztes Werk gedruckt wird, ist mir zweifelhaft; ich höre und sehe nichts mehr davon. Nun, es hat auch Zeit! — Malvida schrieb mir eben, auch von Frau Wagner "C[osima] will für die Welt, uns Alle einbegriffen, ebenso abgeschieden sein wie er, will nie die Freunde wiedersehn, nie einen Brief mehr lesen, kurz wie eine Nonne leben, nur seinem Andenken und den Kindern."3 — Ungefähr will ich's ebenso machen, wenn auch nicht aus gleichen Motiven. Ich werde "verschwinden" — ich glaube, das habe ich schon vom Engadin aus Dir einmal in Aussicht gestellt. Vorher aber bedarf ich noch vieler Erwägungen und auch einer langen persönlichen Unterredung mit Dir. Mein Leben gestaltet sich allmählich und nicht ohne Krämpfe — aber es soll Gestalt bekommen! So! Und nun will ich mich wieder hinlegen. Was ich müde bin! Dir und Deiner verehrten Frau immer auf das dankbarste eingedenk F.N. Dienstag den ? Deussens Vedanta-Werk4 ist ausgezeichnet. Übrigens bin ich für diese Philosophie beinahe das böse Princip. 1. Unknown letter.
Genua, 2. April 1883: Werthester Herr Verleger "es steht nicht in meiner Macht,"1 den Zarathustra-Text zu Gunsten der ängstlichen Leipziger zu verändern — und es freut mich zu hören, daß Sie selber in dieser Beziehung mich und meine Unabhängigkeit vertreten haben. Was übrigens "den Staat" betrifft: so weiß ich, was ich weiß. Mag man mich zu den "Anarchisten" rechnen, wenn man mir übel will: aber gewiß ist, daß ich europäische Anarchien und Erdbeben in ungeheurem Umfange voraussehe. Alle Bewegungen führen dahin — Ihre antijüdische eingerechnet.2 Aus einiger Entfernung gesehn sieht der "Antisemitismus" ganz und gar so aus wie der Kampf gegen die Reichen und die bisherigen Mittel, reich zu werden. Verzeihung! Wie komme ich dazu zu politisiren! — Was das Titelblatt zu Zarathustra betrifft: so schlage ich diesmal etwas Neues vor, nämlich daß darauf gar nichts weiter steht als Also Sehr groß natürlich und in rother Farbe, auf blaßgrünem Grunde. Was urtheilen Sie? Eine vorläufige Anzeige durch die Augsburger Zeitung würde ich rathsam finden. Ja keine Reclame, lieber Herr Schmeitzner — es würde der "übermenschlichen" Vornehmheit der Zarathustra-Tendenzen Abbruch thun. Sie sprachen in Ihrem letzten Briefe von Geld-Überfluß oder etwas Ähnlichem. Wenn es Ihnen bequem fällt, so hätte ich gerne das Honorar hierher und bald — und zwar in französischem Papier. Gesetzt, daß es 6 Bogen werden, so betrüge die Summe gerade frs. 300. Bitte, es in einem recommandirten Briefe zu senden, an meine angegebene Adresse, ohne eine Bezeichnung, daß Geld darin ist. Bisher habe ich auf diese Art mir alles Geld schicken lassen. — Treiben Sie ja doch die Druckerei vorwärts! Ich will Genua verlassen und mit Schiff: und vorher soll Alles fertig corrigirt sein! Mit herzlichem Gruß und Dank der Ihre Schlimmer als "starke Ausdrücke"3 sind — "schwache Ausdrücke" 1. A quote from a lost letter of Schmeitzner.
