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Genova, 19. Januar 1882: Meine liebe und verehrte Frau Professor, wenn ich zu Ihrem Briefe,1 mit dem Sie meinem Neujahre einen festlichen Glanz gaben, den letzt angelangten amerikanischen Brief2 hinzunehme, so muß ich sagen: ich verdanke zweien Frauen den beredtesten Ausdruck dafür, daß meine Gedanken wirklich auch gedacht und bedacht werden und nicht nur gelesen (oder richtiger: "und nicht nur nicht gelesen!") Jener Brief kam von der Gattin eines Professors des Peabody-Instituts in Baltimore; welche im Namen ihres Mannes und eines Freundes mir dankt, wie Sie mir danken, auf eine denkende Art! Nun, das sind die Ausnahmen, und ich genieße sie ganz als Ausnahmen; die Regel war bisher: keine Wirkung oder eine gedankenlose Wirkung! Sie werden mir es glauben, daß ich deshalb nicht von den Menschen gering denke und daß von allen Mienen mir die Miene des "verkannten Genies" die lächerlichste dünkt. Eine sehr langsame und lange Bahn wird das Loos meiner Gedanken sein — ja ich glaube, um mich etwas blasphemisch auszudrücken, an mein Leben erst nach dem Tode und an meinen Tod während des Lebens. Und so ist es billig und natürlich! — Wenn ich Sie wiedersehe, werde ich Ihnen einige curiose Einzelheiten erzählen — heute nur ein Wort über die Möglichkeiten dieses "Wenn-ich-Sie wiedersehe." Ich bin in Genua durch eine Arbeit gebunden, die hier, nur hier zu Ende kommen kann, weil sie einen Genueser Charakter an sich hat — nun, warum soll ich es Ihnen nicht sagen? Es ist meine "Morgenröthe," angelegt auf 10 Capitel und nicht nur auf 5;3 und sehr Vieles, was in der ersten Hälfte steht, ist nur der Unterbau und die Vorbereitung von etwas Schwererem, Höherem (ja! es wird auch manches "Schauderhafte" noch gesagt werden müssen, liebe Frau Professor!)4 Kurz, ich weiß nicht, ob ich im Sommer nordwärts fliegen kann: reise ich aber, so komme ich über Basel und zu Ihnen ins Haus. In Bayreuth5 werde ich dies Mal durch meine Abwesenheit "glänzen" — es sei denn, daß Wagner mich noch persönlich einlüde (was nach meinen Begriffen von "höherer Schicklichkeit" sich recht wohl schicken würde!) Mein Anrecht6 auf einen Platz will ich ganz schlafen lassen. Im Vertrauen gesagt: ich würde "Scherz List und Rache"7 lieber hören als den Parsifal.8 Damit Sie wissen, was zwischen Herrn Köselitz und mir vorgeht, und wie ich fortfahre "die Jugend zu verderben" ( — der Schierlingsbecher wird mir wohl nicht entgehen!)9 so lege ich den letzten Brief10 des Herrn Köselitz bei: er wird Ihnen vielleicht einige "Verwunderung" machen, aber ganz gewiß keinen "Schauder"! Das Wetter der letzten Monate war der Art, daß ich nichts Schöneres und Wohlthätigeres aus meinem ganzen Leben dagegen zu setzen hätte — frisch, rein, mild: wie viele Stunden habe ich am Meere gelegen! Wie viele Male sah ich die Sonne untergehen! Liebe Frau Professor, "alles Gute ist unter Freunden gemeinsam" — sagen die Griechen:11 möge uns*! das Leben noch viele Gemeinsamkeiten schenken! — das dachte ich als ich Ihren Brief las. Von Herzen Ihnen dankbar und ergeben * uns Dreien!12 1. 12-30-1881: Letter from Ida Overbeck. Heinrich Köselitz. From b/w photo, Venice, 1878. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Genua, 25. Januar 1882: Nun, mein lieber Freund, ich schreibe Ihnen ein paar Zeilchen — am liebsten wäre ich jetzt bei Ihnen. Wirklich, Sie waren in der Gefahr, von mir überrascht zu werden — nichts als die Meldung meiner Angehörigen, daß der längst angekündigte Besuch des Dr. Rée1 nahe bevorstehe, hat mich hier in Genua zurückgehalten. Was Sie jetzt erleben, das ist die Regel — ich war im vorigen Sommer so erstaunt, so außer mir vor Erstaunen, daß die Dinge in Bezug auf Sie und Ihre Schätzung einmal anders und ausnahmsweise gehen sollten. Aber ich möchte gern Ihnen ein wenig über diese verfluchte "Regelmäßigkeit" hinweghelfen oder — um die Wahrheit zu sagen — mir von Ihnen darüber hinweghelfen lassen; denn ich bin über dieser Wienerischen Zurückweisung2 nicht nur böse, sondern beleidigt, ja förmlich krank und aller guten Dinge unfähig geworden. Es klang mir wie ein höhnischer Protest gegen meine eben zu Papier gebrachte friedliche Denkweise und "Gott-Ergebenheit."3 Das beste Gegenmittel wäre nun: miteinander etwas zu lachen und gute Musik zu machen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich nach Ihrem matr[imonio] segr[eto]4 gelüstet. An dem Tage, an dessen Abende Ihr Brief5 anlangte, hatte ich mir überlegt, daß alle nähere Disposition über meine Aufenthalte und alle Eintheilung dieses und des nächsten Jahres von der Musik des Hrn. Peter Gast und vom Schicksale dieser Musik abhänge, — ich erwog einen Winter in Wien und Venedig. Wahrlich, lieber Freund, es giebt so erstaunlich wenig des Guten, das von außen her zu mir käme, ich bin in meiner Einsamkeit wie eingeschneit und lebe so hin, ein wenig allzu verlassen und allzu todt geschätzt, selbst von meinen Freunden. Nur Sie und Ihre Zukunft — Nausikaa6 eingerechnet —, nur Ihre Briefe und Gedanken sind die schöne Ausnahme in meinem "Winter," und wahrscheinlich das, was mir am meisten Wärme bringt und erhält. Ein paar Worte über meine "Litteratur." Ich bin seit einigen Tagen mit Buch VI, VII und VIII der "Morgenröthe" fertig,7 und damit ist meine Arbeit für diesmal gethan. Denn Buch 9 und 10 will ich mir für den nächsten Winter vorbehalten — ich bin noch nicht reif genug für die elementaren Gedanken, die ich in diesen Schluß-Büchern darstellen will. Ein Gedanke8 ist darunter, der in der That "Jahrtausende" braucht, um etwas zu werden. Woher nehme ich den Muth, ihn auszusprechen! Heute las ich, zum ersten Male seit letztem Sommer, etwas in meiner "Morgenröthe"9 und hatte Vergnügen dabei. In Anbetracht daß diese Dinge sehr abstrakt sind, ist die Munterkeit des Geistes, mit der sie behandelt sind, ganz achtbar. Lesen Sie zur Vergleichung irgend ein Buch über Moral — ich habe immer noch meine Sprünge und Hopsasa's für mich. Daneben zog mich an, wie reich das Buch an unausgesprochnen Gedanken ist, wenigstens für mich: ich sehe hier und dort und an allen Enden verborgene Thüren, die weiter und oft sehr weit führen (und nicht nur auf "Abtritte" — Pardon!) Wollen Sie mein neues Manuscript?[!]10 Vielleicht macht es Ihnen eine Unterhaltung und Zerstreuung. (Denken Sie ja nicht an's Abschreiben11 — das hat noch ein Jahr Zeit und vielleicht sogar sehr viel mehr) Es fällt mir ein, daß ich das M DerJanuar ist der schönste meines Lebens. Aber er hatte nur 21 Tage! Von Herzen Ihr Freund F N. 1. Paul Rée arrived in Genoa on February 4th and stayed until mid-March.
Genua, 29. Januar 1882: Hr. von Bülow1 hat die Unarten preußischer Offiziere an sich, ist aber ein "ehrlicher Kerl" — daß er sich mit deutscher Opernmusik nicht mehr befassen will, hat geheime Gründe aller Art; mir fällt ein, daß er mir einmal sagte "ich kenne Wagner's neuere Musik nicht." — Gehen Sie im Sommer nach Bayreuth,2 da finden Sie alle Theater-Menschen Deutschlands bei einander, und auch Fürst Liechtenstein3 u.s.w., Levy [sic]4 ebenfalls. Ich denke, daß alle meine Freunde dort sein werden, auch meine Schwester, nach ihrem gestrigen Briefe (und das ist mir sehr lieb!). Wäre ich bei Ihnen, so würde ich Sie mit Horazens Satyren und Episteln bekannt machen — ich meine, dafür sind wir Beide gerade reif. Als ich heute hineinguckte, fand ich alle Wendungen bezaubernd, wie einen warmen Wintertag.5 Mein letzter Brief war Ihnen zu "frivol," nicht wahr? Haben Sie Geduld! In Bezug auf meine "Gedanken" ist es mir nichts, sie zu haben; aber sie loswerden, wenn ich sie lossein will, wird mir immer verteufelt schwer! — Oh welche Zeit! Oh diese Wunder des schönen Januarius!6 Seien wir guter Dinge, liebster Freund! 1. When Köselitz sent the score of his comic opera ("Scherz, List und Rache") to Hans von Bülow, it was summarily dismissed as fodder for the servile herd of Wagnerian acolytes. According to Köselitz, "[Bülow] hatte die ihm zugeschickte Partitur von 'Scherz, List und Rache' gar nicht angesehen und mir, dem Allegro-Musiker, gleichwohl einen Brief geschrieben, der erkennen ließ, daß er mich für einen der imitatores aus dem servum pecus Wagneri hielt. Sein Brief begann: 'R. W. ist ein Phänomen, — Phänomene machen keine Schule'. Ich dankte ihm für die nicht erbetene Auskunft über ein Phänomen R. W. und schickte ihm den Brief mit den Worten zurück, ich wisse meine Verehrung vor ihm nicht besser zu bezeugen, als indem ich seinen Brief als ungeschrieben betrachte. Nietzsche fand diese Behandlung des Falles 'ganz angemessen'." ([Bülow] did not even look at the score sent to him of "Scherz, List und Rache" and to me, the allegro-musician, he nonetheless wrote a letter, letting it be known that he thought I was one of the imitatores from the servum pecus Wagneri. His letter began: "R. W. is a phenomenon, and phenomena don't create schools." I thanked him for the unsolicited information about the R. W. phenomena and returned his letter to him, saying I know no better way to show my respect for him than to regard his letter as unwritten. Nietzsche found this treatment of the matter 'entirely appropriate'.") In 1872, Nietzsche was also the subject of Bülow's withering criticism. Franz Overbeck. By: Jacob Höflinger. From b/w photo, Basel, ca. 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Genova, 29. Januar 1882: Mein lieber Freund, gestern schrieb1 mir meine Schwester, daß sie gerne von meinem "Anrecht" auf einen Platz in Bayreuth2 Gebrauch machen würde: nun, wenn es nicht zu spät ist, wohlan, so will ich das Formular, von dem Du mir schriebst, unterzeichnen — denn von den Quittungen habe ich nichts mehr. — Übrigens ist es mir lieb, von diesem Entschlüsse meiner Schwester zu hören; ich denke, daß alle meine Freunde dort sein werden, auch Herr Köselitz.3 Ich selber aber habe Wagner's zu nahe gestanden, als daß ich ohne eine Art von "Wiederherstellung"4 5 ist der kirchliche Ausdruck), als einfacher Festgast dort erscheinen könnte. Zu dieser Wiederherstellung, die natürlich von Wagner selber ausgehen müßte, ist aber keine Aussicht; und ich wünsche sie nicht einmal. Unsere Lebens-Aufgaben sind verschieden; ein persönliches Verhältniß bei dieser Verschiedenheit wäre nur möglich und angenehm, wenn Wagner ein viel delikaterer Mensch wäre. Ich denke, lieber Freund, Du verstehst mich hierin. Jene nun einmal eingetretene Entfremdung hat ihre Vortheile, die ich nicht so leicht, gegen einen Kunstgenuß, oder aus reiner "Gutmüthigkeit," wieder aufgeben werde. Freilich: ich verliere die einzige Gelegenheit, einmal alle, die mir nahe stehen oder standen, wieder zu sehen, und viele wacklig gewordene Verhältnisse wieder fest zu machen. Da ist Freund Rohde,6 der mir seit der Übersendung der "Morgenröthe" kein Wort gegönnt hat, ganz wie Fräulein von Meysenbug7 und so weiter. Nun, wenn Du mit Deiner lieben Frau dort bist, so bitte ich, für mich bei dem und Jenem ein freundliches Wort einzulegen. Ich bin wahrlich kein "Unmensch" geworden! — Gestern sandte ich das neue Manuscript8 an Hrn. Köselitz nach Venedig ab. Es fehlen noch das 9te und 10te Buch, welche ich jetzt nicht mehr machen kann — es gehört frische Kraft dazu und tiefste Einsamkeit (Dr. Rée kommt in nächster Woche[.]9) Vielleicht finde ich einen Monat in diesem Sommer, der mir beides giebt, in irgend einem Walde: ich habe an die Wälder Corsica's gedacht, aber auch an den Schwarzwald (St. Blasien?) Vielleicht aber muß ich mit dieser schwersten aller meiner Aufgaben10 bis zum Winter warten. Inzwischen giebt es böse Neuigkeiten von Hrn. Köselitz. Die Wiener11 haben die Partitur ihm zurückgeschickt; ein Versuch, den er darauf anstellte, Bülow's Interesse12 für sein Werk zu gewinnen, mißlang ebenfalls (er will nichts mehr mit deutscher Opermusik zu thun haben). — Ich bin für Alles unsäglich dankbar, was unserem armen Freunde in dieser schweren Lage wie eine Ermunterung und Genugthuung klingen könnte. — Übrigens ist er Philosoph, mehr als ich. Wahrhaftig, ich selber trage härter an seinem Mißerfolg als er! — Mein lieber Freund, was mache ich Dir doch immer für Mühe und Noth! — Wenn wir uns wiedersehn, so erweisest Du mir die Ehre mir Deinen Vortrag über die Entstehung der christl[ich]. Litteratur13 vorzulesen? — Habt Ihr auch einen solchen "Frühling" wie wir? Die wahren "Wunder des heiligen Januarius!"14 — Von Herzen Dein und Euer 1. The letter is lost.
Genua, 30. Januar 1882: Meine liebe Mutter, so laufen die Jahre dahin, eines immer schneller als das andre. Man lernt eben das Spiel des Lebens endlich auswendig — man bekommt es, wie die Klavierspieler sagen, zuletzt "in die Finger"; deshalb geht es so geschwinde! Das merke ich schon: um wie viel mehr wirst Du es merken! Und ebenso wenig wie mir, wird Dir an Deinem Geburtstage mit Wünschen gedient sein; festhalten, was man hat, ist das Haupt-Kunststück des späteren Lebens, und wissen, was man voraus hat vor so Vielen, und namentlich vor allen Unzufriednen! Das Jahr macht Dir ein heiteres Gesicht: sehen wir zu, daß auch wir Dir Grund zur Heiterkeit und zum Wohlgefühle des Lebens geben! Gleich diesem schönsten aller Januare! —2 Hier ist es immer wie im Frühling: man kann schon des Vormittags im Freien sitzen, und zwar im Schatten — ohne zu frieren. Kein Wind, keine Wolke, kein Regen! Ein Greis sagte mir, es habe noch nie einen solchen Winter in Genua gegeben. Das Meer still und tief gesunken. Die Pfirsiche blühen! — Giebt es freilich einen Nach-Winter, so ist es mit den Oelbäumen und dem ganzen Obste schlimmer als je! — Ich sehe die Soldaten im leichtesten Leinen-Anzuge; ich selber habe auf meinen Spaziergängen dieselben Kleider an, wie im Engadiner Sommer, mit dessen guten Tagen das jetzige Wetter verwandt ist. Aber freilich: das mir schädliche Wetter war bei meinem letzten Aufenthalte da oben so überwiegend, und das Ganze in summa eine solche Geduldsprobe, daß ich dieses Jahr mir das Engadin verbiete. —3 Trotz diesem Wetter ist mein Befinden sehr variabel gewesen; und es hätte mir viel besser gehen müssen, wenn ich nicht auch in diesem Winter etwas zu arbeiten gehabt hätte. Und eine regelmäßige geistige Arbeit Tag für Tag zu bestimmten Stunden ist immer noch das sicherste Mittel, mich unvermerkt zu Grunde zu richten. "Unvermerkt" — das heißt, es kommt ein Tag, wo ich merke, daß es sehr schlimm steht, und wo die Erholung nicht mehr in einigen Ruhetagen geschafft werden kann. - - - Zu alledem bin ich seit October vielen Zahnschmerzen unterworfen gewesen — es giebt etwa 6 hohle Zähne, und das Wort "Zahnoperationen" hat mich mit Neid erfüllt. Vielleicht muß ich mich schließlich doch entschließen, nach Florenz zu Dr. van Marter4 zu reisen, der mich schon einmal unter den Händen gehabt hat. — Neuerdings bin ich mit einem anderen Leiden bekannt geworden, das seine eigene Unannehmlichkeit hat; mich quält jetzt ein Blasen-Leiden und will nicht vor mir weichen. Kurz, Du siehst, es ist noch manches von mir auszuhalten, und ich habe guten Muth nöthig, der sich nicht so leicht auf dem nächsten Markte kaufen läßt. So! Mehr darf ich für diesen Tag nicht schreiben, die Augen schmerzen schon. — — Ich erwarte mit großem Verlangen die Ankunft des Dr. Rée5 — er wird gerade in dem Carneval hineinkommen, der diesmal den Besuch der berühmten Französin Sarah Bernhardt bietet.6 Wir werden 3 Tage (am 5ten, 6ten und 7ten Februar) französisches Schauspiel haben, in unserm großen Carlo-Felice-Theater, welches 3000 Menschen faßt — und es wird voll sein. — Nochmals, meine liebe gute Mutter, ich will zusehen, daß Du in diesem Deinem neuen Jahre durch mich keine neue Noth hast — bei der alten wird es wohl verbleiben! — Von Herzen Dein Sohn Nicht wahr, ich erfahre genau die Stunde der Ankunft meines Freundes, daß ich am Bahnhof sein kann? Will er einen Monat hier bleiben und soll ich darauf hin miethen? — Salita delle Battistine 8, interno 6 ist die Adresse. 1. Nietzsche dutifully wrote a birthday letter to his mother every year from 1861-1887 (forgetting but later correcting his mistake in 1888). Franziska Nietzsche turned 56 years old on February 2, 1882.
Venedig, 31. Januar 1882: Verehrter Herr Professor! Am Sonntag erhielt ich Ihr Manuscript,1 aus dem ich in langen Zügen mir neue Wonnen geholt habe. Wie bewundere ich das Alles und vergesse wohl gar darüber meine Inferiorität! Möchte doch Alles um Sie herum Ihre Absicht begünstigen, noch vieles aus dem letzten Jahr, das für Sie an Gedanken so reich gewesen sein muss, festzuhalten! Auf S. 52 steht ein Aphorismus über Ursach und Wirkung,2 den ich nicht völlig zu verstehen scheine. Kant sagt:3 der Raum ist a priori in unserer Sinnlichkeit, — womit er meint: wir bringen Augen und Tastsinn fertig auf die Welt mit. Der Causalitätssinn ist dem ganzen Nervensystem ebenso eingeboren wie die räumliche Wahrnehmung jenen 2 Sinnen: jede Nervenerregung gilt dem Centrum des Nervensystems, auch der niedrigsten Animalien, als Wirkung einer Ursache — und insofern scheint mir die Bezeichnung a priori nicht unangebracht. Die niedrigsten Organismen, welche noch nicht locomobil sind und sich vielleicht kaum mit Bewusstsein ernähren, denken gewiss nicht an sich als eine Ursache, nach Aussen (wie der Schlagende), — wohl aber, wie mir däucht, erscheint ihnen jede Einwirkung von Aussen als von einer Ursache herrührend, auf einen Gegenstand (und damit zugleich auf eine Kraft) deutend. Es ist so ausserordentlich viel in den einfachsten Wissenschaften zu säubern! So spricht die Physik von Kräften — wahrhaftig, als ob sie für sich existirten; oder von Materie oder Stoff oder Substanz (was weiss ich) — als wenn diese ohne Kraft existirten. Man könnte sagen: denkt man von den Körpern die Kraft weg (zunächst die Fallkraft, dann aber alle ihre Unterarten und Umwandlungen bis zur Cohäsion), so bleibt die Materie übrig. Und denkt man von den Körpern die Materie weg, so bleibt eben die Kraft übrig — lauter Abstracta der gefährlichsten Art, mit denen die Naturwissenschaft nur spielt. Schopenh[auer], indem er über die Causalität spricht,4 macht einige Fehler: er nennt die Zustände Ursachen, während doch nur Kräfte Ursachen sein können. Er nimmt das Beispiel vom Verbrennen eines Körpers5 und sagt: hier ist ein Brennspiegel, hier der Körper; das Hinzutreten der Wärme zu diesem war verursacht durch das Auffallen der Sonnenstrahlen auf den Spiegel, dieses durch das Beiseitegehen einer Wolke in der Richtung der Sonne, dieses durch Wind, dieses durch ungleiche Dichtigkeit der Luft u.s.w. Lauter Unsinn! Die Wolkenbeseitigung ist nicht Ursache: das Dazwischentreten der Wolke war nur Verhinderung der Wirksamkeit der Sonnenwärme u.s.w. — und so ist es durch die ganze Welt. Die Fallkraft wirkt so gewiss fortwährend, so gewiss die Materie unzerstörbar ist auf der Materie- und Kraftintegrität des Universums beruht die Gleichheit, die Nothwendigkeit (und daher Berechenbarkeit) der Effecte. Dass die, "Dinge" einander in ihrer Wirkung hindern, und dass der Wegfall des Hindernisses die Wirksamkeit einer Kraft fühlbar werden lässt, darf Schopenhauern nicht verführen, die Beseitigung des Hindernisses als Ursache für die Wirksamkeit jener Kraft hinzustellen. Ich kann mich heut nur schlecht ausdrücken; es pfeift ein heftiger Wind durch alle Fenster und Thüren und quält mich mit seiner Musik. Ob ich nach Bayreuth6 kommen werde? Vorgestern erhielt ich schon die Karten von Herrn Professor Overbeck. Vielleicht gebe ich sie meinen beiden Brüdern.7 Liechtenstein8 mag ich nicht mehr sehen, — überhaupt zieht mich die Wiederholung9 der bayreuther Eindrücke nicht an. Mit den Jahren fange ich an, einen immer wählerischeren Gebrauch von dem "Recht" der Sympathie und Antipathie zu machen. — Erschrecken Sie nicht über die Unbedachtsamkeit, die ich begangen habe: ich habe Bülow's Brief10 genommen und ihm wieder zurückgeschickt. Darin stand u. a. auch: "Ich habe nicht das allergeringste Interesse für "deutsche" Opernmusik — R[ichard] W[agner] ist ein Phänomen — Phänomene machen keine Schule." Wer heisst ihn, aus dem Stegreif so über mich und die Partitur wegfahren; ich habe ihn um keine Auskunft über ein Phänomen R[ichard] W[agner] gefragt. Ich habe ihm gesagt, dieser Brief gehöre nicht zu mir, es thäte mir leid, meine Verehrung vor ihm nicht besser bezeugen zu können, als indem ich seinen Brief als nie geschrieben betrachten wolle. Was wird daraus werden? Bülow wäre ein guter Feind, selbst wenn er mich todtschmeissen will: — ich dann der Märtyrer von Scherz, List und Rache — welche gute Komödie!11 Wie seltsam! am Sonntagmorgen12 habe ich die Satire über den Geiz vom Horaz gelesen, in Vossens Übersetzung,13 die mir viel Pein macht und die ich mir erst in mein Deutsch übersetzen muss; dabei verweile ich aber länger beim Sinn und geniesse den erstaunlichen Reichthum des Beobachteten besser. Diese Sachen sind allerdings bezaubernd, deutlich, treffend, heiter, reif. Zum Schluß grüsse ich Sie, verehrter Herr Professor, mit dem herzlichsten Danke als Ihr ergebener Schüler H. K. 1. The originally planned continuation of Morgenröte (books six to eight) became books one to three of Die fröhliche Wissenschaft.
5. Februar 1882: Mein lieber Freund, ich finde Ihre Behandlung des Bülow'schen Falles1 ganz angemessen — ich glaube, Bülow selber wird sie angemessen finden; er ist liberaler Impulse fähig. — Gestern kam Dr. Rée an;2 er wohnt im Nachbarhause und bleibt einen Monat. Heute Abend werden wir Beide zusammen im Theater Carlo Felice sitzen, um Sarah Bernhardt zu bewundern, als la dame aux cam[é]lias (Dumas fils).3 Die Schreibmaschine4 (eine Sache von 500 frs.) ist hier, aber — mit einem Reise-Schaden: vielleicht muß sie wieder zur Reparatur nach Kopenhagen, heute werde ich von dem ersten hiesigen Mechaniker darüber Bescheid erhalten. — Gersdorff glaubt, daß eine Aufführung von Scherz L[ist] und Rache5 in Leipzig zu ermöglichen ist — erzählt Rée. — Nerina6 hat die Verlobung7 G[ersdorff]'s ziemlich tragisch genommen und macht dem Armen Noth. — Wie? Sie gehen zuletzt nicht nach Bayreuth?8 — Ich empfinde bei dieser Möglichkeit zu verschieden auf Ein Mal, um sagen zu können, wie es mich berührt. Aber es scheint mir nicht nützlich — und sei es auch nur, daß Sie Wagner's Orchester und seine Orchester-Erfindungen kennen lernen müßten. Zuletzt: ich wüßte Sie sehr gerne einmal unter allen meinen Freunden, die, wie ich mir vorstelle, an Ihnen versuchen werden gut zu machen, was sie in Bezug auf mich auf dem "lieben Herzen" haben — Pardon, daß ich davon rede! "Causalitäts-Sinn"9 — ja, Freund, das ist etwas Anderes als jener "Begriff a priori" von dem ich rede (oder fasele!) Woher kommt der unbedingte Glaube an die Allgültigkeit und All-Anwendbarkeit jenes Causalitäts-Sinnes? Leute wie Spencer meinen, es sei eine Erweiterung auf Grund zahlloser durch viele Geschlechter gemachter Erfahrungen, eine zuletzt absolut auftretende Induktion. Ich meine, dieser Glaube sei ein Rest eines älteren viel engeren Glaubens. Doch wozu dies! Ich darf über so etwas nicht schreiben, mein lieber Freund, und muß Sie auf das "9te Buch" der M[orgenröthe]10 verweisen, damit Sie sehen, daß ich am wenigsten von den Gedanken abweiche, welche Ihr Brief11 mir darlegt: — ich freute mich dieser Gedanken und unsrer Übereinstimmung. Das neue "Journal"12 hat mich gar nicht unangenehm überrascht. Oder täusche ich mich? Ist dieser Grundgedanke seiner Einleitung13 — das Europäer-thum mit der Perspektive der Vernichtung der Nationalitäten — ist dies nicht mein Gedanke? Sagen Sie mir darüber die Wahrheit: vielleicht führt mich irgend welche Spiegelfechterei der Eitelkeit irre. — Neulich gehe ich spazieren und denke an gar nichts unterwegs als an die Musik meines Freundes Gustav Krug, — rein zufällig und ohne alle Veranlassung. Den Tag darauf kommt ein Heft Lieder14 von ihm mir zu Händen (von Kahnt verlegt) und darunter gerade das Lied, welches ich auf meinem Spaziergang mir reconstruirt hatte. Wunderlichstes Spiel des Zufalls! Wetter nach wie vor, unbeschreiblich! Rée und ich waren gestern an jener Stelle der Küste, wo man mir in hundert Jahren (oder 500 oder 1000, wie Sie gütigst annehmen!) ein Säulchen zu Ehren der "Morgenröthe" aufstellen wird. Wir lagen fröhlich wie zwei Seeigel in der Sonne. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr getreuer Seelen-Nachbar15 F.Nietzsche. 1. When Köselitz sent the score of his comic opera ("Scherz, List und Rache") to Hans von Bülow, it was summarily dismissed as fodder for the servile herd of Wagnerian acolytes. According to Köselitz, "[Bülow] hatte die ihm zugeschickte Partitur von 'Scherz, List und Rache' gar nicht angesehen und mir, dem Allegro-Musiker, gleichwohl einen Brief geschrieben, der erkennen ließ, daß er mich für einen der imitatores aus dem servum pecus Wagneri hielt. Sein Brief begann: 'R. W. ist ein Phänomen, — Phänomene machen keine Schule'. Ich dankte ihm für die nicht erbetene Auskunft über ein Phänomen R. W. und schickte ihm den Brief mit den Worten zurück, ich wisse meine Verehrung vor ihm nicht besser zu bezeugen, als indem ich seinen Brief als ungeschrieben betrachte. Nietzsche fand diese Behandlung des Falles 'ganz angemessen'." ([Bülow] did not even look at the score sent to him of "Scherz, List und Rache" and to me, the allegro-musician, he nonetheless wrote a letter, letting it be known that he thought I was one of the imitatores from the servum pecus Wagneri. His letter began: "R. W. is a phenomenon, and phenomena don't create schools." I thanked him for the unsolicited information about the R. W. phenomena and returned his letter to him, saying I know no better way to show my respect for him than to regard his letter as unwritten. Nietzsche found this treatment of the matter 'entirely appropriate'.") In 1872, Nietzsche was also the subject of Bülow's withering criticism.
Genua, 10. Februar 1882: Hier ist zunächst der Revers für Bayreuth,1 welcher nun, nach Overbecks Anweisung,2 seinen Weiterweg an Feustel3 in B[ayreuth] zu machen hat, und zwar mit einer ausdrücklichen Erklärung Deinerseits, meine liebe Schwester, für welchen von den 3 Tagen der Hauptaufführung Du Dich entschieden hast (26. 28 oder 30 Juli)[.] Dann wird er Dir die Karte senden. Bis jetzt ist es gegangen, wie es zu erwarten stand, nicht gut. Der erste Tag4 sehr guter Dinge; den zweiten hielt ich mit Benutzung aller Stärkungsmittel aus; den dritten Erschöpfung, Nachmittags eine Ohnmacht; die Nacht kam der Anfall; den vierten zu Bett; den fünften stand ich wieder auf, um mich Nachmittags wieder zu legen, den sechsten und bis jetzt immer Kopfschmerz und Schwäche. Kurz, wir müssen es noch lernen, zusammenzusein. Es ist eben gar zu angenehm mit Dr. Rée zu verkehren; es giebt nicht leicht einen erquicklicheren Verkehr. Aber ich bin an das Gute nicht gewöhnt. — Es gefällt ihm oder vielmehr: er ist ganz überrascht, wie sehr es ihm hier gefällt. — Mit Sarah Bernhardt5 hatten wir Unglück. Wir waren in der ersten Aufführung; nach dem ersten Akte fiel sie wie todt nieder. Nach einer peinlichen Stunde Wartens spielte sie weiter, aber mitten im dritten Akte überfiel sie ein Blutsturz, auf der Bühne — da war es denn aus. Es war ein unerträglicher Eindruck, zumal sie eben eine Kranke der Art spielte (la dame aux cam[é]lias von Dumas fils)[.] — Trotzdem hat sie mit ungeheurem Erfolg am nächsten und nächstnächsten Abende wieder gespielt und Genua überzeugt, daß sie "die erste lebende Künstlerin" sei. — Sie erinnerte mich, in Aussehen und Manieren, sehr an Frau Wagner. — Mitte März geht Dr. Rée nach Rom zu Frl. v. Meysenbug. — Mit der Schreibmaschine6 ist noch nichts entschieden; ein äußerst geschickter Mechaniker hat jetzt eine Woche daran gearbeitet, sie herzustellen. Morgen soll sie "fertig" sein. Hoffen wir das Beste! Wie bin ich von Euch, meine Lieben, beschenkt worden! Und ich höre auch von Dr. R[ée] lauter Erfreuliches von Euch. Ich denke, daß unsre liebe Lisbeth jetzt oder sehr bald Gelegenheit haben wird, Frau Rée nützlich zu sein; sie reist Sonntag ab. Mehr erlaubt die Gesundheit durchaus nicht, zu schreiben. Verzeihung! In der größten Dankbarkeit Welches ist Adresse und [Buch] Titel Gustav Krugs?7 1. A declaration to purchase tickets for the premiere of Richard Wagner's opera, Parsifal, at the end of July 1882. See Note 2. Postcard. February 11, 1882. © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Genua, 11. Februar 1882: Freund Rée1 und ich — ja wie oft reden wir von Ihnen und sorgen und hoffen mit einander in Bezug auf Alles, was Herrn Peter Gast2 angeht! Wie wünschen wir Sie herbei! — denn ich habe jetzt eine Wahrscheinlichkeit mehr, daß Genua Ihnen gefallen wird: R[ée] ist ganz außer sich vor Erstaunen, wie sehr es ihm gefällt. Übrigens verspricht er Ihnen, den nächstjährigen Carneval in Venedig zu erleben, vorausgesetzt, daß Sie dabei "betheiligt"3 sind — auch ich will dort sein. — Gersdorff hat in Leipzig über Sie gesagt: "was Carlsbad ist für einen verdorbnen Magen, das ist Köselitz für einen verdorbnen Geist."4 Die Schreibmaschine5 ist da, aber schwer beschädigt — es wird schon eine Woche an ihr "reparirt." Mit unserem herzlichsten Gruße R. und N. 1. Paul Rée stayed with Nietzsche in Genoa from February 4 to March 13, 1882. He then traveled on to Rome and stayed with Malwida von Meysenbug, where he met Lou Salomé for the first time. Postcard. February 11, 1882. © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Genua, 11. Februar 1882: Hurrah! Die Maschine1 ist eben in meine Wohnung eingezogen; sie arbeitet wieder vollkommen. — Ich weiß noch nicht, was die Reparatur gekostet hat. Freund R[ée] hat es mir nicht sagen wollen. F. 1. Paul Rée had brought along with him to Genoa a typewriter for Nietzsche, but it was damaged on the journey. Read about the restoration of Nietzsche's typewriter by Eberwein. Cover of Nietzsche's Notebook N-V-8.1 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Genua, 17. Februar 1882: Glattes Eis ein Paradeis F.N. 1. Cover of Nietzsche's Notebook N-V-8, which contains, amongst other writings, draft versions of the poems from Idylls from Messina and Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science). Title page of Gioacchino Rossini's Otello, ossia il moro di Venezia. Dramma per musica. Napoli, 1816. Enhanced image The Nietzsche Channel. Venedig, 26. Februar 1882: Verehrter Herr Professor! Für Ihren gütigen Brief1 danke ich Ihnen vielmals herzlich. Sie Fragen darin auch, ob ich nicht eine Zerstreuung für Sie wisse, Abenteuer oder dergl. — Das ist nun für mich schwer, Etwas für Sie auszudenken; zu Allem, was ich nennen möchte, gehört eine grössere und ausdauerndere Gesundheit, als Sie sie haben. Jetzt rüstet man z. B. drüben in Triest ein Schiff für die Beobachtungsstation aus, die Österreich weit nördlich von Island für höchst wichtige Untersuchungen einrichtet. Wenn ich Zeit hätte, gienge ich selbst mit, um einmal die ganze öde und trostlose Erhabenheit jenes Erdfleckens in mich aufzunehmen. Aus Schilderungen Weyprecht's,2 eines erzenen und hochsinnigen Mannes, habe ich ganz gewaltige Eindrücke vom Norden; und auch davon, welche Standhaftigkeit, welche Energie seine Erforschung vom Menschen fordert. Ich gehöre vielleicht nicht zu den allerphantasielosesten Menschen; aber was ich aus Weyprecht weiss, hätte ich mir ohne seine Schilderung nicht in dieser grandiosen Schreckenhaftigkeit vorstellen können. Dem Heroismus des Columbus wird der der Nordpolfahrer nicht viel nachgeben. Columbus' Fahrt dauerte, mit Abrechnung des 4wöchentlichen Aufenthaltes auf den canarischen Inseln, 44 Tage: eine Nordpolfahrt erfordert aber eine angestrengte Moralität von mindestens 2 Jahren, mitten im Schifflein zwischen wuchtenden Scyllen und Charybden aus Eis, oder Bären, Seehunden, Wölfen, oder unter Anstrengungen, von denen man sich keine Vorstellung macht: Weyprecht erzählt, dass 3 Monate damit zugebracht wurden, ihr Gepäck und Proviant auf Handschlitten 60 Kilometer weit vom Platze zu bringen! Die Empfindung, dass hier die Cultur und die Hülfe ein paar hundert Meilen südlicher sind, ist gewiss 2 Lebensjahre werth. Ich denke mit Bedauern daran, dass man Das nie erfahren soll, was Ihnen da oben in Geist und Empfindung kommen würde! Ein anderes Gebiet für Abenteuer wäre die täglich anwachsende Insurrection in der Crivoscie und Herzegowina.3 Östreich sucht, glaube ich, Sanitätsleute. — Unbekannt ist der grösste Theil des westlichen China. Von China sagt ein neuerer Forscher, v. Richthofen,4 — es sei ein Land, das die grösste Zukunft habe, in jeder Hinsicht; fruchtbar in Bodencultur, Arbeitskraft, und, bei engerer Bekanntschaft mit dem Westen oder seinem Osten (Amerika), gewiss auch in geistiger Hinsicht — nämlich nach Ablegung seines Rituals und der nationalen Beschränktheiten. Nirgends seien die Quellen so unerschöpflich, als dort, — Temperament (und moralische Schule durch viele Jahrtausende) vorzüglich für das freieste geistige Ergehen vorbereitet! — Ich höre Das gern. Von anderen Abenteuern, als geographischen, darf ich nicht sprechen. Wegen Wagner's5 bin ich ununterrichtet. Jetzt sind sie noch in Palermo. Nachrichten über sie entnehme ich nur der "N[euen] Fr[eien] Presse": ich lese kein andres Journal. Ich gebe Ihnen aber sofort zu wissen, sobald ich hierauf Bezügliches lese. Den Barbier von Sev[illa]6 habe auch ich 2mal vor Fastnacht angehört — mit einem Entzücken, wie ich's einer Musik gegenüber selten erlebt habe. Gewiss habe ich mich vor Ihnen zu schämen, wenn Sie an dieser Musik nicht so viel Antheil nehmen und ich kein Hehl aus meinem Vergnügen mache.7 Ich lege den Nachdruck nicht so auf das Sevilla; zu Rossini's Zeit kannte man die Historie und Localfarbe in der Musik nicht und befand sich noch in einer ähnlichen Unschuld wie die Maler der Frührenaissance oder etwa Shakespeare, der sogar den Trojanern die Kanonen nicht fehlen lässt. — Ich finde in Rossini, und vor allem im Barbier, eine gränzenlose Genialität, — leider in Verbindung mit der ganzen Faulheit des Italiäners. Nirgends, sogar in Mozart nicht, habe ich eine solche Spontaneität (dafür hat der Deutsche keinen entsprechenden Ausdruck, — wahrscheinlich weil er von der Spontaneität wenig weiss) gefunden, wie bei Rossini. Im Barbier fühle ich Nichts, was wie Mühe aussieht, — bei Anderen fühlt man das so häufig (bei Chopin z. B. nicht zu selten). Erstaunt war ich ferner über die angenehme Klangfarbe des Orchesters; diese war zu seiner Zeit gewiss neu. Wie Vieles ist bei Rossini bunt und schillernd geworden, was bei Mozart und Cimarosa wie kalter Marmor ausschaut! Und diese Rossini'schen Crescendi, bei denen das Orchester wie zu kochen und zu brodeln anfängt (z. B. ehe Figaro auftritt), empfinde ich jetzt als das angenehmste Geräusch für mein Ohr. Eine Empfindung ernst nehmen — das konnte Rossini nie; das Tragischste, das er geschrieben, "Assisa a piè d'un salice, immersa nel dolore —" (Othello),8 kommt uns Nachromantikern wie ein Zschumperlied9 in Moll vor. Er ist so schlecht oder so gut, dass er es nicht einmal bis zum Gewissensbiss bringt. Damit genug! — Mit Baron v. Loën10 fängt es schon gut an: er lässt mich schon 14 Tage auf eine Bestätigung des Empfangs der Partitur warten! Ich sehe, es wird in den nächsten Jahren Nichts aus dieser Aufführung. Mein Heil habe ich jetzt von den Italiänern zu erwarten; ich werde mich durch Nichts daran hindern lassen. Mit ergeb[enem] Gruss an Sie, verehrter Herr Professor, und Herrn Dr. Rée11 Ihr dankbarer Schüler 1. Cf. Genua, Ende Februar 1882: Typewritten letter to Heinrich Köselitz. Typewritten letter. © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Genua, Ende Februar 1882: Lieber Freund Ihr Lob meiner Reime1 hat mich sehr ueberrascht. Mit dergleichen unterhalte ich mich auf meinen Spaziergaengen. Sebastian Brant2 kenne ich nicht. Sie haben Recht — unser Schreibzeug3 arbeitet mit an unseren Gedanken. Wann werde ich es ueber meine Finger bringen, einen langen Satz zu drücken! — Uebrigens bin ich trotz der erquicklichsten Gesellschaft4 immer fast wie halbtodt. Wir haben dreimal im Meere gebadet. In naechster Woche gehen wir auf zwei Tage nach Monaco.5 Mitte Maerz verlaesst mich der Freund6 um nach Rom ueberzusiedeln. Genua gefaellt ihm mehr als Sorrent und Neapel.7 Haben Sie vielleicht gehoert ob Wagners von Palermo zurueck8 sind oder ob sie Ostern in Rom erleben wollen? Ich hoerte Ihretwegen den Barbiere.9 Es war die musterhafteste Auffuehrung, Alles von erstem Range, wie mir schien, sogar der Kapellmeister. Aber die Musik missfiel mir. Ich liebe ein ganz anderes Sevilla. Koennen Sie mir nicht eine große Zerstreuung erfinden? Ich moechte ein paar Jahre in Abenteuern verbringen, um meinen Gedanken Zeit, Stille und frische Erdkrume zu geben. — — — — — Ihr Freund Nietzsche. Teufel! Können Sie das auch lesen?!10 1. Cf. 02-17-1882: Typewritten letter to Heinrich Köselitz. Campo Santo di Staglieno. By: Alfred Noack (1833-1895). From tinted photo, 1890. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Genua, Ende Februar 1882: Meine Lieben koennte ich nur auch so viel Heiteres melden wie von Euch kommt. Aber ich bin immer wie halbtodt und der letzte Anfall gehoerte zu meinen schlimmsten. In allen Zwischenpausen wie zwischen allem Elende selber lachen wir1 viel und reden gute und boese Dinge. Vielleicht begleite ich den Freund auf einem Ausfluge an die Riviera.2 Moege sie ihm so gefallen als ihm Genua gefaellt: ich bin hier doch sehr zu Hause. Eine Marquesa Doria hat bei mir anfragen lassen ob ich ihr deutschen Unterricht geben wolle: ich habe Nein gesagt. Die Schreibmaschine3 ist zunaechst angreifender als irgend welches Schreiben. Waehrend des großen Carnevalzuges waren wir auf dem Friedhofe4 dem schoensten der schoensten der Erde. Mitte Maerz geht Rée zu Frl. von Meysenbug nach Rom. Wir beide ziehen Genua der Sorrentinischen Landschaft5 vor. Dreimal haben wir im Meere gebadet. Mit dem herzlichsten Danke und Grusse Euer F. 1. Paul Rée arrived in Genoa on 02-04-1882, and stayed until mid-March 1882.
Genua, Anfang März 1882: Dieser Brief mein lieber Freund ist zugleich eine Fingeruebung1 — Verzeih und nimm fuerlieb! Mitte Maerz verlaesst mich Freund Rée um Frl. von Meysenbug in Rom zu besuchen. Ich selber bleibe nur noch bis zu Ende desselben Monats. Es wird mir schon jetzt hier zu hell. Wohin aber? — Ja, wer mir das sagen könnte! Willst Du die Guete haben mir wieder die ueblichen 500 Francs2 zu schicken? Koeselitzens Partitur3 ist jetzt in den Haenden des Baron Loën:4 Gersdorff hat vermittelt.5 Die Heirath6 des Letztgenannten findet am 19 Maerz statt. Er schrieb7 mir sehr freimuethig und tapfer und wie aus einer neuen Tonart. Romundt hat ein neues Buechlein8 fertig — "Christenthum und Vernunft" —: "Haettst solln ae Pfarr waern!"9 sagt Gersdorff, der die Vignette10 dazu gezeichnet hat. Meine Schwester war einige Zeit mit Frau Rée11 zusammen und ganz entzückt von ihr. Auch hoerte sie einen Vortrag des Dr. Foerster12 im Architecten-Hause (Berlin) der meiner zwei Mal in ausschweifenden Ausdruecken gedachte. Er will nach Suedbrasilien13 auswandern, es sei denn dass — — In herzlicher Freundschaft und mit den Grüssen des Dr. Rée. Dein F. N. 1. Nietzsche wrote the letter on his new Malling Hansen typewriter that Paul Rée brought along with him to Genoa on 02-04-1882.