Genua, um den 3./4. April 1883: Verehrte Freundin, inzwischen habe ich meinen entscheidenden Schritt gethan, Alles ist in Ordnung.1 Um einen Begriff davon zu geben, worum es sich handelt, lege ich den Brief meines ersten "Lesers" bei — meines ausgezeichneten Venediger Freundes,2 der auch diesmal wieder mein Gehülfe beim Druck ist. — Ich verlasse Genua, sobald ich kann und gehe in die Berge: dieses Jahr will ich Niemanden sprechen. Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache hat einen: ich bin der Antichrist.3 Verlernen wir doch ja das Lachen nicht! Ganz ergeben der Ihre Genova, Salita della Battestine 8 (interno 4). 1. The publication of Also sprach Zarathustra, I. Genua, um den 20. April 1883: Wollen Sie nicht ein wenig mit lachen, hochverehrte Freundin? Ich lege eine Karte1 bei, vom Verfasser jenes Briefes — Erwägen Sie doch, es ist gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts! Und der Schreiber ist ein anscheinend vernünftiger Mensch ein Skeptiker — fragen Sie nur meine Schwester! Es ist eine wunderschöne Geschichte: ich habe alle Religionen herausgefordert und ein neues "heiliges Buch" gemacht! Und, in allem Ernste gesagt, es ist so ernst als irgend eines, ob es gleich das Lachen mit in die Religion aufnimmt. Wie geht es Ihrer Gesundheit? Ich war im Ausgange des Winters schlimm daran: ein heftiges Fieber hat mich fast fünf Wochen gequält und ans Bett gefesselt. Wie gut, daß ich allein lebe! Nicht wahr, Sie heben mir die beiden Curiosa auf oder senden Sie gelegentlich zurück? Bis zum 25ten bin ich (was ich im Grunde sehr bin) noch Genuese. Von Herzen Sie verehrend Die Bemerkung auf der Mitte der Karte ist gut. In der That habe ich das Kunststück (und die Thorheit) "begangen," die Commentare eher zu schreiben als den Text. Aber wer hat sie denn gelesen? Ich meine: jahrelang studirt? Ein Einziger, so viel ich weiß: dafür hat er nun auch seine Freude am Texte. In Deutschland fand ich voriges Jahr die Oberflächlichkeit des Urtheils bis zu dem Punkte des Blödsinns gereift, daß man mich mit Rée verwechselte. Mit Rée!!! Ich meine, Sie wissen, was das sagen will. — 1. Cf. Nietzsche's 04-02-1883 letter to Heinrich Köselitz: "Zarathustra kommt jetzt an die Reihe. Was stand ihm im Wege? Eine halbe Million christlicher Gesangbücher, die Teubner bis Ostern fertig machen mußte. Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser 'Zarathustra'? Ich glaube beinahe, unter die 'Symphonien.' Gewiß ist, daß ich damit in eine andere Welt hinübergetreten bin — der 'Freigeist' ist erfüllt. Oder? (Now it's Zarathustra's turn. What was standing in his way? Half a million Christian hymnals, which [the printer] Teubner had to finish by Easter. Under what rubric does this "Zarathustra" actually belong? I almost think under "symphonies." It's certain that in it I stepped into another world — the "free spirit" was fulfilled. Right?) On 04-06-1883 Köselitz replied with the above-referenced postcard: "Unter welche Rubrik Ihr neues Buch gehört? — Ich glaube fast: unter die 'heiligen Schriften.'" (Under what rubric does your new book belong? — I almost think: under "Holy Scriptures.")
Elisabeth Nietzsche. By: Louis Held, Weimar. From b/w photo, ca. 1882. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Genua, 27. April 1883: Meine liebe Schwester, es war der reine Zufall, daß Dein Brief1 in meine Hände kam, denn ich gehe nicht mehr wie sonst zur Post. Aber es soll ein guter Zufall gewesen sein: und so will ich Dir denn gleich antworten. Es freut mich von Herzen, daß Du nicht mehr Krieg gegen Deinen Bruder führen willst. Zu alledem bin ich jetzt auf einem Punkte angelangt, in dem man nicht mehr Krieg gegen mich führen darf, wenn man "weise" und meine Schwester ist. — Es war mein schwerster und kränkster Winter; abgerechnet 10 Tage, welche mir gerade genügten, um Etwas zu machen, um dessentwillen sich mein ganzes schweres und krankes Dasein lohnt. Ich hatte aus meiner kurzen "Rückkehr zu den Menschen" eine solche Summe von widerlich-schauerlichen Eindrücken mitgenommen, daß ich eine Zeitlang ihre Last zu schwer fand. Nun, ich bin über Vieles in meinem Leben schon Herr geworden; aber es gab darin manche heftige Überwindung, um "dem Leben überhaupt" gut zu bleiben und meine persönlichen Erfahrungen als unwesentlich bei einer solchen Gesammtabschätzung durchzustreichen. Dies habe ich denn auch diesen Winter wieder gethan: und auf die Dauer werde ich auch alle meine menschlichen Beziehungen, die einstweilen etwas verwirrt sind, wieder in Ordnung gebracht haben, — mit Dir anzufangen.2 Und dies wäre der Anfang, daß ich jetzt nach Rom komme.3 In der That, der Frühling kommt spät, unsre Küstengebirge hier tragen noch Schneekronen. So habe ich denn noch einen Monat Zeit. Bitte, verhilf mir zu einem guten