Genua, 4. März 1882: Lieber Freund das waeren schon Abenteuer1 nach meinem Geschmack: waere nur meine Gesundheit nach meinem Geschmack! Ich wuerde gern eine Colonie nach den Hochlanden Mexikos2 fuehren: oder mit Rée in die Palmen-Oase Biskra reisen — noch lieber kaeme mir ein Krieg. Am liebsten die Noethigung zum kleinsten Antheil an einer grossen Aufopferung. Die Gesundheit sagt zu Allem Nein. Wir waren zwei Tage in Monaco, ich wie billig ohne zu spielen. Doch waere mir den Abend in diesen Sälen zu verbringen die angenehmste Art der Geselligkeit. Die Menschen sind mir dort eben so interessant als das Gold gleichgueltig. — Wie viel gaebe ich darum ueber die Musik des Barbiers3 mit Ihnen gleich zu denken: Zuletzt ist auch Dies eine Sache der Gesundheit. Die Musik muss sehr passionirt oder sehr sinnlich sein, um mir zu gefallen. Beides ist diese Musik nicht: die ungeheure Gelenkigkeit ist mir sogar peinlich wie der Anblick eines Clowns. — Es ist nicht unmoeglich dass ich Ende Maerz nach Venedig komme: oder giebt es dort Stoerenfriede? Ich will Sie bitten, mir Etwas von Ihrem Muth und Ihrer Beharrlichkeit abzugeben. — Rée ehrt und liebt Sie gleich mir. Ihr Freund N. 1. Köselitz had, among other things, proposed a North Pole expedition. Cf. Venice, 02-26-1882: Letter from Heinrich Köselitz. "Principauté de Monaco. — Monte-Carlo, L'Hôtel Métropolitain et les Moulins." By: "ND." From b/w albumen print, ca. 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Genua, 4. März 1882: Meine Lieben, mit unsrer Reise nach Monaco1 haben wir Glueck gehabt — ich habe nicht gespielt und Rée hat wenigstens nicht verloren. Es ist in Bezug auf Lage Natur Kunst und Menschen das Paradies der Hoelle. Das Beste war mir ein ruhiges Stuendchen in einem prachtvollen Thee-Salon, wo uns ein gepudertes und buntes Geschoepf von Diener mit ausgezeichnetem Thee versah. Diese ganze Kueste ist unglaublich theuer als ob das Geld keinen Werth habe. Mentone ist von Gersdorff fuer seine Hochzeitsreise ins Auge gefasst worden. Die Hochzeit ist am 19. Maerz.2 Gebt mir doch einen Rath in Betreff eines Hochzeitsgeschenkes! Wagners sind die Einzigen gewesen, die ihm nicht zu seiner Verlobung gratulirt haben.3 Meiner Gesundheit ist diese Jahreszeit nicht guenstig. Bei den letzten Anfaellen habe ich eine unglaubliche Menge Galle erbrochen. Diese Maschine4 war wieder einmal in Reparatur. In herzlicher Liebe und sehr dankbar für Eure schoenen Briefe5 Euer F. 1. Cf. 03-04-1882: Typewritten letter to Heinrich Köselitz.
Genua, 10. März 1882: Lieber Freund Mit Deinen Liedern gieng es mir seltsam. Eines schönen Nachmittags fiel mir Deine ganze Musik und Musikalität ein und ich fragte mich schliesslich: Warum lässt er nie etwas drucken? Dabei klangen mir die Ohren von einer Zeile aus Jung Niklas.1 Am nächsten Morgen kam Freund Rée in Genua an und überbrachte mir Dein erstes Heft und als ich es aufschlug fiel mir gleich Jung Niklas2 in die Augen. Das wäre eine Geschichte für die Herren Spiritisten! Deine Musik hat Tugenden die jetzt selten sind : ich sehe mir jetzt alle neue Musik auf die immer grösser werdende Verkümmerung des melodischen Sinns an. Die Melodie, als die letzte und sublimste Kunst der Kunst, hat Gesetze der Logik, welche unsre Anarchisten als Sklaverei verschreien möchten : gewiss ist mir nur dass sie bis zu diesen süssesten und reifsten Früchten nicht hinauflangen können. Ich empfehle allen Componisten die lieblichste aller Askesen: für eine Zeit die Harmonie als nicht erfunden zu betrachten und sich Sammlungen von reinen Melodien zum Beispiel aus Beethoven und Chopin anzulegen. In Deiner Musik klingt mir viel gute Vergangenheit und wie Du siehst auch etwas von Zukunft. Ich danke Dir von ganzem Herzen. Dein Freund F.N. 1. "Jung Niklas fuhr auf's Meer." An 1865 ballad by Robert Radecke, text by Robert Reinick. Idyllen aus Messina. "Die kleine Brigg, genannt 'das Engelchen.'" In: Internationale Monatsschrift. 1. Band. 5. Heft. Mai 1882, 270-271 (270). Enhanced image The Nietzsche Channel. Genua, 15. März 1882: Mein lieber armer Freund, hier ein Liedchen1 zu unsrer Erheiterung: wir haben sie Beide so nöthig. Nun Sie gar noch anfangen, an Sich selber zu leiden, hat das Übel seinen Höhepunkt erreicht. Jetzt heisst es: sauve qui peut!2 Es ist unerträglich, Sie vor meinen Augen zu Grunde gehen zu sehn —: haben Sie doch darin ein Wenig Mitleiden mit mir! Zuletzt habe ich's gerade so schlimm und thöricht getrieben wie Sie: unsre bürgerlichen Tugenden und Vorurtheile sind unsre Hauptgefahren — zum Beispiel dieser inhumane Fleiss.3 Wollen Sie meinen Zustand kennen lernen? Zur Strafe für die unsinnige Thätigkeit meiner ersten Basler Jahre kann ich jetzt nicht mehr die kleinste geistige Arbeit thun ohne einen Gewissensbiss — : ich empfinde jedesmal: "das ist nicht recht, du darfst nicht mehr arbeiten!" Ihre Worte in Betreff der Augen4 haben mir mehr wehe gethan als irgend Etwas seit Jahren. Lassen Sie diese Partitur, jetzt und sofort! Die ganze Aufgabe Ihres Lebens tritt vor Sie hin und sagt: "So will es die Pflicht!" Die nächsten Monate müssen ganz der Genesung geweiht sein: Leib und Seele bitten und beschwören Sie darum — ich auch! Wieviel Geld5 brauchen Sie für drei Monate in den Bergen? Es steht Ihnen zu Gebote. Seien Sie grossmüthig gegen mich — gegen Sich! In Treue Ihr Freund Lied von der kleinen Brigg genannt "Das Engelchen." Engelchen: so nennt man mich —Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen Ach noch immer sehr ein Mädchen: Denn es dreht um Liebe sich Stets mein feines Steuerrädchen. Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich — Engelchen: so nennt man mich. 1. Cf. Idyllen aus Messina. "Die kleine Brigg, genannt 'das Engelchen.'" In: Internationale Monatsschrift. 1. Band. 5. Heft. Mai 1882:270-271. View in DUAL TEXT. Nietzsche made a few changes in punctuation in the published version. Excerpt from B[ernhard] F[örster], "Der bekannte Philosoph und Schriftsteller Friedrich Niet[z]sche." In: Deutsches Tageblatt. Berlin, Nr. 59, 02-28-1882, 2. © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Genua, 17. März 1882: Lieber Freund, wahrscheinlich ist Deine Geldsendung1 schon auf der hiesigen Post: sie hat mir die Ankunft eines recommandirten Briefes gemeldet. Heute bitte ich Dich, die übrigen 250 Francs an Herrn Köselitz2 zu senden — mit einem Vermerk dass sie von mir kommen. Der Frühling ist hinter uns: wir haben Sommer-Wärme und Sommer-Helligkeit. Es ist die Zeit meiner Verzweiflung. Wohin? wohin? wohin? Ich verlasse so ungern das Meer. Ich fürchte die Berge und alles Binnenländische — aber ich muss fort. Was für Anfälle habe ich wieder hinter mir! Die ungeheuren Mengen Galle, welche ich jetzt immer ausbreche, erregen mein Interesse. Ein Bericht des Berliner Tageblattes3 über meine Genueser Existenz hat mir Spaass gemacht — sogar die Schreibmaschine4 war nicht vergessen. Diese Maschine ist delicat wie ein kleiner Hund und macht viel Noth — und einige Unterhaltung. Nun müssen mir meine Freunde noch eine Vorlese-Maschine erfinden: sonst bleibe ich hinter mir selber zurück und kann mich nicht mehr genügend geistig ernähren. Oder vielmehr: ich brauche einen jungen Menschen in meiner Nähe, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können. Selbst eine zweijährige Ehe würde ich zu diesem Zwecke eingehen — für welchen Fall freilich ein paar andere Bedingungen in Betracht zu ziehen wären. — Rohde hat geschrieben5 —: ich glaube nicht dass das Bild, welches er sich von mir macht, richtig ist; doch bin ich nicht übel zufrieden damit, dass dies Bild nicht noch viel falscher ist. Aber er ist ausser Stande, etwas von mir zu lernen — er hat kein Mitgefühl für meine Leidenschaft und Leiden. — In Berlin habe ich einen wunderlichen Apostel: denke Dir, dass der Dr. B. Förster6 in seinen öffentlichen Vorträgen mich in sehr emphatischen Ausdrücken seinen Zuhörern präsentirt. — Rée ist jetzt in Rom:7 Ende April geht er nach der Schweiz zu seiner Mutter.8 Er freut sich sehr auf einen Tag in Basel und sendet seine Grüsse voraus. Lebe wohl, mein lieber Freund — ich bin immer Dein und Euer dankbar ergebener F.N. 1. Overbeck sent Nietzsche his pension.
[Genua, 20. März 1882]: Ja verehrte Frau es giebt noch Einiges von mir zu lesen — mehr noch: Sie haben noch Alles von mir zu lesen.3 Jene unzeitgemässen Betrachtungen4 rechne ich als Jugendschriften: Da machte ich eine vorläufige Abrechnung mit dem was mich am meisten bis dahin im Leben gehemmt und gefördert hatte, da versuchte ich von Einigem loszukommen, dadurch dass ich es verunglimpfte oder verherrlichte wie es die Art der Jugend ist —: Ach die Dankbarkeit im Guten und Bösen hat mir immer viel zu schaffen gemacht! Immerhin — ich habe einiges Vertrauen in Folge dieser Erstlinge eingeerntet, auch bei Ihnen und den ausgezeichneten Genossen5 Ihrer Studien! All dies Vertrauen werden Sie nöthig haben um mir auf meinen neuen und nicht ungefährlichen Wegen zu folgen und zuletzt — wer weiss? wer weiss? — halten auch Sie es nicht mehr aus und sagen was schon mancher gesagt hat: Mag er laufen wohin ihm beliebt und sich den Hals brechen wenn’s ihm beliebt.6 Nun verehrte Frau jetzt sind Sie wenigstens gewarnt? Sie wundern sich dass ich so spät schreibe — ich bin fast blind, und erst seitdem ich diese Schreibmaschine besitze kann ich wieder einen Brief beantworten d. h. seit drei Wochen. Mein Wohnort ist Genua. — Ihr ergebener Diener 1. © Klassik Stiftung Weimar, Goethe-und Schiller-Archiv. End 1881: Letter from Elise Fincke. The notation by Nietzsche reads: "Erster amerikanischer Brief. / initium gloriae mundi." (First American letter. / Beginning of world fame.)
Genua, 21. März 1882: Mein lieber Freund welches Vergnügen machen mir Ihre Briefe! Sie ziehen mich ab nach allen Seiten, und zuletzt unter allen Umständen zu Ihnen hin! Gestern badete ich am Meere, genau an jener berühmten Stelle wo - - - denken Sie im vorigen Sommer einer meiner nächsten Verwandten2 von einem solchen Anfall im Bade überrascht wurde und weil zufällig Niemand in der Nähe war ertrank. Über Ihre 30 frs.3 habe ich sehr gelacht die Post übergab mir diesen Brief ohne selbst nach meinem Passe zu verlangen und der junge Beante lässt Sie grüssen ecco!4 — Overbeck hat mir mein Geld5 geschickt ich bin für ein paar Monate jetzt versorgt. Grüssen Sie diese Russin.6 Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus in Anbetracht dessen was ich in den nächsten 10 Jahren thun will brauche ich sie. Ein ganz anderes Capitel ist die Ehe ich könnte mich höchstens zu einer zweijährigen Ehe verstehen, und auch dies nur in Anbetracht dessen was ich in den nächsten 10 Jahren zu thun habe. Nach den Erfahrungen die ich eben mit Köselitz mache werden wir ihn nie dazu bringen Geld von uns anzunehmen es sei denn in der bürgerlichsten Form von Kauf und Verkauf. Ich habe ihm gestern geschrieben ob er mir und zweien meiner Freunde die Matrimonie-Partitur verkaufen wolle : ich bot ihm 6000 frs. zahlbar in vier Jahresraten von 1500 frs. Diesen Vorschlag halte ich für eine Feinheit und einen Fallstrick . Sobald er Ja sagt, melde ich es Ihnen; und Sie haben dann die Güte mit Gersdorff zu verhandeln. 7 Leben Sie wohl! Die Schreibmaschine will nicht mehr, es ist gerade die Stelle des geflickten Bandes.8 Ich schrieb an Frl. von M auch wegen Pieve's.9 Meine herzlichsten Wünsche für Ihr Wohl, bei Tag und Nacht Ihr getreuer Freund F N.
Nein! ich sende den Brief an Frl. v. M an Ihre Adresse, lieber Freund. 1. Read about the restoration of Nietzsche's typewriter by Eberwein. Messina. By: Friedrich Perlberg (1848-1921). From picture postcard, undated. Enhanced image The Nietzsche Channel. Messina, 1. April 1882: Euer Vergnügen über meine Verse1 hat mir großes Vergnügen gemacht; Ihr wißt, Dichter sind unbändig eitel. Einige weise Reime in altdeutscher Manier2 haben bei Köselitz den größten Effekt der Verwunderung hervorgebracht.3 Zuletzt, wenn die Augen mich verhindern etwas zu lernen — ich bin bald so weit! so kann ich immer noch Verse schmieden. — Der letzte Anfall meines Leidens glich vollständig der Seekrankheit: als ich zum Dasein erwachte, lag ich in einem hübschen Bettchen an einem stillen Domplatz; vor meinem Fenster ein Paar Palmen. Hier will ich also den Sommer verleben, ich muß, nach den schlimmen Erfahrungen der letzten Jahre, den Versuch machen, am Meere auch im Sommer zu leben. Die Schatten-Verhältnisse bestimmten meine Wahl. Adresse: Messina (in Sicilia) (poste restante)[.] In Liebe 1. According to Elisabeth Nietzsche, this refers to the initial verses of "Idyllen aus Messina." In: Internationale Monatsschrift. Bd. 1, Heft 5, Mai 1882, 269-275. Dual text. Cf. 02-17-1882: Typewritten letter to Heinrich Köselitz; 03-15-1882: Letter to Heinrich Köselitz. Messina Harbor, Sicily, Italy. By: Charles Euphrasie Kuwasseg (1833-1904). Oil on canvas, ca. 1868. Enhanced image The Nietzsche Channel. Messina, 8. April 1882: Lieber Freund, daß Sie Sich nicht über mich beunruhigen, heute ein Kärtchen — mit der Bitte und Bedingung, daß Sie mir eine gute Zeit keine Briefe, sondern höchstens ebenfalls ein Kärtchen schicken. Also, ich bin an meinem "Rand der Erde"1 angelangt, wo, nach Homer, das Glück wohnen soll. In Wahrheit, ich war noch nie so guter Dinge, wie die letzte Woche, und meine neuen Mitbürger verwöhnen und verderben mich auf die liebenswürdigste Weise. Reist vielleicht Jemand mir nach, der die Menschen zu meinen Gunsten besticht? — Adresse: Messina, Sicilia poste restante. Mein Sommer-Aufenthalt.2 1. Cf. Homer; Robert Fagles (trans.), The Odyssey. Book 4, 563-568. New York; London: Penguin, 1997, 142. "But about your own destiny, Menelaus, / dear to Zeus, it's not for you to die / and meet your fate in the stallion-land of Argos, / no, the deathless ones will sweep you off to the world's end, / the Elysian Fields, where gold-haired Rhadamanthys waits, / where life glides on in immortal ease for mortal man; / no snow, no winter onslaught, never a downpour there / but night and day the Ocean River sends up breezes, / singing winds of the West refreshing all mankind."
Messina, 8. April 1882: Also, lieber Freund! Die Vernunft hat gesiegt: — nachdem mir die letzten Sommer in den Bergen1 so schlecht bekommen sind, und die Annäherung an die Wolkenimmer mit Verschlechterung meines Zustandes verbunden war, so bleibt übrig zu versuchen, was ein Sommer am Meere thut. Die Stadt war schwer ausfindig zu machen; zuletzt bin ich mit Einem kühnen Sprunge, direkt, als einziger Passagier,2 hierher nach Messina gereist, und fange an zu glauben, daß ich mehr Glück als Verstand dabei gehabt habe — denn dies Messina ist wie geschaffen für mich; auch die Messinesen zeigen mir eine Liebenswürdigkeit und Entgegenkommen, daß ich schon auf die wunderlichsten Nebengedanken gerathen bin (zB. ob nicht Jemand hinter mir her reist, der die Leute für mich besticht?) Adresse: Messina, Sicilia, poste restante. Dein guter Brief3 hat mir zu denken und zu lachen gegeben. Immer Dein und Euer F. N. 1. Nietzsche spent the summer of 1880 (July-August) in Marienbad in Bohemia and the summer of 1881 (July-September) in Sils Maria.
Messina, 14. April 1882: Herzlichen Gruß und Glückwunsch!2 — Von Februar an ist mir Genua nichts nütze mehr: schmerzhafte Unlustigkeit, so daß man mühsam über den Tag wegkommt. Verstärkung der Anfälle. In Recoaro3 wurde es noch schlimmer. Da scheine ich denn einen vorzüglichen Griff gethan zu haben! Sehr gute Stimmung! Nur verwöhnt man mich! Du kannst errathen, daß ich nicht um zu verschwenden, nach Sicilien gegangen bin, aber die billigen Preise, die man mir macht, setzen mich doch in Erstaunen. Habt Ihr kalt? Die Kalabrischen Berge, meine Vis-à-Vis, haben Schnee! — Wäsche im letzten Zustande! Ich pfeife auf zwei noch möglichen Hemden! Auch meine Kleidung ebenso schlicht als schlecht. Aber mein Zimmer 24 Fuß lang und 20 Fuß breit. Für 4 Pfennige 3 Apfelsinen. Dein Bruder. 1. The photograph was obtained by Rev. John Neale Dalton (1839-1931) — a tutor to the two sons of King George V (1865-1936) — while on a voyage aboard the HMS Bacchante to various places, including Messina. Dalton later presented it in an album of other photographs to King George V. View the original photo online.
Rom, 20. April 1882: Lieber Herr Messineser!2 Es lebe die schönste, saftigste, arrondirteste Messina-Apfelsine, und möge die einzige Schattenseite, welche sie dort findet, die umbra realis3 sein! Ist es nur möglich! Sie haben am meisten die junge Russin4 durch diesen Schritt in Erstaunen und Kummer versetzt. Dieselbe ist nämlich so begierig geworden, Sie zu sehen, zu sprechen, daß sie deßhalb über Genua zurückreisen wollte, und sie war sehr zornig, Sie so ganz entrückt zu sehen. Sie ist ein energisches, unglaublich kluges Wesen mit den mädchenhaftesten, ja kindlichen Eigenschaften. Sie möchte sich so gern, wie sie sagte, wenigstens ein nettes Jahr machen, und das sollte nächsten Winter sein. Dazu rechnet sie als nöthig Sie, mich und eine ältere Dame, wie Frl. v. Meysenbug, (Haben Sie deren Brief5 noch bekommen?), aber diese hat keine Lust. Könnte man nicht dieses Zusammensein arrangiren — Aber wer als ältere Dame? Ort müßte wohl Genua sein oder könnten Sie sich auch zu einem andern entschließen? Es könnte doch zu nett werden. Hier in Rom ist etwas viel Geselligkeit. Trotzdem schreitet die Seele vor. Ich halte bei Frl. v. M[eysenbug] Vorträge über mein Buch,6 was mich einigermaßen fördert, zumal auch die Russin zuhört, welche Alles durch und durchhört, sodaß sie in fast ärgerlicher Weise schon immer vorweg weiß, was kommt, und worauf es hinaus soll. Rom wäre nicht für Sie. Aber die Russin müssen Sie durchaus kennen lernen. Haben Sie die Schreibmaschine nicht mit? Ist sie ganz in Unordnung?7 Wagners müssen mit Ihnen zugleich in Messina gewesen sein.8 Die zweite Tochter (Blandine?) hat sich mit einem sicilianischen Grafen verlobt.9 Herzlichst grüßend 1. A reply to a lost letter from Nietzsche.
Luzern, 8. Mai 1882: Mein Freund, wie finde ich den mehrerwähnten Goldklumpen,2 nachdem ich den "Stein der Weisen" (es ist noch dazu ein Herz) gefunden habe?3 — — Scirocco immer um mich, mein großer Feind, auch im Metaphorischen Sinne. Zuletzt aber denke ich immer: "ohne Scirocco wäre ich in Messina"4 — und vergebe meinem Feinde. — In summa: höchste Gottergebenheit.5 — Die Reise6 lächerlich durch und durch, ich will erzählen. Heute direkt nach Basel,7 wo ich incognito bei Overbecks sein werde, bis Ihr Telegramm mich nach Luzern ruft. Adresse: Nietzsche per adr. Professor Overbeck, Basel, Eulergasse. Die Zukunft ist mir völlig verschlossen, aber doch nicht "dunkel." Ich muß durchaus Frl. L[ou] noch einmal sprechen,8 im Löwengarten etwa? — In unbegrenzter Dankbarkeit Ihr Freund N. 1. A reply to a lost letter from Paul Rée.
Basel,1 8. Mai 1882: Mein werther Herr Verleger, ich hätte Ihnen Mehreres zu erzählen, muß mich aber in Hinsicht auf Augen und fortwährende Kopfschmerzen darauf beschränken, um etwas zu bitten. Senden Sie doch ein Exemplar meiner "Morgenröthe" unter meiner Adresse nach Zürich2 poste restante, und umgehend! — Das erste Heft Ihrer Zeitschr[ift] war interessant genug; und zumal die Einleitung setzte mich in einiges Erstaunen, wegen der unerwarteten Gedanken-Harmonie mit mir.3 Dürfte ich nur lesen, so würde ich weiter lesen! aber der Rest meiner Augen gehört ganz meinem Ziele. Für den Herbst können Sie ein M[anu]s[cript] von mir haben: Titel "Die fröhliche Wissenschaft"4 (mit vielen Epigrammen in Versen!!!) Die besten Wünsche für Sie und Herrn Widemann! Ergebenst der Ihre 1. Nietzsche visited Franz Overbeck from 05-08-1882 to 05-13-1882 before going to Naumburg.
Luzern, 15. Mai 1882: Es klingt vielleicht unglaublich — aber wahrscheinlich werde ich Mittwoch Nachmittag2 über Frankfurt zu Euch nach Naumburg3 kommen. In Liebe Abreise Dienstag Abend von Basel[.]4 1. Franziska Nietzsche, at 25, ca. 1850. Two reproductions: 1. by Atelier Hertel, Weimar; and 2. by Louis Held, Weimar. GSA 101/315. The date of the photo is uncertain. GSA lists it as 1845, and Nietzsche Chronik as ca. 1850. See Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. München: Hanser, 2000, 13. Top of Nietzsche's receipt for the Hotel St. Gotthard. Lucerne, May 13, 1882. © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Luzern, 15. Mai 1882: In Luzern1 erwarteten mich Lou und Rée2 am Bahnhofe. — Wahrscheinlich reise ich Dienstag3 über Basel nach Naumburg, zusammen mit Rée — prestissimo! - - - Dienstag oder Mittwoch über 2 Wochen kommt Lou einen Tag nach Basel4 (Abends geht die Reise weiter.) Nachmittags möchte sie gerne zu Dir und Deiner lieben Frau kommen. Ist es erlaubt? — Herzlich dankbar. Adr.: Naumburg. 1. Receipt at GSA 71/369, 6 shows that on 05-13-1882, Nietzsche stayed at the Hotel St. Gotthard next to the train station and across from the boat landing.
Naumburg, Mitte Mai 1882: Werthester Herr Verleger! Auch der ernstesten Zeitschrift1 thut hier und da etwas Heiteres noth. Hier sind 8 Lieder2 für Ihre Zeitschrift. Meine Bedingungen3 sind[:] 1) daß sie alle 8 auf Ein Mal gedruckt werden Auf meinen "Geschmack" müssen Sie Sich unbedingt verlassen. — Wollen Sie? Schnelle Rückantwort nach Naumburg a/Saale wo ich ein wenig ausruhe. Dank für Brief und Sendung nach Zürich!4 Ergebensten Gruß an Freund Widemann! Dr. F. Nietzsche 1. Ernst Schmeitzner's journal, Internationale Monatsschrift, which first appeared in January 1882. 05-23-1882. © Universitätsbibliothek Basel. Enhanced image The Nietzsche Channel. Naumburg, 23. Mai 1882: Ein Wort, mein lieber Freund! Inzwischen gieng es mir gut. Schönstes Wetter. In Bezug auf Lou tiefes Stillschweigen.1 So ist es nöthig. — Der Besuch bei Frau Rée2 ist jetzt sicher in's Auge gefaßt, nach Rée's letzter Karte.3 — Wir essen den guten Honig und sprechen viel über Dich und Deine verehrungswürdige Gattin. Treugesinnt Dein dankbarer 1. At the end of April 1882, Nietzsche met Lou Salomé in Rome at Malwida von Meysenbug's, when she was residing at Via della Polveriera 6; see Paul Rée's 04-20-1882 letter regarding Lou Salomé. Nietzsche started making plans for some kind of future with her, or one that also included Paul Rée. They initially planned a "trinity" with a joint study trip to Vienna, where Lou's brother Eugène Salomé was studying medicine. After the Bayreuth Festival in July/August 1882, Munich and then Paris were also considered. But, understandably, none of these plans came to fruition, and after spending two weeks together in Leipzig in October 1882, Rée and Salomé altogether abandoned these "trinity" plans — and Nietzsche. They both went to Berlin in early November, while Nietzsche returned to Genoa on 11-15-1882, never to see them again. Cover of Nietzsche's Notebook N-VI-1.1 © Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv. Enhanced image The Nietzsche Channel. Naumburg, 24. Mai 1882: Lieber Freund, mir ist es inzwischen2 recht gut ergangen; endlich bin ich dem Scirocco entschlüpft. — Sehen Sie doch das Maiheft3 der Schmeitznerschen Zeitschrift an: darin sind "Idyllen aus Messina." — Ich habe einen alten Kaufmann,4 der Bankerott gemacht hat, engagirt: er schreibt täglich 2 Stunden, während meine Schwester das Manuscript diktirt,5 und ich zuhorche und berichtige: die einzige Rolle, die ich jetzt spielen kann. — Ich bin schweigsam gewesen6 und werde es auch fürderhin sein — Sie wissen, in Bezug worauf. Es ist nöthig. — Man kann sich nicht auf wunderbarere Weise Freund sein als wir es jetzt sind, nicht wahr? Mein alter lieber Rée!
Ihr F. N. 1. Cover of Nietzsche's Notebook N-VI-1, which contains, amongst other writings, draft versions of poems.
Naumburg, kurz nach dem 24. Mai 1882: Liebe Freundin Lou, besuchen Sie doch Professor Overbeck's ihre Wohnung ist Eulergasse 53. 1 Hier in Naumburg bin ich bisher in Bezug auf Sie und uns ganz schweigsam gewesen.2 So bleibe ich unabhängiger und stehe Ihnen besser zu Diensten. — Die Nachtigallen singen die ganzen Nächte durch vor meinem Fenster. Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich es bin und sein kann; beachten Sie diesen Unterschied wohl! Wenn ich ganz allein bin, spreche ich oft, sehr oft Ihren Namen aus zu meinem größten Vergnügen! Ihr F. N. 1. As a way of introduction to his closest friend. Franz Overbeck and his wife Ida were impressed with Salomé. Unfortunately, Overbeck's eight-page letter expressing these favorable sentiments is lost. However, Ida Overbeck recorded her own observations on Salomé's visit of May 30 in her diary entry of June 2, 1882.
Naumburg a/Saale, 28. Mai 1882: Verehrte Frau Professor bei unserem letzten Zusammensein1 war ich allzu sehr angegriffen: so habe ich Ihnen und meinem Freunde2 eine Sorge und Beängstigung hinterlassen, zu der eigentlich kein Grund vorliegt; vielmehr Anlaß genug zum Gegentheil! Im Grunde schlägt mir das Schicksal immer zum Glücke und mindestens zum Glücke der Weisheit aus wie sollte ich mich vor dem Schicksale fürchten, namentlich wenn es mir in der gänzlich unerwarteten Gestalt von L3? Beachten Sie, daß Rée und ich mit gleichen Empfindungen unsrer tapferen und hochherzigen Freundin zugethan sind und daß er und ich sehr großes Vertrauen zu einander auch in diesem Punkte haben. Auch gehören wir weder zu den Dümmsten, noch zu den Jüngsten. Hier habe ich bisher ganz von diesen neuen Dingen geschwiegen. Trotzdem wird dies auf die Dauer unthunlich sein, und zwar schon deshalb, weil meine Schwester und Frau Rée4 in Verkehr sind. Meine Mutter will ich dagegen "aus dem Spiele" lassen sie hat schon genug Sorgen zu tragen wozu noch unnöthige? Fräulein Lou wird diesen Dienstag Nachmittag zu Ihnen kommen (auch das Buch "Schopenhauer als Erzieher" zurückbringen, welches in der That durch ein Versehen in meinen Koffer gerathen war) Sprechen sie über mich mit jeder Freiheit, verehrte Frau Professor; Sie wissen und errathen ja, was mir, um mein Ziel zu erreichen, am meisten Noth thut Sie wissen auch, daß ich kein "Mensch der That" bin und in bedauerlicher Weise hinter meinen besten Absichten zurückbleibe. Auch bin ich, eben wegen des erwähnten Zieles, ein böser böser Egoist und Freund Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich (was Lou nicht glauben will.)5 Freund Overbeck darf bei diesem Privatissimum nicht zugegen sein? Nichtwahr? 6 Es ging mir inzwischen recht gut; man findet, ich sei in meinem Leben nie so heiter gewesen. Was mag der Grund davon sein? Treulich dankbar und ganz 1. May 16.
Naumburg a/Saale, 28. Mai 1882: Meine liebe Freundin, das haben Sie mir recht nach dem Herzen (und auch nach den Augen) geschrieben!1 Ja, ich glaube an Sie: helfen Sie mir, daß ich immer an mich selber glaube und unserm Wahlspruch und Ihnen Ehre mache "uns vom Halben zu entwöhnen Mein letzter Plan, Sie zu sprechen, ist dieser: Ich will nach Berlin reisen, in der Zeit, wo Sie in Berlin sein werden, und von da mich sofort in einen der schönen tiefen Wälder zurückziehn, welche in der Nachbarschaft Berlins sind nahe genug, um uns treffen zu können, wann wir, wann Sie wollen. Berlin selber ist für mich eine Unmöglichkeit. Also: im "Grunewald"3 bleibe ich und warte die ganze Zeit ab, welche Sie nachher in Stibbe4 zubringen. Dann stehe ich Ihnen für alle weitern Absichten zu Gebote: vielleicht finde ich irgend ein würdiges Förster- oder Pfarrhaus im Walde selber, wo Sie noch ein Paar Tage in meiner Nähe leben können. Denn, aufrichtig, ich wünschte sehr, so bald als möglich mit Ihnen einmal ganz allein zu sein. Solche Einsame, wie ich, müssen sich auch an die Menschen, die ihnen die liebsten sind, erst langsam gewöhnen: seien Sie hierin gegen mich nachsichtig oder vielmehr ein wenig entgegenkommend! Gefällt es Ihnen aber, weiter zu reisen, so finden wir nicht weit von Naumburg eine andre Waldeinsiedelei (in der Nachbarschaft eines Altenburgschen Schlosses; dahin könnte ich, wenn Sie wollen, meine Schwester bestellen.5 (So lange noch alle Sommerpläne in der Luft hängen, thue ich gut, bei den Meinigen ein vollkommnes Stillschweigen aufrecht zu halten nicht aus Lust an Heimlichkeiten, sondern aus "Kenntniß der Menschen") Meine liebe Freundin Lou, über "Freunde" und den Freund Rée insonderheit will ich mündlich mich erklären: ich weiß sehr wohl, was ich sage, wenn ich ihn für einen besseren Freund halte als ich es bin und sein kann. Oh der schlechte Photograph! Und doch: was für ein lieblicher Schattenriß sitzt da auf dem Leiterwägelchen!6 — Den Herbst verbringen wir, denke ich, schon in Wien? Zu welcher Aufführung wollen Sie in Bayreuth?7 Rée hat eine Karte zur ersten, so viel ich weiß. Nach Bayreuth suchen wir noch einen Zwischenort zu Gunsten Ihrer Gesundheit? Von meiner soll heute nicht die Rede sein. Von Herzen Ihr F. N. Man behauptet, ich sei in meinem Leben nicht so heiter gewesen als jetzt. Ich vertraue meinem Schicksale. 1. Unknown letter.
Naumburg, 29. Mai 1882: Mein lieber Freund, wie geht es? Wohin geht es? Und geht es überhaupt? Was machen die Sommer-Pläne?1 Gestern habe ich meinen neuesten Plan2 an L[ou]: mitgetheilt: ich will nämlich in einer der nächsten Wochen in den Grunewald bei Charlottenburg übersiedeln und dort so lange verweilen, als L[ou] bei Ihnen in Stibbe3 ist: um sie dann in Empfang zu nehmen und etwa in einen thüringischen Waldort zu begleiten, wohin eventuell auch meine Schwester kommen könnte. (zB. Schloß Hummelshayn) Bis jetzt, so lange noch Alles schwebt, habe ich Stillschweigen für nöthig befunden.4 Haben Sie Ihren Bayreuther Platz schon vergeben? Vielleicht an Lou? Das wäre für die erste Aufführung? Meine Schwester ist vom 24. Juli an dort.5 Gestern war Romundt bei mir, der in der That zu den glücklichen Menschen gehört.6 Es ist mir gut gegangen, und ich bin heiter und arbeitsam. Das M[anu]s[cript] erweist sich seltsamer Weise als "unedirbar."7 Das kommt von dem Princip des "mihi ipsi scribo."8 — ! Ich lache öfter über unsre pythagoreische Freundschaft, mit dem sehr seltenen "filoiV panta koina."9 Es giebt mir einen besseren Begriff von mir selber, einer solchen Freundschaft wirklich fähig zu sein. Aber zum Lachen bleibt es doch? In herzlicher Liebe Ihr F. N. Ihrer verehrten Frau Mutter meine und meiner Schwester ergebenste Grüße. 1. Their plan to live and work with Lou Salomé.
Boston, 29. Mai 1882: Dear sir, I trust that you will not take it quite amiss that I, an entire stranger to you, venture to intrude myself upon your notice when you are doubtless engrossed with your work and thoughts, or probably endeavouring to enjoy a short interval of leisure. I have nothing to offer by way of apology beyond a desire to express to you my most humble thanks for the benefit I have derived from your works, and the wish (which I have long entertained) to possess a likeness, be it ever so small, of the man I have learned to adore for the greatness of his mind and the sincerity of his utterances. I have several times tried to obtain through book agencies both here and abroad a photograph of your face, but I am sorry to say always in vain. Whether nothing of the kind exists I know not, but if such a thing is really to be had, I beg that you may put me in the way of obtaining it without regard to the matter of expense to me. 2 Your acquaintance as a writer I was fortunate enough to make some years ago when I was living in England, and I assure you I prize it no less than that of the great Schopenhauer himself, which thanks to my my brother3 in London I had made some years before my attention was first called to your "Inopportune reflections."4 Being then engaged as a professional violin-player, I nevertheless found time enough to translate your pamphlet on Schopenhauer5 no less than three times, not so much with a view to publishing my feeble reproduction, as to that of becoming more intimate with your work and that of exercising myself in the use of the Queen's English. But in spite of my efforts, my version fell so far short of an adequate rendition of the original, that I was only too glad for the sake of your reputation to keep the manuscript in my desk. Since then I have quite destroyed it, but the memory of exalted moments remains, and I am sure that my work was at least not wasted upon myself. Although but an indifferent German scholar I nevertheless possess a sufficient knowledge of my mother tongue to read without effort and to grasp in the main the import of such writings as those of Schopenhauer, Wagner and yourself. That I have at least brains enough to enable me to perceive the true greatness of such men is at all events something, and compensates me in a measure for the want of such an education as would otherwise have enabled me to preach the gospel of thruth [sic] myself. My mind is only receptive, not productive, and I heartely [sic] wish ma[n]y others could convince themselves what folly it is for fools to "rush in where angels fear to tread" then we should surely see less paper made unsaleable than is unfortunately the case now-a-days. Pray do not think it incumbent upon yourself to answer this, except it be to point out to me some work of yours which I have not yet in my possession. Those that I have include your "Geburt der Tragödie," "Inopportune reflections" and "Menschliches, Allzumenschliches." If there are any other writings from your pen which are published and you think are likely to interest a mere lover of good books, you will confer a favour, (for which you have my best thanks in anticipation) if you will call my attention to them so that I may add them to my little library. The coveted photograph I hope I may receive at your hands, but I shall feel no less grateful if you will only let me know where and in what way I may be able to obtain one. Once more I beg that you pardon this intrusion, and with my best and heartiest wishes for your personal welfare, believe me with the greatest admiration for your works and genius Your most humble and obliged servant To Dr. Fried. Nietzsche. — 1. The letter was written in English.
Naumburg, etwa 5. Juni 1882: Mein lieber Freund, seit mehreren Tagen krank, es gab einen äußerst schmerzhaften Anfall. Ich erhole mich langsam. Nun Dein Brief! Einen solchen Brief bekommt man nur Ein Mal, ich danke Dir von ganzem Herzen und werde es Dir nie vergessen.1 Ich bin glücklich für mein Vorhaben,2 das für uneingeweihte Augen sehr phantastisch schillern dürfte, den ganzen guten Menschen- und Freundes-Verstand von Dir und Deiner lieben Frau gewonnen zu sehen. Die Wahrheit ist: in der Art, wie ich hier handeln will und werde, bin ich einmal ganz und gar der Mensch meiner Gedanken, ja meines innersten Denkens: diese Übereinstimmung thut mir so wohl, wie mir das Bild meiner Genueser Existenz wohlthut, in der ich auch nicht hinter meinen Gedanken zurückgeblieben bin. Es sind eine Menge meiner Lebensgeheimnisse in diese neue Zukunft eingewickelt, und es bleiben mir hier Aufgaben zu lösen, die man nur durch die That lösen kann. Übrigens bin ich von einer fatalistischen "Gottergebenheit" — ich nenne es amor fati3 — daß ich einem Löwen in den Rachen laufen würde, geschweige denn — — In Betreff des Sommers ist Alles noch im Unsichersten.4 Ich schweige5 hier fort und fort. In Betreff meiner Schwester bin ich ganz entschlossen, sie außerhalb zu lassen; sie könnte nur verwirren (und sich selber vorerst) Romundt war hier; brav und etwas mehr auf den Wegen der Vernunft.6 Dir und Deiner lieben Frau von Herzen zugethan 1. See above.
Naumburg, vermutlich 10. Juni 1882: Inzwischen, mein lieber lieber Freund, war ich krank ja ich bin es noch. Daher auch heute nur wenig Wörtchen! Ich halte es nunmehr für festgestellt, daß Frl. Lou bis zur Bayreuther Zeit in Stibbe1 ist jedenfalls daß sie mit Ihnen und Ihrer Frau Mutter bis zum angegebenen Termine zusammen bleibt? Ist dies die richtige Auffassung der Lage? Auf welche Weise wird sie denn nach Bayreuth2 zu befördern sein? Oder combiniren Sie selber vielleicht Pläne, welche südwärts führen (Engadin?)? Ich selber denke daran, Anfang Juli mich gewissermaßen nach Wien auf den Weg zu machen: das heißt, einen Sommeraufenthalt in Berchtesgaden zu versuchen vorausgesetzt, daß ich keinerlei Dienste vorher zu leisten habe. Im Ganzen bitte ich Sie dringend, von unserem Winter-Vorhaben gegen Jedermann zu schweigen: man soll von allem Werdenden schweigen. Sobald etwas zu zeitig davon verlautet, giebt es auch Gegner und Gegen-Pläne: die Gefahr ist nicht gering. In Deutschland, merke ich leider, ist es für mich schwer, incognito zu leben. Thüringen habe ich ganz aufgegeben. Ich möchte möglichst bald hören, was ich zu thun und zu lassen habe, damit ich über meinen Sommer verfügen kann. Naumburg ist ein fürchterlicher Ort für meine Gesundheit. Adressiren Sie, liebster Freund, Ihre nächsten Zeilen nach Leipzig, poste restante. Verzeihung für diese vom Geiste der Krankheit überhauchte Schreiberei! In summa haben wir Beide es doch sehr gut; wer hat denn ein so schönes Projekt vor sich, wie wir? M[anu]s[cript]3 ziemlich fertig: aber immer noch unedirbar. Mihi ipsi scripsi.4 Adieu! Von Herzen 1. To stay at the family home of Paul Rée.
Naumburg, 10. Juni 1882: Ja, meine liebe Freundin, ich übersehe aus meiner Ferne gar nicht, welche Personen in unsere Absichten1 nothwendig eingeweiht werden müssen; aber ich denke, wir wollen daran festhalten, eben nur die nothwendigen Personen einzuweihen. Ich liebe die Verborgenheit des Lebens und ich wünschte von Herzen, daß Ihnen und mir ein europäisches Geschwätz erspart bliebe. Im Übrigen verbinde ich mit unserem Zusammenleben so hohe Hoffnungen, daß alle nothwendigen oder zufälligen Nebenwirkungen jetzt wenig Eindruck auf mich machen: und was sich auch ergiebt, wir wollen es zusammen tragen und das ganze Bündelchen alle Abende zusammen in's Wasser werfen nicht wahr? Ihre Worte über Frl. v. M[eysenbug] bestimmen mich, ihr nächstens einen Brief zu schreiben.2 Geben Sie mir zu verstehen, wie Sie sich die Zeit von Bayreuth ab einzurichten denken, und auf welche Mithülfe meinerseits Sie dabei rechnen.3 Mir thut jetzt Berg und Hochwald sehr noth: nicht nur die Gesundheit, noch mehr "die fröliche Wissenschaft" treiben mich in die Einsamkeit. Ich will das Ende machen. Paßt es, wenn ich jetzt schon mich nach Salzburg (oder Berchtesgaden) begebe, also auf den Weg nach Wien? Wenn wir zusammen sind, schreibe ich Ihnen etwas in das übersandte Buch.4 Zuletzt: ich bin in allen Dingen der That unerfahren und ungeübt; und seit Jahren habe ich mich nie für irgend eine Handlung vor Menschen zu erklären oder zu rechtfertigen gehabt. Meine Pläne lasse ich gerne im Verborgenen; über meine Facta 5mag alle Welt reden! Doch gab die Natur jedem Wesen verschiedene Vertheidigungswaffen und Ihnen gab sie Ihre herrliche Offenheit des Wollens. Pindar sagt einmal "werde der, der du bist!"6 Treulich und ergeben 1. The plan to live and work with Salomé and Rée.
Naumburg, 18. Juni 1882: Mein lieber alter Freund, dieses deutsche Wolken-Wetter hat mich zu einer Art von Siechthum verurtheilt, so daß auch meine Vernunft mitunter nicht mehr vernünftig blieb Zeugniß mein letzter Brief, für dessen schnelle Beantwortung ich Ihnen von Herzen gut bin.1 Zeugniß zweitens meine Reise nach Berlin, um L[ou] und den Grunewald zu sehn; doch habe ich nur das Zweite erreicht auf Nimmerwiedersehn!2 Am Tage drauf fuhr ich nach Naumburg zurück halbtodt. Ebenso wurde aus dem projektirten Aufenthalt in Leipzig nichts; ich hielt es auch nur Einen Tag aus. Trotzalledem bin ich voller Zutrauen zu diesem Jahre und seinem geheimnißvollen Würfelspiel über mein Schicksal. Ich reise nicht nach Berchtesgaden und bin überhaupt nicht mehr im Stande, allein etwas zu unternehmen. In Berlin war ich wie ein verlorner Groschen, den ich selber verloren hatte und Dank meiner Augen nicht zu sehn vermochte, ob er mir schon vor den Füßen lag, so daß alle Vorübergehenden lachten. Gleichniß! — Was wird nach Bayreuth? Ich combinire jetzt, daß auch meine Mutter Frl. Lou einladen könnte, daß sie etwa den Monat August in Naumburg zubrächte, und daß wir im September uns auf den Weg nach Wien machten. Sagen Sie Ihre Meinung, bitte. Ich lege ein Billet3 an unsre sehr merkwürdige und allzusehr liebenswürdige Freundin bei; ich weiß nicht, wo sie ist. 4 Ihrer verehrten Frau Mutter meinen Gruß und Dank Sie wissen ja, wofür ich ihr gerade jetzt solchen Dank schuldig bin. Von Herzen Ihr 1. Unknown letter from Rée.