Zimmer, worin man sich recht ausruhen kann, ich bin oft so müde. Auch kann man mir in Betreff der Stille nirgends mehr genug thun. Die "ewige Stadt"! Ich bin ihr nicht gut gesinnt und komme nicht ihretwegen nach Rom. Aber sage das ja nicht der verehrten Meysenbug! — Aber was ist denn das für eine widernatürliche Vermehrung meiner Reichthümer, von der mir eben Franz Overbeck aus Basel schreibt? — Was die Schreibmaschine4 betrifft, so hat sie ihren "Knacks" weg: wie Alles, was charakterschwache Menschen eine Zeitlang in den Händen haben, seien dies nun Maschinen oder Probleme oder Lou's. Aber mein hiesiger Arzt, ein Basler,5 der mich hier von einer Malariahaften influenza kurirt hat, macht sich ein Vergnügen daraus, sie bei sich zu haben und zu "kuriren"; und wirklich, er zeigte mir neulich einen Vers, den er mit ihr zuwege gebracht hatte und der anfieng: "Schreibkugel ist ein Ding gleich mir von Eisen"6 — Was nun das "Eiserne" anlangt: so willst Du, daß es Thon werde.7 Welcher Gedanke! Liebe Lisbeth, je mehr man mich vergißt, um so besser geht es meinem Sohne, der da heißt: "Zarathustra": dies ist ein Haupt-Gesichtspunkt — für mich und Dich. Meine Gesundheit ist ziemlich hergestellt, doch habe ich, zur Beruhigung meines Nervensystems, nöthig gehabt, 4 Monate, Nacht für Nacht Schlafmittel zu gebrauchen: wovon ich mich nun entwöhnen will. — Die Correctur8 ist zu Ende, also kann ich reisen. Somit will ich vorschlagen, daß ich nächsten Donnerstag (den dritten Mai) Nachts hier abfahre: Freitag Mittag bin ich dann in Rom. Bis dahin gieb mir noch Nachricht. Mit dem herzlichsten Danke (NB. Ich schreibe an unsere Mäms.) Meine Grüße an Malvida! Adresse: salita delle Battestine
Sils-Maria, Ende Juni 1883: Mein lieber alter Freund Gersdorff, inzwischen habe ich erfahren, daß Dir etwas sehr Schmerzliches widerfahren ist der Verlust Deiner Mutter.1 Als ich dies hörte, war es mir ein rechter Trost, Dich nicht allein im Leben zu wissen, und ich gedachte der herzlichen und dankbaren Worte, mit denen Du in Deinem letzten Briefe an mich, Deine Lebens-Gefährtin erwähntest. Wir haben es in unserer Jugend schwer gehabt, Du und ich aus verschiedenen Gründen; aber es wäre eine schöne Billigkeit darin, wenn unserem Mannes-Alter einiges Milde und Tröstliche und Herzstärkende begegnete. Was mich betrifft, so habe ich eine lange schwere Askese des Geistes hinter mir, die ich freiwillig auf mich nahm und die nicht Jedermann sich hätte zumuthen dürfen, Die letzten sechs Jahre waren in diesem Betracht die Jahre meiner größten Selbstüberwindung: wobei ich noch absehe von dem , was mich Gesundheit, Einsamkeit, Verkennung und Verketzerung überwinden ließ. Genug, ich habe auch diese Stufe meines Lebens überwunden und was jetzt noch vom Leben übrig ist (wenig, wie ich glaube!) soll nun ganz und voll das zum Ausdruck bringen, um dessentwillen ich überhaupt das Leben ausgehalten habe. Die Zeit des Schweigens ist vorbei: mein Zarathustra,2 der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Die verrathen, wie hoch mein Wille seinen Flug genommen hat. Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie. Es ist ein Anfang, mich zu erkennen zu geben nicht mehr! Ich weiß ganz gut, daß Niemand lebt, der so Etwas machen könnte, wie dieser Zarathustra ist. Lieber alter Freund, nun bin ich wieder im Ober-Engadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, daß hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist. Ach, was liegt noch Alles verborgen in mir und will Wort und Form werden! Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein, daß ich meine innersten Stimmen vernehmen kann! Ich möchte Geld genug haben, um mir hier eine Art ideale Hundhütte, zu baum: ich meine, ein Holzhaus mit 2 Räumen; und zwar auf einer Halbinsel, die in den Silser See hineingeht und auf der einst ein römisches Castell gestanden hat. Es ist mir nämlich auf die Dauer unmöglich, in diesen Bauernhäusern zu wohnen, wie ich bisher gethan habe: die Zimmer sind niedrig und gedrückt, und immer giebt es mancherlei Unruhe. Sonst sind mir die Einwohner von Sils-Maria sehr gewogen; und ich schätze sie. Im Hôtel Edelweiß, einem ganz vorzüglichen Gasthofe, esse ich: allein natürlich, und zu einem Preise, der nicht gänzlich im Mißverhältniß zu meinen kleinen Mitteln steht. Ich habe einen großen Korb Bücher mit herauf gebracht: und auf drei Monate ist es wieder abgesehn. Hier wohnen meine Musen: schon im "Wanderer und sein Schatten" habe ich gesagt, diese Gegend sei mir "blutsverwandt, ja noch mehr."3 Nun habe ich Dir Etwas von Deinem alten Freunde und Einsiedler Nietzsche erzählt ein Traum von dieser Nacht brachte mich dazu. Bleib mir gut und treu! wir sind alte Kameraden und haben Manches gemeinsam gehabt! Dein 1. Gersdorff's mother died on January 2, 1883.
Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Sils-Maria, Mitte Juli 1883: Meine liebe hochverehrte Freundin, oder ist es unbescheiden, wenn ich Sie so nenne? Gewiß ist, daß ich ein unbändig gutes Zutrauen zu Ihnen habe: und so wird es auf die Worte nicht sehr ankommen. Ich habe einen schlimmen Sommer gehabt und habe ihn noch. Die böse Geschichte des vorigen Jahres1 stürzte noch einmal über mich her; und ich habe so viel hören müssen, was mir diese herrliche Natur-Einsamkeit verdorben und fast zur Hölle gemacht hat. Nach Allem, was ich nun erfahren habe, ach viel zu spät! — sind diese beiden Personen Rée und Lou nicht würdig, meine Stiefelsohlen zu lecken — Pardon für dies allzumännliche Gleichniß! Es ist ein langes Unglück, daß dieser Rée, ein Lügner und schleichender Verleumder von Grund aus, mir über den Lebensweg gelaufen ist. Und was habe ich lange Geduld und Mitleid mit ihm gehabt! "Es ist ein armer Bursch, man muß ihn vorwärts treiben" — wie oft habe ich mir das gesagt, wenn mir seine ärmliche und unaufrichtige Manier zu denken und zu leben Widerwillen machte! Ich vergesse den Ingrimm nicht, den ich 1876 empfand, als ich hörte, er werde mit zu Ihnen nach Sorrent kommen. Und vor zwei Jahren wiederholte sich nochmals dieser Ingrimm: ich war hier in Sils-Maria und wurde krank bei der Nachricht meiner Schwester,2 daß er hier herauf kommen wolle. Man soll seinen Instinkten besser vertrauen, auch den Instinkten des Widerstrebens. Aber das Schopenhauerische "Mitleiden"3 hat immer in meinem Leben bisher den Haupt-Unfug angestiftet — und deshalb habe ich allen Grund, solchen Moralen gut zu sein, welche noch ein paar andere Triebfedern zur Moralität rechnen und nicht unsere ganze menschliche Tüchtigkeit auf "Mitgefühle" reduziren wollen. Dies nämlich ist nicht nur eine Weichlichkeit, über die jeder großgesinnte Hellene gelacht haben würde — sondern eine ernste praktische Gefahr. Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen, man soll mit seinem Ideale seine Mitmenschen wie sich selber zwingen und überwältigen: und also schöpferisch wirken! Dazu aber gehört, daß man sein Mitleiden hübsch im Zaume hält, und daß man, was unserm Ideale zuwider geht (wie z.B. solches Gesindel wie L[ou] und R[ée]) auch als Feinde behandelt. — Sie hören, wie ich mir "die Moral lese": aber um bis zu dieser "Weisheit" zu kommen, hat es mich fast das Leben gekostet. — Ich hätte den Sommer mit Ihnen und in dem edlen Kreise, der Sie umgiebt, leben sollen: aber nun ist es zu spät! Von ganzen Herzen Ihnen zugethan und dankbar 1. See correspondence from 1882. Sils-Maria, 25. / 26. August 1883: Muß ich's denn immerfort noch büßen, mich wieder mit Dir versöhnt zu haben? Ich bin Deine unbescheidene Moralschwätzerei gründlich müde.1 Und so viel steht fest, daß Du und Niemand anders mein Leben in 12 Monaten dreimal in Gefahr gebracht hast!2 Einem Menschen wie mir seine höchste Thätigkeit zu zerstören! Ich habe noch Niemand gehaßt, Dich ausgenommen! 1. Her repeated derogatory accusations against Lou Salomé and Paul Rée.