Tautenburg, 26. Juni 1882: Meine liebe Freundin, eine halbe Stunde abseits von der Dornburg, auf der der alte Goethe1 seine Einsamkeit genoß, liegt inmitten schöner Wälder Tautenburg. Da hat mir meine gute Schwester ein idyllisches Nestchen eingerichtet, das mich nun diesen Sommer bergen soll. Gestern habe ich es in Besitz genommen; morgen reist meine Schwester ab, und ich werde allein sein. Doch haben wir etwas verabredet, was sie vielleicht wieder hierher bringt. Gesetz nämlich, Sie hätten keine bessere Verwendung des Monat August's und fänden es schicklich und thunlich, hier mit mir im Walde zu leben, so würde meine Schwester Sie von Bayreuth hierher geleiten und mit Ihnen hier in Einem Hause wohnen (zb. bei dem Pfarrer, wo sie augenblicklich wohnt: der Ort hat Auswahl an hübschen bescheidenen Zimmern). Meine Schwester, über die Sie Rée befragen mögen, würde gerade für diese Zeit nach Abgeschiedenheit verlangen, um auf ihren kleinen Novellen-Eierchen zu brüten. Es ist ihr ein äußerst angenehmer Gedanke, in Ihrer und meiner Nähe zu sein.2 So! Und nun Aufrichtigkeit "bis zum Tod"! Meine liebe Freundin! Ich bin durch nichts gebunden und wechsele meine Pläne, wenn Sie Pläne haben, auf das Leichteste. Und soll ich nicht mit Ihnen zusammen sein, so sagen Sie auch dies mir einfach und nicht einmal Gründe brauchen Sie anzugeben! Ich vertraue Ihnen ganz: aber das wissen Sie. Wenn wir zu einander passen, so werden auch unsre Gesundheiten zu einander passen, und irgendworin wird ein geheimer Nutzen sein. Ich habe bisher nie daran gedacht, daß Sie mir "vorlesen und schreiben" sollen; aber ich wünschte sehr, Ihr Lehrer sein zu dürfen. Zuletzt, um die ganze Wahrheit zu sagen: ich suche jetzt nach Menschen, welche meine Erben sein könnten; ich trage Einiges mit mir herum, was durchaus nicht in meinen Büchern zu lesen ist und suche mir dafür das schönste und fruchtbarste Ackerland. Sehen Sie meine Selbstsucht! Wenn ich hier und da an die Gefahren Ihres Lebens, Ihrer Gesundheit denke: da füllt sich meine Seele jedesmal ganz von Zärtlichkeit; ich wüßte nichts, was mich so schnell Ihnen nahe brächte. Und dann bin ich immer glücklich, zu wissen, daß Sie Rée und nicht nur mich zum Freunde haben. Sie Beide mir zusammen spazierengehend und redend zu denken ist mir ein wahrer Genuß. Der Grunewald3 war viel zu sonnig für meine Augen. Meine Adresse ist: Tautenburg bei Dornburg, Thüringen. Treulich Ihr Gestern war Liszt4 hier. 1. Cf. Herman Krüger-Westend, Goethe in Dornburg. Jena: Costenoble, 1908.
Tautenburg, 27./28. Juni 1882 Liebe Freundin wie freue ich mich, vom guten Schiffe zu hören, daß es in den guten Hafen eingelaufen ist!2 Augenblicklich werden wir Alle Drei zu den zufriedensten Menschen gehören, die es giebt. Dieses Tautenburg entzückt mich und paßt zu mir in allem und jedem; und nochmals fühle ich mich in diesem wunderbaren Jahre durch ein unerwartetes Geschenk des Schicksals überrascht. Für meine Augen und meine einsamen Neigungen ist hier das Paradies; ich verstehe den Wink, daß die Zeit meiner Südländerei vorüber ist; die Reise von Messina bis Grunewald war ein dicker Strich unter diese Vergangenheit. Inzwischen habe ich alles, was Sie betrifft, meiner Schwester mitgetheilt. Ich fand sie, in der langen Trennungszeit, so gut fortgeschritten und ausgewachsener als früher, alles Vertrauens würdig und sehr liebevoll gegen mich. Ihre eigenen Pläne für den Winter sind inzwischen festgestellt (sie geht nach Genua, in meine dortige Wohnung, später nach Rom); meine Besorgniß, dieselben möchten sich mit meinen Wiener Plänen kreuzen, ist damit gehoben. Übrigens hat sie jetzt ihre eignen Neigungen zur Abgezogenheit und "Unbeeinflußtheit" und so glaube ich in summa, daß Sie es mit ihr und uns versuchen dürfen. Aber meine ganze Stillschweigerei war nicht nöthig, werden Sie jetzt meinen? Ich analysirte sie heute und fand als letzten Grund: Mißtrauen gegen mich selber. Ich bin nämlich durch das Ereigniß, einen "neuen Menschen" hinzuerworben zu haben, förmlich über den Haufen geworfen worden in Folge einer allzustrengen Einsamkeit und Verzichtleistung auf alle Liebe und Freundschaft. Ich mußte schweigen, weil mich von Ihnen zu reden jedesmal umgeworfen hätte (es passirte mir bei den guten Overbecks) Nun, das erzähle ich Ihnen zum Lachen. Es geht bei mir immer sehr menschlich-allzumenschlich zu und meine Thorheit wächst mit meiner Weisheit. Dies erinnert mich an meine "fröhliche Wissenschaft." Donnerstag kommt der erste Correcturbogen, und Sonnabend soll der letzte Theil des M[anu]s[cripts] in die Druckerei abgehen.3 Ich bin jetzt immer von sehr feinen Sprachdingen occupirt; die letzte Entscheidung über den Text zwingt zum scrupulösesten "Hören" von Wort und Satz. Die Bildhauer nennen diese letzte Arbeit "ad unguem."4 Mit diesem Buche kommt jene Reihe von Schriften zum Abschluß, die mit "Menschl[ichem,] Allzum[enschlichem]" beginnt: in allen zusammen soll "ein neues Bild und Ideal des Freigeistes" aufgerichtet sein.5 Daß dies nun freilich nicht "der freie Mensch der That" ist, werden Sie längst errathen haben. Vielmehr doch hier will ich schließen und lachen. Von Herzen Ihnen und Freund Rée zugethan F.N. 1. Cf. Herman Krüger-Westend, Goethe in Dornburg. Jena: Costenoble, 1908, frontispiece.
Tautenburg bei Dornburg Thüringen, Meine liebe Freundin, Nun ist der Himmel über mir hell! Gestern Mittags gieng es bei mir zu wie als ob Beburtstag wäre: Sie sandten Ihre Zusage,1 das schönste Geschenk, das mir jetzt Jemand hätte machen können meine Schwester sandte Kirschen, Teubner2 sandte die drei ersten Druckbogen der "fröhlichen Wissenschaft"; und zu alledem war gerade der allerletzte Theil des Manuscriptes3 fertig geworden und damit das Werk von 6 Jahren (1876-1882), meine ganze "Freigeisterei"! Oh welche Jahre! Welche Qualen aller Art, welche Vereinsamungen und Lebens-Überdrüsse! Und gegen Alles das, gleichsam gegen Tod und Leben, habe ich mir diese meine Arznei gebraut, diese meine Gedanken mit ihrem kleinen kleinen Streifen unbewölkten Himmels über sich: oh liebe Freundin, so oft ich an das Alles denke, bin ich erschüttert und gerührt und weiß nicht, wie das doch hat gelingen können: Selbst-Mitleid und das Gefühl des Sieges erfüllen mich ganz. Denn es ist ein Sieg, und ein vollständiger denn sogar meine Gesundheit des Leibes ist wieder, ich weiß nicht woher, zum Vorschein gekommen, und Jedermann sagt mir, ich sähe jünger aus als je. Der Himmel behüte mich vor Thorheiten! Aber von jetzt ab, wo Sie mich berathen werden, werde ich gut berathen sein und brauche mich nicht zu fürchten. Was den Winter betrifft, so habe ich ernstlich und ausschließlich an Wien4 gedacht: die Winterpläne meiner Schwester sind ganz unabhängig von den meinigen, er giebt dabei keine Nebengedanken. Der Süden Europa's ist mir jetzt aus dem Sinn gerückt. Ich will nicht mehr einsam sein und wieder lernen, Mensch zu werden. Ah, an diesem Pensum habe ich fast Alles noch zu lernen! Nehmen Sie meinen Dank, liebe Freundin! Es wird Alles gut, wie Sie es gesagt haben. Unserem Rée das Herzlichste! Ganz Ihr 1. Salomé agreed to come to Tautenburg after Bayreuth.
Tautenburg, 11. Juli 1882: Meine liebe Mutter, Sonntag war ich krank. Es giebt viel zu thun. Große Verzögerung der Drucksache. 1 Neulich, als ich von Dir gieng, traf ich auf dem Bahnhofe den Oberpfarrer mit Suschen; großes Gelächter.2 Heute eine Bitte und ein wenig dringlich! Der Verschönerungs-Verein hat mir hier zwei neue Bänke in den Theilen des Waldes aufstellen lassen, wo ich gerne allein spazieren gehe. Ich habe versprochen, zwei Täfelchen daran anbringen zu lassen. Willst Du die Güte haben und dies besorgen? Und sofort? Sprich mit einem Sachverständigen, welche Art von Täfelchen und Aufschriften sich am besten hält.
Es muß etwas Feines und Hübsches sein, das mir Ehre macht. Mit herzlichem Gruß Dein Sohn Fritz. 1. Printing of Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science). German Text.
Tautenburg, 13. Juli 1882: Mein lieber Freund, keine Worte höre ich lieber aus Ihrem Munde als "Hoffnung" und "Erholung" und nun mache ich Ihnen diese größliche Correktur-Noth gerade in diesem Zustande, wo es paradiesisch um Sie zugehen sollte!1 Kennen Sie meine Harmlosigkeiten aus Messina?2 Oder schwiegen Sie darüber, aus Artigkeit gegen ihren Urheber? Nein, trotz dem, was der Vogel Specht in dem letzten Gedichtchen sagt es steht mit meiner Dichterei nicht zum Besten.3 Aber was liegt daran! Man soll sich seiner Thorheiten nicht schämen, sonst hat unsre Weisheit wenig Werth. Jenes Gedicht "an den Schmerz" war nicht von mir.4 Es gehört zu den Dingen, die eine vollständige Gewalt über mich haben, ich habe es noch nie ohne Thränen lesen können; es klingt wie eine Stimme, auf welche ich seit meiner Kindheit gewartet und gewartet habe. Dieses Gedicht ist von meiner Freundin Lou, von welcher Sie noch nicht gehört haben werden. Lou ist die Tochter eines russischen Generals,5 und zwanzig Jahre alt; sie ist scharfsinnig wie ein Adler und muthig wie ein Löwe und zuletzt doch ein sehr mädchenhaftes Kind, welches vielleicht nicht lange leben wird. Ich verdanke Sie Fräulein von Meysenbug und Rée. Jetzt ist sie bei Rées zu Besuch,6 nach Bayreuth kommt sie zu mir nach Tautenburg,7 und im Herbst siedeln wir zusammen nach Wien über.8 Wir werden in Einem Hause wohnen und zusammen arbeiten; sie ist auf die erstaunlichste Weise gerade für meine Denk- und Gedankenweise vorbereitet. Lieber Freund, Sie erweisen uns Beiden sicherlich die Ehre, den Begriff einer Liebschaft von unserem Verhältniß fernzuhalten. Wir sind Freunde und ich werde dieses Mädchen und dieses Vertrauen zu mir heilig halten. Übrigens hat sie einen unglaublich sicheren und lauteren Charakter und weiß selbst sehr genau, was sie will ohne die Welt zu fragen und sich um die Welt zu bekümmern. Dies für Sie und für Niemanden sonst. Aber wenn Sie nach Wien kämen, wäre es schön! Zuletzt: was sind denn bisher meine werthvollsten Menschen-Funde? Sie dann Rée dann Lou. In treuer Gesinnung 1. Köselitz was proofreading Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science). Malwida von Meysenbug. From b/w photo, 1880. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Tautenburg, vermutlich 13. Juli 1882: Mögen Sie jetzt in der Nähe von Olga1 und ihren Kindern eine ruhig-tröstliche Sonnenzeit haben; möge namentlich das Zusammensein mit dieser geliebten Seele alle jene Befürchtungen zerstreuen oder mildern, welche Sie mir in Rom ausdrückten; dies und gar nichts Anderes wüßte ich Ihnen zu wünschen — alles Andre haben Sie ja! Ich sitze hier inmitten tiefer Wälder2 und habe eben die Correctur meines letzten Buches zu besorgen; es führt den Titel "die fröhl[iche]. W[issenschaft"] und bildet den Schluß jener Gedanken-Kette, welche ich damals in Sorrent3 zu knüpfen anfieng ach, ich war immer ein solcher Bücher-Verächter und bin nun selber "der Sünde bloß" oder wie sagt Gretchen?4 — mit 10 Büchern!5 Die nächsten Jahre werden keine Bücher hervorbringen — aber ich will wieder, wie ein Student, studiren. (Zunächst in Wien.) Mein Leben gehört jetzt einem höheren Ziele und ich thue nichts mehr, was dem nicht frommt. Errathen kann es Keiner und verrathen darf [ich] es jetzt selber noch nicht! Aber daß es eine heroische Denkweise verlangt (und durchaus keine religiös-resignirte), will ich Ihnen, und Ihnen gerade am liebsten eingestehen. Wenn Sie M[enschen] mit dieser Denkweise entdecken, so geben Sie mir einen Wink: wie Sie es mit der jungen Russin6 gethan haben. Diese[s] Mädchen ist mit mir jetzt durch eine feste Freundschaft verbunden (so fest man dergl. eben auf Erden einrichten kann); ich habe seit langem keine bessere Errungenschaft gemacht. Wirklich ich bin Ihnen und Rée außerordentlich dankbar gestimmt, mir hierzu behülflich gewesen zu sein. Dieses Jahr, welches in mehreren Hauptstücken meines Lebens eine neue Crisis bedeutet (Epoche ist das richtige Wort, ein Mittelzustand zwischen 2 Crisen, eine hinter mir7 eine vor mir) ist mir durch den Glanz und die Anmuth dieser jungen, wahr[haft] heroischen Seele sehr verschönt worden. Ich wünsche in ihr eine Schülerin zu bekommen, und wenn es mit meinem Leben auf die Länge nicht halten sollte, eine Erbin und Fortdenkerin. Beiläufig: Rée hätte sie heirathen sollen (um die mancherlei Schwierigkeiten ihrer Lage zu beseitigen); und ich meinerseits habe es wahrlich nicht an Zuspruch fehlen lassen. Aber es scheint mir jetzt eine verlorne Bemühung. Er ist in Einem letzten Punkte unerschütterlicher Pessimist, und wie er sich hierin treu geblieben ist, gegen alle Einwände seines Herzens und meiner Vernunft, hat mir zuletzt doch großen Respekt eingeflößt. Der Gedanke der Fortpflanzung der Menschheit ist ihm unerträglich: er bringt es nicht über sein Gefühl, die Zahl der Unglücklichen zu vermehren. Für meinen Geschmack hat er in diesem Punkte zu viel Mitleid und zu wenig Hoffnungen. Alles privatissime! In Bayreuth8 werden manche meiner Freunde9 sich bei Ihnen einstellen und Ihnen wohl auch ihre Hintergedanken über mich einst verrathen; sagen Sie diesen Freunden allesamt, daß man es mit mir abwarten müsse und daß kein Grund zum Verzweifeln da sei. Denken Sie, daß ich sehr zufrieden bin, die Parsifal-Musik nicht hören zu müssen. Abgesehen von 2 Stücken (denselben welche auch Sie mir hervorheben) mag ich diesen "Stil" (dieses mühselige und beladene Stückchen-Werk) nicht: das ist Hegelei10 in Musik: und überdies ebenso sehr ein Beweis großer Armut an Erfindung als ein Beweis ungeheurer Prätension und Cagliostricität11 ihres Urhebers. Pardon! In diesem Punkte rigoros. — In Moral bin ich unerbittlich. 1. Malwida von Meysenbug's foster-daughter Olga Herzen (1851-1953) was married to the French historian Gabriel Monod (1844-1912).
Tautenburg bei Dornburg (Thüringen) Mein lieber alter Freund, es hilft nichts, ich muß Dich heute auf ein neues Buch1 von mir vorbereiten; höchstens noch 4 Wochen hast Du davor Ruhe! Ein mildernder Umstand ist, daß es das letzte für eine lange Reihe von Jahren sein soll: denn im Herbst gehe ich an die Universität Wien2 und fang neue Studentenjahre an, nachdem die alten mir, durch eine zu einseitige Beschäftigung mit Philologie, etwas mißrathen sind. Jetzt giebt es einen eigenen Studienplan und hinter ihm ein eigenes geheimes Ziel, dem mein weiteres Leben geweiht ist es ist mir zu schwer zu leben, wenn ich es nicht im größten Stile thue, im Vertrauen gesagt, mein alter Kamerad! Ohne ein Ziel, welches ich nicht für unaussprechlich wichtig hielte, würde ich mich nicht oben im Lichte und über den schwarzen Fluthen gehalten haben! Dies ist eigentlich meine einzige Entschuldigung für diese Art von Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Recept und meine selbstgebraute Arznei gegen den Lebens-Überdruß. Welche Jahre! Welche langwierigen Schmerzen! Welche innerlichen Störungen, Umwälzungen, Vereinsamungen! Wer hat denn so viel ausgestanden als ich? Leopardi3 gewiß nicht! Und wenn ich nun heute über dem Allen stehe, mit dem Frohmuthe eines Siegers und beladen mit schweren neuen Plänen und, wie ich mich kenne, mit der Aussicht auf neue schwerere und noch innerlichere Leiden und Tragödien und mit dem Muthe dazu! so soll mir niemand darüber böse sein dürfen, wenn ich gut von meiner Arznei denke. Mihi ipsi scripsi4 dabei bleibt es; und so soll Jeder nach seiner Art für sich sein Bestes thun das ist meine Moral: die einzige, die mir noch übrig geblieben ist. Wenn selbst meine leibliche Gesundheit zum Vorschein kommt, wem verdanke ich denn das? Ich war in allen Punkten mein eigener Arzt; und als einer, der nichts Getrenntes hat, habe ich Seele Geist und Leib auf Ein Mal und mit denselben Mitteln behandeln müssen. Zugegeben, daß Andere an meinen Mitteln zu Grunde gehen könnten: dafür thue ich auch nichts eifriger als vor mir zu warnen. Namentlich dieses letzte Buch, welches den Titel führt "die fröhliche Wissenschaft" wird Viele vor mir zurückschrecken, auch Dich vielleicht, lieber alter Freund Rohde! Es ist ein Bild von mir darin; und ich weiß bestimmt, daß es nicht das Bild ist, welches Du von mir im Herzen trägst. Also: habe Geduld, und sei es auch nur darum, weil Du einsehen mußt, daß es bei mir heißt "aut mori aut ita vivere."5 Von ganzem Herzen 1. Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science).
Tautenburg bei Dornburg (Thüringen), Nun, meine liebe Freundin, bis jetzt steht Alles gut, und Sonnabend über 8 Tage sehen wir uns wieder.1 Vielleicht ist mein letzter Brief2 an Sie nicht in Ihre Hände gelangt? Ich schrieb ihn Sonntag vor 14 Tagen. Es sollte mir Leid thun; ich schilderte Ihnen darin einen sehr glücklichen Moment: mehrere gute Dinge kamen auf Einmal zu mir, und das "gutste" dieser Dinge war Ihr Zusagebrief! 3 Indessen: wenn man gutes Zutrauen zu einander hat, so dürfen sogar die Briefe verloren gehen. Ich habe viel an Sie gedacht und im Geiste so mancherlei des Erhebenden, Rührenden und Heiteren mit Ihnen getheilt, daß ich wie mit meiner verehrten Freundin verbunden gelebt habe. Wenn Sie wüßten, wie neu und fremdartig mir alten Einsiedler das vorkommt! — Wie oft habe ich über mich lachen müssen! Was Bayreuth betrifft, so bin ich zufrieden damit, nicht dort sein zu müssen; und doch, wenn ich ganz geisterhaft in Ihrer Nähe sein könnte, dies und jenes in Ihr Ohr raunend, so sollte mir sogar die Musik zum Parsifal erträglich sein (sonst ist sie mir nicht erträglich.) Ich möchte, daß Sie vorher noch meine kleine Schrift "Richard Wagner in Bayreuth" lesen; Freund Rée besitzt sie wohl. Ich habe so viel in Bezug auf diesen Mann [Richard Wagner] und seine Kunst erlebt es war eine ganze lange Passion: ich finde kein anderes Wort dafür. Die hier geforderte Entsagung, das hier endlich nöthig werdende Mich-selber-Wiederfinden gehört zu dem Härtesten und Melancholischsten in meinem Schicksale. Die letzten geschriebenen Worte W[agner]'s an mich stehen in einem schönen Widmungs-Exemplare des Parsifal "Meinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Ober-Kirchenrath."4 Genau zu gleicher Zeit traf, von mir gesendet, bei ihm mein Buch "Menschliches Allzumenschliches" ein und damit war Alles klar, aber auch Alles zu Ende. Wie oft habe ich, in allen möglichen Dingen, gerade dies erlebt: "Alles klar, aber auch Alles zu Ende"! Und wie glücklich bin ich, meine geliebte Freundin Lou, jetzt in Bezug auf uns Beide denken zu dürfen "Alles im Anfang und doch Alles klar!" Vertrauen Sie mir! Vertrauen wir uns! Mit den herzlichsten Wünschen für Ihre Reise[.] Ihr Freund 1. After attending the premiere of Wagner's Parsifal in Bayreuth, Salomé arrived in Tautenburg on August 7, 1882.
Tautenburg, 25. Juli 1882: Mein lieber Freund, so soll ich denn auch meine Sommer-Musik haben! — auf diesen Sommer strömen die guten Dinge herab, wie als ob ich einen Sieg zu feiern hätte.1 Und in der That: erwägen Sie, wie ich seit 1876 in mancherlei Betracht, des Leibes und der Seele, ein Schlachtfeld mehr als ein Mensch gewesen bin! —2 Lou wird der Klavierpartie nicht gewachsen sein: aber da stellt sich, wie vom Himmel geschickt, im rechten Augenblick Hr. Aegidi [sic] ein, ein ernster vertrauenswürdiger Mensch und Musiker, der gerade hier in Tautenburg weilt (ein Schüler Kiel's) — durch einen Zufall komme ich ein halbes Stündchen mit ihm in Berührung, und wieder ein Zufall war es, daß er, von dieser Begegnung nach Hause kommend, den Brief eines Freundes vorfindet, der so beginnt: "Ich habe soeben einen famosen Philosophen entdeckt, Nietzsche." —3 Sie bleiben natürlich der Gegenstand der äußersten Discretion; eingeführt als italiänischer Freund, dessen Name ein Geheimniß ist. — Ihre melancholischen Worte "immer daran vorbei"4 sind mir sehr im Herzen hängen geblieben! Es gab Zeiten, wo ich ganz dasselbe von mir dachte; aber es giebt zwischen Ihnen und mir außer anderen Unterschieden auch den, daß ich mich mehr zu etwas "schubsen" lasse (wie man in Thüringen sagt.) — Sonntags war ich in Naumburg, um meine Schwester ein wenig noch auf den Parsifal vorzubereiten. Da gieng es mir seltsam genug! Schließlich sagte ich: "meine liebe Schwester, ganz diese Art Musik habe ich als Knabe gemacht, damals [als] ich mein Oratorium5 machte" — und nun habe ich die alten Papiere hervorgeholt und, nach langer Zwischenzeit, wieder abgespielt: die Identität von Stimmung und Ausdruck war märchenhaft! Ja, einige Stellen z.B. "der Tod der Könige" schienen uns Beiden ergreifender als alles, was wir uns aus dem P[arsifal] vorgeführt hatten, aber doch ganz parsifalesk! Ich gestehe: mit einem wahren Schrecken bin ich mir wieder bewußt geworden, wie nahe ich eigentlich mit W[agner] verwandt bin. — Später will ich Ihnen dieses curiose Faktum nicht vorenthalten, und Sie sollen die letzte Instanz darüber sein — die Sache ist so seltsam, daß ich mir nicht recht traue. — Sie verstehen mich wohl, lieber Freund, daß ich damit den Parsifal nicht gelobt haben will!! — Welche plötzliche décadence! Und welcher Cagliostricismus! —6 Eine Bemerkung Ihres Briefes giebt mir Anlaß, festzustellen, daß alles, was Sie jetzt von meinen Reimereien kennen, vor meiner Bekanntschaft mit L[ou] entstanden ist (wie auch die "fr[öhliche] Wissenschaft".) Aber vielleicht haben Sie auch ein Gefühl davon, daß ich, sowohl als "Denker" wie als "Dichter," eine gewisse Vorahnung von L[ou] gehabt haben muß? Oder sollte "der Zufall"? Ja! Der liebe Zufall! Die comédie soll von uns zusammen gelesen werden; meine Augen sind jetzt allzusehr schon occupirt.7 L[ou] kommt am Sonnabend. Senden Sie Ihr Werk schnellstens ab — ich beneide mich selber um diese Auszeichnung, die Sie mir erweisen! Ganz von Herzen Ihr dankbarer Freund Nietzsche. 1. Köselitz had promised to send him the piano reduction for the first act of his opera "Il matrimonio segreto" (The Secret Wedding). In 1884, Nietzsche suggested that Köselitz change the title to "Der Löwe von Venedig" (The Lion of Venice). For more information on Köselitz, see Frederick R. Love's gem, Nietzsche's Saint Peter. Genesis and Cultivation of an Illusion. Berlin; New York: de Gruyter, 1981. [Series: Band 5. Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung.]
Naumburg, vermutlich 2./3. August 1882 Nun, mein hochverehrter Freund oder wie soll ich Sie nennen? empfangen Sie mit Wohlwollen das, was ich Ihnen heute sende, mit einem vorgefaßten Wohlwollen: denn, wenn Sie das nicht thun, so werden Sie bei diesem Buche "die fröhliche Wissenschaft" nur zu spotten haben (es ist gar zu persönlich, und alles Persönliche ist eigentlich komisch). Im Übrigen habe ich den Punkt erreicht, wo ich lebe wie ich denke, und vielleicht lernte ich auch inzwischen wirklich ausdrücken, was ich denke. In Hinsicht hierauf höre ich Ihr Urtheil als einen Richterspruch: ich wünschte namentlich, daß Sie den Sanctus Januarius (Buch IV) im Zusammenhang lesen möchten, um zu wissen, ob er als Ganzes sich mittheilt. Und meine Verse? - - - In herzlichem Vertrauen NB. Und was ist doch die Adresse jenes Herrn Curti,1 von dem Sie mir bei unserm letzten, sehr schönen Zusammensein sprachen?2 1. Theodor Curti (1848-1914): Swiss-German journalist and politician. See his entry in Deutsche Biographie. Apparently, Burckhardt had told Nietzsche something Curti had written about him and his political views. Curti was the founder of the Züricher Post, an organ of the Democratic party. The article may have been written anonymously; in any event it has not been discovered. Nietzsche himself gives the most concrete evidence of his own apolitical character in his July/August 1882 letter to Curti: "[....] es mich ganz und gar überrascht, daß meine politisch-sozialen Maienkäfer die ernsthafte Theilnahme eines politisch-sozialen Denkers erregt haben. Es kann kein Mensch in Bezug auf diese Dinge mehr "im Winkel leben" als ich: ich spreche nie von dergleichen, ich weiß die bekanntesten Ereignisse nicht und lese nicht einmal die Zeitungen — ja ich habe mir aus dem Allem ein Privilegium gemacht! — Und so wäre ich denn gerade in diesem Punkte gar nicht böse, wenn ich mit meinen Ansichten Lachen und Heiterkeit erregt hätte: aber Ernst? Und bei Ihnen? Könnte ich das nicht zu lesen bekommen?" ([....] it completely surprised me that my political-social May beetles have attracted the sympathy of a serious political-social thinker. In regard to these things, no man can "live" more "in a corner" than I do: I never speak about them, I don't know the most well-known events and don't even read newspapers — indeed, I have made a privilege out of all this! — And so, precisely on these matters, I would not be angry at all if I had excited laughter and amusement with my views: but seriousness? And by you? Could I not acquire that in order to read it?)
Tautenburg, 4. August 1882: Lieber Freund. Eines Tages flog ein Vogel an mir vorüber; und ich, abergläubisch wie alle einsamen Menschen, die an einer Wende ihrer Straße stehen, glaubte einen Adler gesehn zu haben.1 Nun bemüht sich alle Welt2 darum, mir zu beweisen, daß ich mich irre, und es giebt einen artigen europäischen Klatsch darüber. Wer ist nun der Glücklichere ich, "der Getäuschte," wie man sagt, der einen ganzen Sommer ob dieses Vogelzeichens in einer höheren Welt der Hoffnung lebte oder jene, welche "nicht zu täuschen" sind? Und so weiter. Amen. Gestern, alter Freund, überfiel mich der Dämon der Musik3 "stellen Sie sich mein Entsetzen für!" mit Lessing zu reden.4 Mein gegenwärtiger Zustand "in media vita"5 will auch noch in Tönen sich aussprechen: ich werde nicht loskommen. Und es ist recht so: bevor ich meine neue Straße ziehe, muß ich noch ein wenig blasen und geigen. Wien6 ist vom Horizonte fast verschwunden. Vielleicht München dabei erwäge ich auch meine Beziehungen zu Levi.7 Ich wollte doch, Sie wären in Bayreuth gewesen: man rühmt W[agner]s Instrumentation des Parsifal als das Erstaunlichste in dieser Kunst. Wann giebt es für mich Ihre Musik!8 Jetzt bin ich "ein wenig in der Wüste" und schlafe manche Nacht nicht. Aber nichts von Kleinmuth! Und jener erwähnte Dämon war, wie Alles, was mir jetzt über den Weg läuft (oder zu laufen scheint) heroisch-idyllisch.9 Adieu, lieber Freund! 1. An allusion to the first time he met Lou Salomé in Rome.
Tautenburg, Juli/August 1882: Hochgeehrter Herr, man hat mir gesagt,2 daß Sie in einem auszeichnenden Grade mehreren meiner Ansichten Ihre Theilnahme zugewendet hätten; und obwohl ich grundsätzlich mich über alles das, was man "Wirkung" zu nennen pflegt, in tiefster Unwissenheit erhalte, so möchte ich doch gerne in diesem Falle eine Ausnahme machen — einmal in Hinsicht auf das, was ich von dem Charakter, der Unabhängigkeit und dem Geiste dessen hörte, an den zu schreiben ich die Ehre habe ( — Jacob Burckhardt war es, der mir von Ihnen sprach), sodann, weil es mich ganz und gar überrascht, daß meine politisch-sozialen Maienkäfer die ernsthafte Theilnahme eines politisch-sozialen Denkers erregt haben. Es kann kein Mensch in Bezug auf diese Dinge mehr "im Winkel leben" als ich: ich spreche nie von dergleichen, ich weiß die bekanntesten Ereignisse nicht und lese nicht einmal die Zeitungen — ja ich habe mir aus dem Allem ein Privilegium gemacht! — Und so wäre ich denn gerade in diesem Punkte gar nicht böse, wenn ich mit meinen Ansichten Lachen und Heiterkeit erregt hätte: aber Ernst? Und bei Ihnen? Könnte ich das nicht zu lesen bekommen?3 Zufällig höre ich, daß der jüngst verstorbene Bruno Bauer4 in seinen alten Tagen sich auch dies und jenes aus meinen Gedanken5 über das bezeichnete Gebiet herausgeholt habe. Ein paar ähnliche Mittheilungen kamen noch hinzu: sodaß ich neugierig über mich selber geworden bin. Verzeihung, verehrter Herr! Sie sind jetzt das Opfer dieser Neugierde! Mit ergebenstem Gruß Adresse: "Tautenburg bei Dornburg" 1. Theodor Curti (1848-1914): Swiss-German journalist and politician. See his entry in Deutsche Biographie.
Tautenburg, 8./24. August 1882: Zur Lehre vom Stil 1 1. Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben. 2. Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mittheilen willst. (Gesetz der doppelten Relation.) 3. Man muß erst genau wissen: "so und so würde ich dies sprechen und vortragen" bevor man schreiben darf. Schreiben muß eine Nachahmung sein. 4. Weil dem Schreibenden viele Mittel des Vortragenden fehlen, so muß er im Allgemeinen eine sehr ausdrucksvolle Art von Vortrag zum Vorbild haben: das Abbild davon, das Geschriebene, wird schon nothwendig viel blässer ausfallen. 5. Der Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente als Gebärden empfinden lernen. 6. Vorsicht vor der Periode! Zur Periode haben nur die Menschen ein Recht, die einen langen Athem auch im Sprechen haben. Bei den Meisten ist die Periode eine Affektation. 7. Der Stil soll beweisen, daß man an seine Gedanken glaubt, und sie nicht nur denkt, sondern empfindet. 8. Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen. 9. Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, dicht an die Poesie heranzutreten, aber niemals zu ihr überzutreten. 10. Es is nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen. F.N. 1. Cf. Nachlass, Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé. Juli-August 1882 1[45]; [109].
Tautenburg, 25. August 1882: Zu Bett. Heftigster Anfall. Ich verachte das Leben FN. Tautenburg, 26. August 1882: Meine liebe Lou, Pardon für gestern! Ein heftiger Anfall meines dummen Kopfleidens heute vorbei. Und heute sehe ich Einiges mit neuen Augen. Um 12 Uhr bringe ich Sie nach Dornburg: aber vorher müssen wir noch ein halbes Stündchen sprechen (bald, ich meine, sobald Sie aufgestanden sind.) Ja? Ja! F.N.
Naumburg, Ende August 1882: Meine liebe Lou, einen Tag später als Sie gieng ich von Tautenburg weg,1 im Herzen sehr stolz, sehr muthig wodurch eigentlich? Mit meiner Schwester habe ich nur wenig noch gesprochen, doch genug, um das neue auftauchende Gespenst in das Nichts zurück zu schicken, aus dem es geboren war. In Naumburg kam wieder der Dämon der Musik über mich ich habe Ihr Gebet an das Leben componirt;2 und meine Pariser Freundin Ott, die im Besitz einer wundervoll starken und ausdrucksreichen Stimme ist, soll es Ihnen und mir einmal vorsingen. Zuletzt, meine liebe Lou, die alte tiefe herzliche Bitte: werden Sie, die Sie sind!3 Erst hat man Noth, sich von seinen Ketten zu emancipiren, und schließlich muß man sich noch von dieser Emancipation emancipiren! Es hat Jeder von uns, wenn auch in sehr verschiedener Weise an der Ketten-Krankheit zu laboriren, auch nachdem er die Kette zerbrochen hat.4 Von Herzem Ihrem 1. Salomé left Tautenburg on August 26, 1882. Elisabeth Nietzsche. By: Louis Held, Weimar. From b/w photo, ca. 1882. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Leipzig, vermutlich 5. / 6. September 1882: In zwei, drei Tagen, meine liebe Lisbeth, geht es fort;1 an Eisers,2 die ich in Frankfurt aufsuchen will, habe ich geschrieben, und sobald ich von Dir Herrn [August] Sulger's3 Adresse weiß, wird alles in Ordnung sein. Gestern erhielt ich zwei Postkarten von Dir — aus Messina über Rom und Basel — Ehre der Post! — Ich habe auch meine für Naumburg festgesetzte Arbeit (eine Composition)4 schönstens erledigt und auch dabei mir genug gethan. — Wenn ich Dir nur einen Begriff von meiner fröhlichen Zuversicht geben könnte, die mich diesen Sommer beseelt hat! Es ist mir Alles gelungen und Manches wider Erwarten — gerade da als ich es mißlungen glaubte. Auch Lou ist sehr zufriedengestellt (sie steckt jetzt ganz in Arbeit und Büchern.) Was mir sehr wesentlich ist: sie hat Rée zu einer meiner Hauptansichten bekehrt (wie er selbst schreibt), die das Fundament seines Buches5 völlig verändert. Rée schrieb gestern "Lou ist entschieden in Tautenburg um einige Zoll gewachsen." Ich höre mit Betrübniß, daß Du noch immer an der Nachwirkung jener Scenen6 zu leiden hast, die ich Dir von Herzen gern erspart hätte. Halte aber nur diesen Gesichtspunkt fest: durch die Aufregung dieser Scenen kam an's Licht, was sonst vielleicht lange im Dunklen geblieben wäre: daß L[ou] eine geringere Meinung von mir und einiges Mißtrauen gegen mich hatte; und wenn ich genauer die Umstände unsres Bekanntwerdens erwäge, so hatte sie vielleicht dazu ein gutes Recht (eingerechnet die Wirkung einiger unvorsichtigen Äußerungen von Freund Freund R[ée])[.] Nun denkt sie aber jetzt ganz gewiß besser von mir — und das ist doch die Hauptsache, nicht wahr, meine liebe Schwester? Im Übrigen, wenn ich an die Zukunft denke, so wäre es mir hart, annehmen zu müssen, daß Du mit mir in Bezug auf L[ou] nicht gleich empfändest. Wir haben eine solche Gleichartigkeit der Gaben und Absichten, daß unsre Namen irgend wann einmal zusammen genannt werden müssen; und jede Verunglimpfung, die sie trifft, wird mich zuerst treffen. Doch vielleicht ist dies wieder schon zu viel über diesen Punkt. Ich danke Dir nochmals von ganzem Herzen für alles, was Du mir Gutes in diesem Sommer angethan hast — und ich erkenne Dein schwesterliches Wohlwollen wahrhaftig recht sehr in dem auch, wo Du mit mir nicht gleichempfinden konntest. Ja, wer darf sich auch mit mir wider-moralischen Philosophen ohne Gefahr einlassen! Zweierlei verbietet mir meine Denkweise unbedingt: 1) Reue 2) moralische Entrüstung. — Sei wieder gut, liebes Lama!7 Dein Bruder. 1. On September 8, 1882, Nietzsche left Naumburg for Leipzig to meet up with Salomé and Rée.
Leipzig, 9. September 1882: Mein lieber Freund, so sitzte ich denn einmal wieder in Leipzig, der alten Bücher-Stadt, um einige Bücher kennen zu lernen, bevor es wieder in die Ferne geht.1 Mit dem deutschen Winter-Feldzug wird es wohl nichts werden:2 ich bedarf in jedem Sinne des hellen Wetters. Ja Charakter hat er, dieser Wolken-Himmel Deutschlands, ungefähr, wie mich dünkt, wie die Parsival-Musik Charakter hat aber einen schlechten.3 Vor mir liegt der erste Akt des matrimonio segreto — goldene, glitzernde, gute, sehr gute Musik!4 Die Tautenburger Wochen5 haben mir wohlgethan, namentlich die letzten; und im Ganzen Großen habe ich ein Recht, von Genesung zu reden, wenn ich auch häufig genug an das labile Gleichgewicht meiner Gesundheit erinnert werde. Aber reinen Himmel über mir! Sonst verliere ich allzu viel Zeit und Kraft! Wenn Du den Sanctus Janarius6 gelesen hast, so wirst Du gemerkt haben, daß ich einen Wendekreis überschritten habe. Alles liegt neu vor mir, und es wird nicht lange dauern, daß ich auch das furchtbare Angesicht meiner ferneren Lebens-Aufgabe zu sehen bekomme. Dieser lange reiche Sommer war für mich eine Probe-Zeit; ich nahm äußerst muthig und stolz von ihm Abschied, denn ich empfand für diese Zeitspanne wenigstens die sonst so häßliche Kluft zwischen Wollen und Vollbringen als überbrückt. Es gab harte Ansprüche an meine Menschlichkeit, und ich bin mir im Schwersten genug geworden. Diesen ganzen Zwischenzustand zwischen sonst und einstmals nenne ich "in media vita";7 und der Dämon der Musik, der mich nach langen Jahren wieder einmal heimsuchte, hat mich gezwungen, auch in Tönen davon zu reden.8 Das Nützlichste aber, was ich diesen Sommer gethan habe, waren meine Gespräche mit Lou. Unsre Intelligenzen und Geschmäcker sind im Tiefsten verwandt und es giebt andererseits der Gegensätze so viele, daß wir für einander die lehrreichsten Beobachtungs-Objekte und -Subjekte sind. Ich habe noch Niemanden kennen gelernt, der seinen Erfahrungen eine solche Menge objektiver Einsichten zu entnehmen wüßte, Niemanden, der aus allem Gelernten so viel zu ziehn verstünde. Gestern schrieb mir Rée "Lou ist entschieden um einige Zoll gewachsen in Tautenburg" nun, ich bin es vielleicht auch. Ich möchte wissen, ob eine solche philosophische Offenheit, wie sie zwischen uns besteht, schon einmal bestanden hat. L[ou] ist jetzt ganz in Büchern und Arbeiten versteckt; ihr größter Dienst, den sie mir bisher erwiesen, ist der, Reé zu einer Reform seines Buches9 auf Grund eines meiner Hauptgedanken bestimmt zu haben. Ihre Gesundheit reicht nur für 6-7 Jahre aus, wie ich fürchte. Tautenburg hat Lou ein Ziel gegeben. Sie hinterließ mir ein ergreifendes Gedicht "Gebet an das Leben."10 Leider hat sich meine Schwester zu einer Todfeindin L[ou]'s entwickelt, sie war voller moralischer Entrüstung von Anfang bis Ende und behauptet nun zu wissen, was an meiner Philosophie ist. Sie hat an meine Mutter geschrieben, "sie habe in Tautenb[urg] meine Philosophie in's Leben treten sehen und sei erschrocken: ich liebe das Böse, sie aber liebe das Gute. Wenn sie eine gute Katholikin wäre, so würde sie in's Kloster gehen und für all das Unheil büßen, was daraus entstehen werde." Kurz, ich habe die Naumburger "Tugend" gegen mich, es giebt einen wirklichen Bruch zwischen uns und auch meine Mutter vergaß sich einmal so weit mit einem Worte,11 daß ich meine Koffer packen ließ und morgens früh nach Leipzig fuhr. Meine Schwester (die nicht nach Naumb[urg] kommen wollte, solange ich dort war und noch in Tautenburg ist) citirt dazu ironisch "Also begann Zarathustra's Untergang."12 — In der That, es ist der Beginn vom Anfang. Dieser Brief ist für Dich und Deine liebe Frau, haltet mich nicht für menschenfeindlich. Ganz von Herzen Dein F.N. Das Herzlichste an Frau Rothpletz13 und der Ihrigen! Ich dankte Dir noch nicht für Deinen herzlichen Brief. 1. Nietzsche graduated from the University of Leipzig. He was now residing at 26 Auenstrasse with his landlord, Wilhelm Janicaud (1837-1895), a teacher at the Second District Leipzig School (school for the poor). It's not known which books he read at the university library. For further information about Nietzsche's stay with Janicaud and his family, see the recollections of his son Walter, in Sandor L. Gilman (Hrsg.), Begegnungen mit Nietzsche, 2. Auflage. Bonn: Bouvier, 1985, 451-453. Translated in Sandor L. Gilman (ed.), David J. Parent (trans.), Conversations with Nietzsche. A Life in the Words of His Contemporaries. New York; Oxford: Oxford Univ. Press, 1987, 141-143. The recollections include the following statement: "Dort, wo einst Zarathustra-Manuskripte lagen, hat mancher Musensohn sich für das 'Zarathustra-Kolleg' vorbereitet oder im 'Zarathustra' studiert." (At the spot [on a desk] where Zarathustra manuscripts once lay, many a son of the Muses has prepared for the "Zarathustra course" or studied "Zarathustra.") It's not certain if Nietzsche was researching Zarathustra at that time, but the "few books" with which he was acquainting himself at the library were possibly related to the Persian prophet.
Leipzig, 10. September 1882: Meine liebe Mutter, Kopfschmerz-Anfall und 2 schlaflose Nächte bisher, ebenfalls augenleidend. Aber wenigstens untergebracht, mit großer Anstrengung und Sucherei! Romundt2 verreist; ich war eine Nacht in seiner Wohnung. Adresse also für den Schmeitznerschen Brief:3 Leipzig, Auenstrasse, 26, 2te Etage bei Lehrer Janicaud.4 In der Nähe des Rosenthals.5 Die innere Stadt macht mich bisher fast ohnmächtig. Dein F. 1. A reply to a lost letter from Franziska Nietzsche.