Sils-Maria, 26. August 1883: (Dieser Brief ist für Dich allein.) Lieber Freund die Trennung von Dir warf mich in die tiefste Melancholie zurück,1 und die ganze Rückreise wurde ich böse schwarze Empfindungen nicht los; darunter war ein wahrer Haß auf meine Schwester, die mich nun ein Jahr lang2 mit Schweigen zur Unrechten Zeit und mit Reden zur unrechten Zeit um den Erfolg meiner besten Selbst-Überwindungen gebracht hat: so daß ich schließlich das Opfer eines schonungslosen Rachegefühls bin, während gerade meine innerste Denkweise allem Sich-Rächen und Strafen abgesagt hat: — dieser Conflict in mir nähert mich Schritt für Schritt dem Irrsinn,* das empfinde ich auf das Furchtbarste — und ich wüßte nicht, inwiefern eine Reise nach Naumburg diese Gefahr verringern könnte. Umgekehrt: es könnte zu schauderhaften Augenblicken kommen — und auch jener lange genährte Haß könnte in Wort und That zum Vorschein kommen: wobei ich bei weitem am meisten das Opfer sein würde. Auch Briefe an meine Schwester zu schreiben ist jetzt nicht mehr rathsam — außer solchen von der harmlosesten Form (ich schickte ihr zuletzt noch einen Brief voller lustiger Verschen) Vielleicht war meine Versöhnung mit ihr in dieser ganzen Geschichte der verhängnißvollste Schritt — ich sehe jetzt ein, daß sie dadurch geglaubt hat, ein Recht zu ihrer Rache an Frl. S[alomé] zu bekommen.3 — Pardon! Nach unserer Übereinstimmung über das Bedenkliche an dem Leipziger Plan4 that es mir wahrhaft wohl, einen Brief Heinze's5 vorzufinden, mit dem diese ganze Angelegenheit — ein Schritt der Verzweißung meinerseits — zu Ende gebracht ist. Ich lege Dir den Brief bei, insgleichen die erste öffentliche Äußerung über Zarathustra I; sonderbarer Weise ist letztere in einem Gefängnisse niedergeschrieben. Was mir Vergnügen macht, das ist zu sehen, daß gleich dieser erste Leser ein Gefühl davon hat, worum es sich hier handelt: um den längst verheißenen "Antichrist". Seit Voltaire gab es kein solches Attentat gegen das Christenthum — und, die Wahrheit zu sagen, auch Voltaire hatte keine Ahnung davon, daß man es so angreifen könne. — Was Zarathustra II betrifft, so schreibt Köselitz: "Z[arathustra] wirkt ungeheuer stark; es wäre aber verwegen, schon darüber mich äußern zu wollen: er hat mich umgeworfen, ich liege noch am Boden."6 — Du verstehst! Inzwischen, während ich mit Dir zusammen war, hat mir mein alter Schulfreund Krug7 seinen Besuch machen wollen (der "Direktor des königl. Eisenbahn-Betriebs-Amts in Cöln" ist, wie auf seiner Karte steht) Köselitzens Brief enthält Worte über Epicur (wie früher einmal über Seneca) welchen ich Nichts an die Seite zu setzen wüßte, an tiefster Sach- und Menschenkenntniß dieser Philosophie: er deutet an, daß er "Leibphilologen" habe, die er in die Bibliothek treibe, die Kirchenväter und andre Scribenten auf Epicur hin anzusehn. Welche Wohlthat war es, Dich und Dein herzliches Vertrauen einmal so in der Nähe zu haben! Und wie gut verstehen und verstanden wir uns! Möge Deine besser gesicherte Vernunft meinem ins Schwanken gerathenen Kopfe eine Stütze sein und bleiben! Von Herzen Dein Freund Nietzsche. *Könntest Du diesen Gesichtspunkt vielleicht meiner Schwester stark zu Gemüthe führen? 1. According to a marginal comment by Overbeck, they had a brief meeting in Scuol near Tarasp. |
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