Basel, 13. September 1882: Verehrtester Herr und Freund! Vor drei Tagen langte ihre "Fröhliche Wissenschaft" bei mir an und Sie können denken in welches neue Erstaunen das Buch mich versetzt hat. Zunächst der ungewöhliche Goethe'sche Lautenklang1 in Reimen, dessen Gleichen man gar nicht von Ihnen erwartete — und dann das ganze Buch und am Ende der Sanctus Januarius! Täusche ich mich oder ist dieser letzte Abschnitt ein spezielles Denkmal, das Sie einem der letzten Winter im Süden gesetzt haben? er hat eben sehr einen Zug.2 Was mir aber immer von Neuem zu schaffen giebt, ist die Frage: was es wohl absetzen würde, wenn Sie Geschichte dozierten?3 Im Grunde wohl lehren Sie immer Geschichte und haben in diesem Buch manche erstaunliche historische Perspektive eröffnet, ich meine aber: Wenn Sie ganz ex professo die Weltgeschichte mit Ihrer Art von Lichtern und unter den Ihnen gemäßen Beleuchtungswinkeln erhellen wollten? Wie hübsch vieles käme — im Gegensatz zum jetzigen Consensus populorum — auf den Kopf zu stehen! Wie froh bin ich, daß ich seit längerer Zeit die landesüblichen Wünschbarkeiten mehr und mehr dahinten gelassen und mich damit begnügt habe, das Geschehene ohne gar zu viele Complimente oder Klagen zu berichten. — Im Übrigen geht gar Vieles (und ich fürchte, das Vorzüglichste) was Sie schreiben, über meinen alten Kopf weit hinaus; — wo ich aber mitkommen kann, habe ich das erfrischende Gefühl der Bewunderung dieses ungeheurn, gleichsam comprimirten Reichthums und mache mir es klar, wie gut man es in unserer Wissenschaft haben könnte wenn man vermöchte mit Ihrem Blicke zu schauen, leider muß ich in meinen Jahren froh sein, wenn ich neuen Stoff sammle ohne den alten zu vergessen, und wenn ich als betagter Fuhrmann die gewohnten Straßen ohne Malheur weiter befahre, bis es einmal heißen wird: spann aus. Es wird nun seine Zeit dauern, bis ich vom eiligen Durchkosten bis zum allmählichen lesen des Buches vordringe, so wie es von jeher sich mit Ihren Schriften verhalten hat. Eine Anlage zu eventueller Tyrannei, welche Sie S. 234, §3254 verrathen, soll mich nicht irre machen. Mit herzlichem Gruß P. S. Curtis Adresse5 einfach: (Er war einst Mitredakteur der Frankfurter Ztg., ist jetzt Eigenthümer der Züricher Post, radical, aber von seiner Partei ziemlich unabhängig. — Gebürtig aus St. Gallen.) 1. Nietzsche's title for the prelude of Die fröhliche Wissenschaft, "Scherz, List und Rache." Vorspiel in deutschen Reimen." ("Joke, Cunning, and Revenge." Prelude in German Rhymes) is based on Goethe's comic operetta in rhymes, Scherz, List und Rache. Ein Singspiel. Leipzig: Göschen, 1790. At the time, Heinrich Köselitz had composed music for it, and was trying to get it performed. For an analysis of Nietzsche's poems in the prelude, see Kathleen Marie Higgins, "Nietzsche's Nursery Rhymes." In: Comic Relief. Nietzsche's Gay Science. New York; Oxford: Oxford Univ. Press, 2000, 14-44.
Leipzig, vermutlich 15. September 1882: Mein lieber Freund, ich bin der Meinung, daß wir Beide und wir Drei1 klug genug sind, um uns gut zu sein und zu bleiben. In diesem Leben, wo Menschen wie wir so leicht zu Gespenstern werden, vor denen man sich fürchtet, wollen wir uns an einander freuen und uns Freude zu machen suchen; und wollen darin erfindsam werden — ich für meinen Theil muß darin sehr nachlernen, da ich ein isolirtes Ungeheuer war. Meine Schwester hat inzwischen die Feindseligkeit ihrer Natur, die sie gewöhnlich gegen ihre Mutter ausläßt, mit aller Kraft gegen mich gekehrt und sich förmlich von mir gelöst, in einem Briefe an meine Mutter, aus Abscheu vor meiner Philosophie, und "weil ich das Böse liebe, sie aber das Gute" und dergleichen Tollheit. Mich selber hat sie mit Spott und Hohn überschüttet2 — nun, die Wahrheit ist, ich bin gegen sie mein Leben lang geduldig und milde gewesen, wie ich es nun einmal gegen dies Geschlecht sein muß: und das hat sie vielleicht verwöhnt. "Auch die Tugenden werden bestraft" — sagte der weise Sanctus Januarius von Genua.3 Morgen schreibe ich an unsre liebe Lou, meine Schwester (nachdem ich die natürliche Schwester verloren habe, muß mir schon eine übernatürliche Schwester geschenkt werden.) Und Anfangs Oktober auf Wiedersehen in Leipzig! Ihr Auenstr. 26, 2 Etage. 1. Nietzsche, Salomé and Rée.
Leipzig, 16. September 1882: Hochverehrte Frau sehen Sie dies Bild2 an und erschrecken Sie nicht: das bin ich. Schon lange suchte ich nach einer Gelegenheit, Ihnen ein Zeichen davon zu geben, wie vielfach verbunden und dankbar ich mich gegen Sie fühle — seit manchem Jahre schon und neuerdings immer mehr. Heute sendet der Photograph die Bilder; und das erste soll die Ehre haben, an Sie verehrteste Frau, abgehen zu dürfen. Ihr Sohn Paul und [ich], wir sind nun eine gute Strecke Zeit [einander] lieb geblieben,3 und jetzt, wo unsre Freundschaft zu einer Art Dreieinigkeit geworden ist,4 haben wir einen Grund mehr, einander gute Freunde zu bleiben, um unsrer lieben Dritten5 im Bunde das Leben etwas erträglicher und ihrer Natur würdiger zu gestalten. Alles Vertrauen, was Sie uns hierin bezeigen, ist Etwas, vor dem ich einen hohen Respekt empfinde — : ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür. Ihr 5 Jenny Rée (née Jonas, 1825-?), the mother of Paul Rée. For a detailed summary of the Rée family, see Ruth Stummann-Bowert, Malwida von Meysenbug, Paul Ree. Briefe an einen Freund. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1998, 67-72.
Leipzig, vermutlich 16. September 1882: Meine liebe Lou, Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus dem "Geschwistergehirn": ich selber habe in Basel in diesem Sinne Geschichte der alten Philosophie erzählt und sagte gern meinen Zuhören: "dies System ist widerlegt und todt aber die Person dahinter ist unwiderlegbar, die Person ist gar nicht todt zu machen" zum Beispiel Plato.1 Ich legte heute einen Brief2 des Professor Jacob Burckhardt bei, den Sie ja einmal kennen lernen wollten. Auch er hat etwas Unwiderlegbares in seiner Persönlichkeit; aber da er ein ganzer eigentlicher Historiker ist (der Erste unter allen lebenden), so hat er gerade daran, an dieser ewig ihm einverleibten Art und Person, kein Genügen, er möchte gar zu gerne einmal aus andern Augen sehen, zum Beispiel, wie der seltsame Brief verräth, aus den meinigen. Übrigens glaubt er an einen baldigen und plötzlichen Tod, durch Schlagfluß, nach Art seiner Familie; vielleicht möchte er mich gerne als Nachfolger in seiner Professur? Aber über mein Leben ist schon verfügt. Inzwischen hat der Prof. Riedel3 hier, der Präsident des deutschen Musik-Vereins, für meine "heroische Musik" (ich meine Ihr "Lebens-Gebet"4) Feuer gefangen er will es durchaus haben, und es ist nicht unmöglich, daß er es für seinen herrlichen Chor (einen der ersten Deutschlands "der Riedelsche Verein" genannt) zurecht macht. Das wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir Beide zusammen zur Nachwelt gelangten andre Wege vorbehalten. Was Ihre "Charakteristik meiner selber" betrifft, welche wahr ist, wie Sie schreiben: so fielen mir meine Verschen aus der fröhlichen Wissenschaft ein p. 10, mit der Überschrift "Bitte."5 Errathen Sie meine liebe Lou, um was ich bitte? Aber Pilatus sagt: "was ist Wahrheit!"6 Gestern Nachmittag war ich glücklich; der Himmel war blau, die Luft mild und rein, ich war im Rosenthal, wohin mich Carmen-Musik7 lockte. Da saß ich 3 Stunden, trank den zweiten Cognac dieses Jahres, zur Erinnerung an den ersten (ha! wie häßlich er schmeckte!) und dachte in aller Unschuld und Bosheit darüber nach, ob ich nicht irgend welche Anlage zur Verrücktheit hätte. Ich sagte mir schließlich Nein. Dann begann die Carmen-Musik, und ich gieng für eine halbe Stunde unter in Thränen und Klopfen des Herzens. Wenn Sie aber dies lesen, werden Sie schließlich sagen: Ja! und eine Note zur "Characteristik meiner selber" machen. Kommen Sie doch recht, recht bald nach Leipzig! Warum denn erst am 2 Oktober? Adieu, meine liebe Lou! Ihr F.N. 1. Cf. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (Philosophy in the Tragic Age of the Greeks).
Leipzig, 16. September 1882: Hochverehrter Mann, ich wünschte, Sie wüßten schon irgend woher, daß Sie das für mich sind ein sehr hochverehrter Mann, Mensch und Dichter. So brauchte ich mich heute nicht zu entschuldigen, daß ich Ihnen kürzlich ein Buch2 zusendete. Vielleicht thut Ihnen dieses Buch trotz seinem fröhlichen Titel wehe? Und wahrhaftig, wem möchte ich weniger gern wehe thun als gerade Ihnen, dem Herz-Erfreuer! Ich bin gegen Sie so dankbar gesinnt!3 Von Herzen der Ihrige 1. Gottfried Keller (1819-1890): Swiss poet and writer.
[Leipzig], Anfang November 1882: Freundin — sprach Columbus traue *** Wen er liebt, den lockt er gerne *** Meiner lieben Lou. 1. Probably meant as a dedication to be tipped-in to her copy of Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science). See the 1884 version of this poem.
Leipzig, vermutlich 7. November 1882: Verehrungswürdige Freundin, Oder darf ich nach sechs Jahren dieses Wort nicht mehr gebrauchen?2 Inzwischen habe ich dem Tode näher gelebt, als dem Leben und bin folglich ein wenig zu sehr zum "Weisen" und beinahe zum "Heiligen" geworden ... Indessen: das läßt sich vielleicht noch corrigiren! Denn ich glaube wieder an das Leben, an die Menschen, an Paris, sogar an mich selber — und will in kurzer Zeit Sie wiedersehen.3 Mein letztes Buch heißt: "Die fröhliche Wissenschaft." Giebt es viel heiteren Himmel über Paris? Wissen Sie durch Zufall etwa von einem Zimmer, das für mich paßt? Es müßte ein todtenstill gelegenes, sehr einfaches Zimmer sein. Und nicht gar zu ferne von Ihnen, meine liebe Frau Ott. Oder rathen Sie mir ab, nach Paris zu kommen? Ist es kein Ort für Einsiedler, für Menschen, die still mit einem Lebenswerke herumgehen wollen und sich gar nicht um Politik und Gegenwart bekümmern? Sie sind mir eine so liebliche Erinnerung! Von Herzen Ihnen zugethan 1. Moritz Emil Vollenweider (?-1899): Swiss photographer, with studios in Bern, Strasbourg, and later Algiers. Vollenweider and his four sons were something of a dynasty in the world of 19th-century Swiss photography. He was a founding member, and the first president of the Schweizerischer Photographen-Verein (Swiss Photographers Association) from 1886-1888.
Leipzig, Kali phosphor.1 8. November 1882: Liebe Lou, fünf Worte — meine Augen schmerzen. Ich besorgte Ihren Petersburger Brief.2 Vor zwei Tagen habe ich auch an Ihre Frau Mutter geschrieben (und zwar ziemlich lang) Auch nach Paris habe ich zwei Anfrage-Brief3 abgeschickt. — Welche Melancholie! Ich wußte es nicht bis zu diesem Jahre, wie sehr ich mißtrauisch bin. Nämlich gegen mich. Der Umgang mit Menschen hat mir den Umgang mit mir verdorben. Sie wolten mir noch Etwas sagen? Ihre Stimme gefällt mir am meisten, wenn Sie bitten. Aber man hört dies nicht oft genug. Ich werde beflissen sein — — Ah, diese Melancholie! Ich schreibe Unsinn. Wie seicht sind mir heute die Menschen! Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich noch ertrinken kann! Ich meine ein Mensch. Meine liebe Lou (An Rée und Frau Rée das Herzlichste!) 1. A homeopathic remedy detailed in a book sent to Nietzsche by Ernst Schmeitzner. See, Wilhelm Heinrich Schüssler, Eine abgekürzte Therapie, gegründet auf Histologie und Cellular-Pathologie. Anleitung zur Behandlung der Krankheiten auf biochemischem Wege von Dr. Schüssler. Oldenburg: Schulz, 1881.
Leipzig, um den 10. November 1882: Mein lieber Freund, so geht es! Ich schrieb nicht, um die Entscheidung in mehreren Dingen abzuwarten, und heute schreibe ich, nur um Dir dies zu sagen; denn es ist noch nichts entschieden. Noch nicht einmal in Betreff meiner Reise- und Winter-Pläne. Paris1 steht immer zwar noch im Vordergrund, aber es ist kein Zweifel, daß mein Befinden unter dem Eindrucke dieses nordischen Himmels sich verschlechtert hat; und vielleicht habe ich nie so melancholische Stunden durchgemacht, wie in diesem Leipziger Herbst — obwohl ich doch Gründe genug um mich habe, guter Dinge zu sein. Genug, es gab manchen Tag, wo ich im Geiste über Basel wieder meerwärts reiste. Ich fürchte mich vor dem Lärme von Paris etwas und möchte wissen, ob es genug heiteren Himmel hat. Andererseits würde in einer erneuten Genueser Einsamkeit manche Gefahr liegen. — — Ich gestehe, ich würde überaus gerne Dir und Deiner lieben Frau einen längeren Bericht über die Erfahrungen dieses Jahres gemacht haben: es giebt sehr viel zu erzählen, und wenig zu schreiben. Für das Buch von Jans[s]en2 bin ich Dir großen Dank schuldig, es präcisirt vorzüglich alles Unterscheidende zwischen seiner und der protestantischen Auffassung (der ganze Handel läuft auf eine Niederlage des deutschen Protestantism hinaus — jedenfalls der protestantischen "Geschichtsschreibung").3 Ich selber habe in der Hauptsache nicht viel umzulernen gehabt. Die Renaissance bleibt mir immer noch die Höhe dieses Jahrtausends; und was seither geschah, ist die große Reaktion aller Art von Heerden-Trieben gegen den "Individualismus" jener Epoche. Lou und Rée sind in diesen Tagen abgereist, zunächst um mit Mutter Rée sich in Berlin zu treffen: von da geht es nach Paris. Mit der Gesundheit von Lou steht es bejammernswürdig, ich gebe ihr nun viel kürzere Zeit als noch in diesem Frühjahr. Wir haben unser gut Theil Sorge; Rée ist wie geschaffen für seine Aufgabe in dieser Sache. Für mich persönlich ist L[ou] ein wahrer Glücksfund, sie hat alle meine Erwartungen erfüllt — es ist nicht leicht möglich, daß zwei Menschen sich verwandter sein können als wir es sind. Was Köselitz (oder vielmehr Herrn "Peter Gast"4) betrifft, so ist hier mein zweites Wunder dieses Jahres. Während Lou für den bisher fast verschwiegenen Theil meiner Philosophie vorbereitet ist, wie kein anderer Mensch, ist Köselitz die tönende Rechtfertigung für meine ganze neue Praxis und Wiedergeburt — um einmal ganz egoistisch zu reden. Hier ist ein neuer Mozart — ich habe keine andere Empfindung mehr: Schönheit Herzlichkeit Heiterkeit Fülle Erfindungs-Überfluß und die Leichtigkeit der contrapunktischen Meisterschaft — das fand sich noch nie so zusammen, ich mag bereits gar keine andere Musik mehr hören. Wie arm, künstlich und schauspielerisch klingt mir jetzt die ganze Wagnerei! — Ob Sch[erz] L[ist] und R[ache] hier aufgeführt wird? Ich glaube es, aber weiß es noch nicht.5 — Dies Bild, welches ich beilege, mag auf Deinem Geburtstagstisch zu finden sein (es wird als Photographie bewundert.)6 Hat Frau Rothpletz7 mein letztes Buch empfangen? Ich vergaß ihre genaue Adresse. Von Herzen Dir ein gutes Jahr wünschend Dein Freund Nietzsche 1. Nietzsche was planning on visiting Paris (which never happened) with Salomé and Rée.
Santa Marguerita Ligure, Aber, lieber, lieber Freund, ich meinte, Sie würden umgekehrt empfinden und sich im Stillen darüber freuen, mich für eine Zeit los zu sein!1 Es gab in diesem Jahre hundert Augenblicke, von Orta2 an, wo ich empfand, daß Sie die Freundschaft mit mir etwas "zu hoch bezahlen." Ich habe schon Viel zu Viel von Ihrem römischen Funde3 abbekommen (ich meine Lou) — und es schien mir immer, namentlich in Leipzig, daß Sie ein Recht hätten, gegen mich ein wenig schweigsam zu werden. Denken Sie, liebster Freund, so gut als möglich von mir, und bitten Sie auch Lou um eben dasselbe für mich. Ich gehöre Ihnen Beiden mit meinen herzlichsten Gefühlen — ich meine dies durch meine Trennung mehr bewiesen zu haben als durch meine Nähe. Alle Nähe macht so ungenügsam — und ich bin zuletzt überhaupt ein ungenügsamer Mensch. Von Zeit zu Zeit werden wir uns schon wiedersehen, nicht wahr? Vergessen Sie nicht, daß ich von diesem Jahre an plötzlich arm an Liebe und folglich sehr bedürftig der Liebe geworden bin. Schreiben Sie mir etwas recht Genaues über das, was uns jetzt am meisten angeht, — was "zwischen uns steht," wie Sie schreiben. In ganzer Liebe NB. Ich lobte Sie so in Basel,4 daß Frau Overbeck sagte: "Aber Sie beschreiben ja Daniel de Ronda!" Wer ist Daniel de Ronda?5 Adr: Santa Margherita Ligure 1. Response to an unknown letter by Rée, probably in regard to the planned trip to Paris with Lou Salomé.
Santa Margherita Ligure, Meine liebe Lou, gestern habe ich den beifolgenden Brief1 an Rée geschrieben: und eben war ich unterwegs, ihn zur Post zu tragen da fiel mir etwas ein, und so habe ich das Couvert wieder abgerissen. Dieser Brief, der Sie allein betrifft, würde R[ée] vielleicht mehr Schwierigkeit machen als Ihnen; kurz, lesen Sie ihn, es soll ganz in Ihrer Hand stehen, ob R[ée] ihn auch lesen soll. Nehmen Sie dies als ein Zeichen des Vertrauens, meines reinsten Willens zum Vertrauen zwischen uns! Und nun, Lou, liebes Herz, schaffen Sie reinen Himmel! Ich will nichts mehr, in allen Stücken als reinen hellen Himmel: sonst will ich mich schon durchschlagen, so hart es auch geht. Aber ein Einsamer leidet fürchterlich an einem Verdachte über die Paar Menschen, die er liebt — namentlich wenn es der Verdacht über einen Verdacht ist, den sie gegen sein ganzes Wesen haben. Warum fehlte bisher unserm Verkehre alle Heiterkeit? Weil ich mir zu viel Gewalt anthun mußte: die Wolke an unsrem Horizonte lag auf mir! Sie wissen vielleicht, wie unerträglich mir alles Beschämenwollen, alles Anklagen und Sich-Vertheidigen-müssen ist. Man thut viel Unrecht, unvermeidlich — aber man hat ja auch die herrliche Gegenkraft, wohlzuthun, Frieden und Freude zu schaffen. Ich fühle jede Regung der höheren Seele in Ihnen, ich liebe nichts an Ihnen als diese Regungen. Ich verzichte gerne auf alle Vertraulichkeit und Nähe, wenn ich nur dessen sicher sein darf: daß wir uns dort einig fühlen, wohin die gemeinen Seelen nicht gelangen. Ich spreche dunkel? Habe ich erst das Vertrauen, so sollen Sie schon erleben, daß ich auch die Worte habe. Bisher habe ich immer schweigen müssen. Geist? Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntniß! Ich schätze nichts als Antriebe — und ich möchte darauf schwören, daß wir darin etwas Gemeinsames haben. Sehen Sie doch durch diese Phase hindurch, in der ich seit einigen Jahren gelebt habe — sehen Sie dahinter! Lassen Sie sich nicht über mich täuschen — Sie glauben doch nicht, daß "der Freigeist" mein Ideal ist?! Ich bin — Verzeihung! Liebste Lou, seien Sie, was Sie sein müssen. F.N.
Tübingen, 26. November 1882: Mein lieber Freund! ich muß mich nur einmal aufraffen, die Briefaxt zu schwingen — wozu mir meine Knochen immer ungelenker werden. Längst habe ich dir in Gedanken alles erdenkliche Gute gewünscht und gesagt bei der Lectüre deiner "fröhlichen":1 ich bekam sie nach Warnemünde, wo ich mit meiner Frau und der Familie einige Septemberwochen voll unerhört leuchtenden Sonnenscheins und erquicklichen Nichtsthuns verlebte. So, in Ferien, auf irgend einer Bank, und ganz losgekettet von meiner alten Arbeitskrippe, habe ich das Buch recht von Herzen und mit freien Sinnen genossen. Es scheint mir um Vieles frischer und muthiger als deine früheren: diese fröhliche Wissenschaft will mir freilich noch immer nicht wie eine Wissenschaft erscheinen, aber sie wird nun wirklich immer freier und fröhlicher; was zuerst, liebster Freund, gestatte daß ich es eingestehe, mir wie ein nur mit Gewalt deiner eigentlichen Neigung abgezwungener, mit verbissenen Zähnen gewollter excentrischer Entschluß vorkam2 — diese neue, in Nüchternheit enthusiastisch sich betrinkende Vorstellungsweise, jetzt ist sie wirklich, so empfinde ich es, dir zu einer natürlichen Empfindungsart geworden; und jetzt, merkt man wohl, dient sie wirklich dazu, dir das Leben leichter, klarer, kühl behaglich zu machen, ohne dich eigentlich ärmer zu machen. Was mir diese neueste Bekanntschaft so werthvoll macht, das ist dieses, daß es, in der Hauptsache, eben ein rechtes Bekenntniß ist: so ist Dir zu Muthe; und das sprichst du mit unvergleichlicher Energie und Helligkeit aus. Das Dogmatische dieser Vorstellungsweise verliert sich mehr und mehr, und das ist gut: denn zum Dogma taugt sie nicht: sie ist die Formulierung eines τρόπος τοũ βίου3 der für dich gültig und heilsam ist, aber keine Propaganda machen darf und keine soll machen wollen. Das ganz Persönliche des ganzen Buches ist es, was ich als so wohlthätig empfunden habe, und so denn auch der Hauch einer nun nicht mehr nur krampfhaft gewollten sondern erlangten und ruhig festgehaltenen Beruhigung des Geistes und gesunder Gelassenheit des ganzen Wesens, der aus den meisten Betrachtungen mir entgegenweht. Wenn du nicht ein wahrer Tausendkünstler4 der Selbstüberwindung bist, so mußt du wirklich nunmehr den Berg überstiegen haben, deine Gesundheit wieder gefunden haben: das bezeugt noch mehr, als dein Brief5 es zu meiner großen Freude bezeugte, dein Buch: und darum war dasselbe mir eine wahre Freudensendung. Wie du nunmehr dein Leben einrichten willst, davon habe ich einige Nachricht durch Overbeck bekommen den ich, mit meiner Frau, in Dresden besucht habe. Aber schon ist ja ein Theil des Programms wieder geändert: statt in Wien tauchst du in Leipzig auf. Leipzig oder Laipz'ch! wie ewig lange ist es her, seit wir da zusammen in die Reitschule6 gingen und bei Ritschl nichts besondres lernten! ganze Lebenslängen scheinen mir dazwischen zu liegen; aber man soll nicht zurücksehen, denn im Grunde ist es ein ziemlich leeres Wolkengewoge was Einen von der ehemaligen Zeit trennt. Was hat man groß errungen und vollbracht! — Nun sitzt du wieder in dem alten Rauchneste; möge es Dir nur gut bekommen. Was du eigentlich dort suchst, möchte ich wohl erfahren. U. A. scheint jetzt auch Romundt,7 der ja wohl unter die Pastoren gegangen ist, sich in Laipzch wieder eingenistet zu haben. Ich wünsche ihm alles Gute, er ist ein trefflicher, reiner Mensch, aber diese Entwurzelung nachdem er eben schien sich anwurzeln zu wollen, scheint mir bedenklich. Sein "Genius," scheint es, treibt ihn; ich für meine Person sehe immer mehr ein daß die gemeine Regelmäßigkeit und Sicherheit der niedern Regionen des Daseins für uns Erdenkinder die nothwendigste Voraussetzung der Ersprießlichkeit auch höherer Thätigkeit ist und so wird mir immer bange, wenn ein Freund sich ohne Noth einem pflicht- und schutzlosen Leben hingiebt. Du siehst, mein Freund, ich werde philiströs; eigentlich aber werde ich das nicht, sondern na, genug. Deine Photographie8 ist mir sehr willkommen; du hast dich wenig verändert; daß du überhaupt ans Abbildenlassen gedacht hast, begrüße ich als ein neues Anzeichen wiedererwachten Lebensmuthes; und das ist denn zuletzt das Beste, der Muth zum Leben und Thätigsein, für den es keinen Grund zu geben braucht, da er immer begründet ist, wenn er nur da ist. Ich lebe im übrigen in größter Gleichmäßigkeit in diesem dreckigen Dorfe9 weiter, wollte, ich käme einmal in civilisierte Gegenden zurück aus diesem Lande der Stiftsphilosophie10 und Pastorenaufgeblasenheit und selbstzufriedenen Bummelei. Meine Frau und Kinder sind wohl und zumal mein kleines Töchterchen11 (jetzt 4 Jahre) mit ihrer gleichmäßigen Heiterkeit und unermüdlichen Antheilnahme an allen bunten Bildern der Welt und der Phantasie mir eine fortwährende Herzstärkung. Der Junge12 ist noch zu klein; ich habe auch noch keine Ahnung wie er ausfällt; einstweilen nur ein kleines, vergnügt herumkrabbelndes Murmelthier. Ich fange endlich an, eine größere Arbeit,13 die mich viele Jahre beschäftigen wird, in den untersten Grundmauern zu fundiren; solch ein größerer Plan, ein Mittelpunct der Gedanken, der alles Einzelne magnetisch anzieht, ist mir eine sehr wohlthätige Beschäftigung des sonst ganz an elende Collegarbeit und zersplitterte Einzelheiten verlornen Gehirns. Lebe denn wohl mein alter treuer lieber Freund; es kommt mir fast wie eine Erinnerung an eine alte liebe Geschichte aus ferner Zeit vor, daß ich dich nun in dem alten Leipzig, wo meine und deine Anfänge14 lagen, wieder herumziehen denken muß: als ob das Rad zurückgedreht wäre und alles wieder auf dem alten Fleck stünde. Wenn dir's nur recht wohl thut für Gesundheit des Leibes und Heiterkeit des Geistes. Lebe wohl: ich gedenke deiner oft und mit den alten Gefühlen der Freundschaft und Liebe Dein Entschuldige die scheußliche Schrift: eine alte bockbeinige Feder peinigt mich! 1. Die fröhliche Wissenschaft (The Joyful Science).
Genua, Ende November 1882: Was machen Sie, meine liebe L[ou], ich bat um heitern Himmel zwischen uns soll ich sagen: es ist vorbei Wollen wir uns zusammen erzürnen? haben wir Lust einen großen Lärm zu machen? Ich ganz und gar nicht, ich wollte heitren Himmel zwischen uns. Aber Sie sind ja ein kleiner Galgenvogel! Und einst hielt ich Sie für die leibhaftige Tugend und Ehrbarkeit. Genua, November / Dezember 1882 M[eine] l[iebe] L[ou] ich muß Ihnen einen kleinen boshaften Brief schreiben. Um des Himmels willen, was denken denn diese kleinen Mädchen von 20, welche angenehme Liebesgefühle haben und nichts Weiteres zu thun haben als hier und da krank zu sein und zu Bett zu liegen? Soll man diesen kl[einen] M[ädchen] viell[eicht] noch nachlaufen, um ihnen die Langeweile und die Fliegen zu verjagen? Zufällig Einen netten Winter zu machen[?] Charmant: aber was habe ich mit netten Wintern zu thun? Sollte ich die Ehre haben, dazu beizutragen
Genua, Anfang Dezember 1882: Seltsam! Ich habe über L[ou] eine vorgefaßte Meinung: und obwohl ich sagen muß, daß alle meine Erfahrung aus diesem Sommer widerspricht, werde ich diese Meinung nicht los. Eine Reihe von höheren Gefühlen, welche unter M[enschen] sehr selten und sehr auszeichnend sind, müssen in ihr vorhanden sein oder gewesen sein: irgend ein Haupt-Unglück Eigentlich hat sich Niemand in meinem Leben so häßlich gegen mich benommen wie L[ou]. Bis heute hat sie jene abscheuliche Verunglimpfung meines ganzen Charakters und Willens nicht widerrufen, mit der sie sich in Jena und Tautenb[urg] einführte: und dies obwohl sie weiß, daß es mir in seiner Nachwirkung erheblichen Schaden zugefügt hat (Namentl[ich] in Bezug auf Basel) Wer mit einem Mädchen das solche Dinge sagt, nicht den Verkehr abbricht, der muß ja — ich weiß nicht was sein — so schließt man. Daß ich es nicht that, war die Folge jener vorgefaßten Meinung: übrigens von mir ein gutes Stück Selbstüberwindung.1 R[ohde] der mir kürzlich vorgehalten hat, diese meine ganze neuere Denkweise sei ein exc[entrischer] Entschluß nennt mich einen Tausendkünstler der Selbstüberwindung.2 Was mir übrigens am schwersten wird, ist, daß ich weder mit Ihnen noch mit Lou noch mit irgend jemandem von dem reden kann, was mir am meisten auf dem Herzen liegt. Wie ich einen Mann behandeln würde, der so über mich zu meiner Schwester redete, darüber ist kein Zeifel. Darin bin ich Soldat und werde es immer sein, ich verstehe mich auf Waffen. Aber ein Mädchen! Und Lou! sie hat mich in Bayreuth nicht nur im Stich gelassen, sondern geringschätzig behandelt (meine Schwester erzählte 100 Geschichten) — in diesem Punkte bin ich empfindlich, denn daß meine Freunde mein Verhalten gegen W[agner] zu würdigen und mir Recht darin zu schaffen wissen, das gehört für mich zum Begriff "mein Freund" wer diese Dinge nicht begreift der weiß nichts davon was es heißt "der Erkenntniß Opfer bringen"3 Können Sie diese Dinge nicht ins Gleiche bringen? Ich habe nie mit Lou davon sprechen wollen einen einzigen Punkt ausgenommen, von dem Sie wissen. In der Hauptsache, wollte ich ihr die Freiheit lassen, das Geschehene von sich aus wieder gut zu machen: mir ist alles Erzwungene zwischen 2 Personen gräßlich. Als ich sie [Lou] das letzte Mal sah, sagte sie mir, sie habe mir noch etwas mitzutheilen. Ich war voller Hoffnung. (Ich sagte zu meiner S[eele] "Sie hat eine sehr schlechte Meinung von mir aber sie ist klug, sie wird bald eine bessere bekommen" ich möchte daß die schmerzhafteste Erinnerung dieses Jahres mir von der Seele genommen würde — schmerzhaft nicht, weil sie mich beleidigt sondern weil sie Lou in mir beleidigt. 1. Cf. Elisabeth Nietzsche's 09-24/10-02-1882 letter to Clara Gelzer; 03-17-1883 letter from Franz Overbeck to Heinrich Köselitz.
Genua, Anfang Dezember 1882: Aber, lieber Herr Doctor, Sie hätten mir gar nicht schöner antworten können, als Sie es gethan haben — durch Übersendung Ihrer Bogen.1 Das traf glücklich zusammen! Und bei allen ersten Begegnungen sollte es ein so gutes "Vogelzeichen" geben! Ja, Sie sind ein Dichter! Das empfinde ich: die Affekte, ihr Wechsel, nicht am wenigsten der scenische Apparat — das est wirksam und glaubwürdig (worauf Alles ankommt!) Was die "Sprache" betrifft, — nun wir sprechen zusammen über die Sprache, wenn wir uns einmal sehen: das ist nichts für den Brief. Gewiß, lieber Herr Doctor, Sie lesen noch zu viel Bücher, namentlich deutsche Bücher! Wie kann man nur ein deutsches Buch lesen! Ah, Verzeihung! Ich that es selber eben und habe Thränen dabei vergossen. Wagner sagte einmal von mir, ich schriebe lateinisch und nicht deutsch: was einmal wahr ist und sodann — auch meinem Ohre wohlklingt.2 Ich kann nun einmal an allem deutschen Wesen nur einen Antheil haben, und nicht mehr. Betrachten Sie meinen Namen: meine Vorfahren waren polnische Edelleute, noch die Mutter meines Großvaters war Polin.3 Nun, ich mache mir aus meinem Halbdeutschthum eine Tugend zurecht und nehme in Anspruch, mehr von der Kunst der Sprache zu verstehen als es Deutschen möglich ist. — Also hierin auf Wiedersehn! Was "den Helden" betrifft: so denke ich nicht so gut von ihm wie Sie. Immerhin: er ist die annehmbarste Form des menschlichen Daseins, namentlich wenn man keine andre Wahl hat. Man gewinnt etwas lieb: und kaum ist es Einem von Grund aus lieb geworden, so sagt der Tyrann in uns (den wir gar zu gerne "unser höheres Selbst" nennen möchten): "Gerade das gieb mir zum Opfer." Und wir geben's auch — aber es ist Thierquälerei dabei und Verbranntwerden mit langsamen Feuer. Es sind fast lauter Probleme der Grausamkeit, die Sie behandeln: thut dies Ihnen wohl? Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich selber zuviel von dieser "tragischen" Complexion im Leibe habe, um sie nicht oft zu verwünschen; meine Erlebnisse im Kleinen und Großen, nehmen immer den gleichen Verlauf. Da verlange es mich am meisten nach einer Höhe, von wo aus gesehen das tragische Problim unter mir ist. — Ich möchte dem menschlichen Dasein etwas von seinem herzbrecherischen und grausamen Charakter nehmen. Doch, um hier fortfahren zu können, müßte ich Ihnen verrathen haben — die Aufgabe, vor der ich stehe, die Aufgabe meines Lebens. Nein, davon dürfen wir nicht mit einander sprechen. Oder vielmehr: so wie wir Beide sind, zwei sehr getrennte Wesen, dürfen wir davon nicht einmal mit einander schweigen. Von Herzen Ihnen dankbar Ich bin wieder in meiner Residenz Genua oder in deren Nähe, mehr Einsiedler als je: Santa Margherita Ligure (Italia) (poste restante). 1. Heinrich von Stein, Helden und Welt. Dramatische Bilder von Heinrich von Stein. Eingeführt durch Richard Wagner. Chemnitz: Schmeitzner, 1883.
Rapallo, Anfang Dezember 1882: Hochverehrter Herr, durch irgend einen guten Zufall1 erfahre ich, daß Sie mir — trotz meiner entfremden Einsamkeit, zu der ich seit 18762 genöthigt bin — nicht fremd geworden sind: ich empfinde eine Freude dabei, die ich schwer beschreiben kann. Es kommt zu mir wie ein Geschenk und wiederum wie etwas, auf das ich gewartet, an das ich geglaubt habe. Es schien mir immer, sobald Ihr Name mir einfiel, daß es mir wohler und zuversichtlicher um's Herz werde; und wenn ich zufällig etwas von Ihnen hörte, meinte ich gleich es zu verstehn und gutheißen zu müssen. Ich glaube, ich habe wenige Menschen so gleichmäßig in meinem Leben gelobt wie Sie — Verzeihung! Was habe ich für ein Recht, Sie zu "loben"! — — Inzwischen lebte ich Jahre lang dem Tode etwas zu nahe und, was schlimmer ist, dem Schmerze. Meine Natur ist gemacht, sich lange quälen zu lassen und wie mit langsamem Feuer verbrannt zu werden; ich verstehe mich nicht einmal auf die Klugheit, "den Verstand dabei zu verlieren." Ich sage nichts von der Gefährlichkeit meiner Affekte, aber das muß ich sagen: die veränderte Art zu denken und zu empfinden, welche ich seit 6 Jahren auch schriftlich zum Ausdruck brachte, hat mich im Dasein erhalten und mich beinahe gesund gemacht. Was geht es mich an, wenn meine Freunde behaupten, diese meine jetzige "Freigeisterei" sei ein excentrischer, mit den Zähnen festgehaltener Entschluß und meiner eigenen Neigung abgerungen und angezwungen?3 Gut, es mag eine "zweite Natur" sein: aber ich will schon noch beweisen, daß ich mit dieser zweiten Natur erst in den eigentlichen Besitz meiner ersten Natur getreten bin. — So denke ich von mir: im Übrigen denkt fast alle Welt recht schlecht von mir. Meine Reise nach Deutschland in diesem Sommer — eine Unterbrechung der tiefsten Einsamkeit — hat mich belehrt und erschreckt. Ich fand die ganze liebe deutsche Bestie gegen mich anspringend — ich bin ihr nämlich durchaus nicht mehr "moralisch genug."4 Genug, ich bin wieder Einsiedler und mehr als je; und denke mir — folglich — etwas Neues aus. Es scheint mir, daß allein der Zustand der Schwangerschaft uns immer wieder an's Leben anbindet. — Also: ich bin, der ich war, Jemand der Sie von Herzen verehrt Ihr ergebener Santa Margherita Ligure |Italia| post rest. 1. Cf. 11-15-1882 letter from Heinrich von Stein: "Ich hatte Gelegenheit, Herrn von Bülow; seine hingebende Theilnahme für Ihre Schriften und Ihr Ergehen äussern zu hören." (I had the opportunity [to speak with] Herrn von Bulow; to listen to him express his devoted interest in your writings and your welfare.)
Rapallo, vor Mitte Dezember 1882: M[eine] l[iebe] L[ou] nehmen Sie sich in Acht! Wenn ich Sie jetzt von mir weise, so ist dies eine fürchterliche Censur über Ihr ganzes Wesen! Sie haben mit einem der langmüthigsten und wohlmeinendsten M[enschen] zu thun gehabt: aber ich bin mehr als irgend ein M[ensch] glaubt durch Ekel zu überwältigen. Schreiben Sie mir andere Briefe.1 Besinnen Sie sich eines Bessern, besinnen Sie sich auf sich selbst! Ich habe mich noch nie über einen M[enschen] getäuscht: und in ihnen ist jener Drang nach einer heiligen Selbstsucht, welche der Drang nach Gehorsam gegen das Höchste ist — Sie haben ihn ich weiß nicht durch welchen Fluch verwechselt mit seinem Gegensatze, dem Ausbeuten aus der ausbeutenden Lust der Katze2 um nichts als um des Lebens willen — Wenn Sie allem Erbärmlichen in Ihrer Natur die Zügel schießen lassen: wer kann dann noch mit Ihnen umgehn! Sie haben Schaden gethan, Sie haben Wehe gethan — und nicht nur mir sondern allen den M[enschen], die mich liebten: — dies Schwert hängt über Ihnen Sie haben in mir den besten Advokaten, aber auch den unerbittlichsten Richter! Ich will, daß Sie sich selbst verurtheilen, und sich Ihre Strafe bestimmen. Dies Alles sind Dinge, die man hat, um sie zu überwinden — um sich zu überwinden. Ja, ich war Ihnen böse: aber warum von dieser Einzelheit reden? Ich bin Ihnen alle 5 Tage böse gewesen — und glauben Sie mir ich habe immer einen sehr guten Grund dazu gehabt. Aber wie sollte ich jetzt mit M[enschen] leben können, wenn ich mein Abscheu vor vielem Menschlichen nicht zu überwinden wüßte? Ich werde nicht nur durch Handl[ungen] sondern vielmehr durch Eigenschaften beleidigt. ich hatte damals in Orta3 bei mir beschlossen, Sie zuerst mit meiner ganzen Ph[ilosophie] bekannt zu machen. Ach, Sie ahnen nicht, was das für ein Entschluß war: ich glaubte daß man kein größeres Geschenk Jemandem machen kann. Eine sehr langwierige Sache (Ein langwieriger Bau und Aufbau) Damals war ich geneigt Sie für eine Vision und die Erscheinung meines Ideals auf Erden zu halten. Bemerken Sie: ich sehe sehr schlecht. Ich glaube, es kann Niemand besser von Ihnen denken, aber auch Niemand schlimmer. Hätte ich Sie geschaffen, so würde ich Ihnen gewiß eine bessere Gesundh[eit] gegeben haben, aber vor allem einiges Andre, an dem mehr liegt — und viell[eicht] auch ein Bischen mehr Liebe zu mir (obwohl daran gerade am allerwenigsten liegt) und es steht ganz so wie mit Freund R[ée] — ich kann weder mit Ihnen, noch mit ihm auch nur ein Wort von dem sprechen, was mir am meisten am Herzen liegt. Ich bilde mir ein, Sie wissen ganz und gar nicht, was ich will? — Aber diese erzwungene Lautlosigkeit ist mitunter fast zum Ersticken, namentlich wenn man den M[enschen] lieb hat 1. The letter is lost.
Rapallo, vor Mitte Dezember 1882: Ich glaube, es kann Niemand besser von Ihnen denken, aber auch Niemand schlimmer. Es steht ganz so wie mit Freund R[ée] — ich kann weder mit Ihnen noch mit ihm ein Wort von dem sprechen, was mir am meisten am Herzen liegt. Diese erzwungene Lautlosigkeit ist mir mitunter fast zum Ersticken — namentlich weil ich Sie Beide lieb habe. Damals war ich geneigt, Sie für eine Vision, und die Erscheinung meines Ideals auf Erden zu halten. Bemerkten Sie schon? ich sehe sehr schlecht. Ja, ich war Ihnen böse! Aber warum von dieser Einzelheit reden? Ich bin Ihnen alle 5 Tage und öfter noch böse gewesen — und glauben Sie mir, ich habe meine sehr guten Gründe dazu gehabt. Ich werde mehr als durch Handlungen durch Eigenschaften beleidigt. Aber ich überwinde mich. Und wie sollte ich jetzt mit M[enschen] leben können, wenn ich meinen Abscheu vor vielem Menschlichen nicht zu überwinden wüßte. Ich habe die Welt und Lou nicht geschaffen. — Hätte ich L[ou] geschaffen, so würde ich Ihnen gewiß eine bessere Gesundheit gegeben haben, aber vor Allem einiges Andre, an dem viel mehr liegt als an Gesundheit — und vielleicht auch ein Bischen mehr Liebe zu mir (obwohl daran gerade am wenigsten liegt.) (Ich habe mich im Ganzen Großen noch nie über einen M[enschen] getäuscht.) Ich traute Ihnen höhere Gefühle als andern M[enschen] zu: das war, das allein, was mich so schnell an Sie band. Nach Allem, was mir von Ihnen erzählt worden war, war dies Zutrauen erlaubt. Ich würde Ihnen wehethun und nichts nützen, wenn ich Ihnen sagte, was ich meine heilige Selbstsucht nenne. — Seltsam! Ich glaubte im Grunde immer noch daran, daß Sie dieser höheren und allerseltensten Gefühle fähig sind: irgend ein Grund-Unglück in Ihrer Erziehung und Entwicklung hat Ihnen den guten Willen dafür nur zeitweilig gelähmt. — Denken Sie: jener Katzen-Egoismus1 der nicht mehr lieben kann, jenes Lebensgefühl im Nichts zu dem Sie sich bekennen sind genau das mir ganz Widerwärtige am Menschen: schlimmer als irgend etwas Böses. (Dinge, die man hat, um sie zu überwinden — um sich zu überwinden.): eingerechnet die Erkenntniß als plaisir neben andern plaisirs.2 Und wenn ich Sie irgendwie verstehe: dies Alles sind an Ihnen willkürliche und angezwungene Tendenzen3 — so weit es nicht Symptome Ihrer Krankheit sind (:worüber ich eine Menge schmerzlicher Hintergedanken habe.) Damals in Orta4 hatte ich bei mir in Aussicht genommen, Sie Schritt für Schritt bis zur letzten Consequenz meiner Philosophie zu führen — Sie als den ersten Menschen, den ich dazu für tauglich hielt. Ach, Sie ahnen nicht, welcher Entschluß, welche Überwindung das für mich war! Ich habe als Lehrer immer viel für meine Schüler gethan: der Gedanke an Belohnung in irgend einem Sinn hat mich dabei immer beleidigt. Aber das, was ich hier thun wollte, jetzt, bei dem immer schlechteren Zustande meiner Körperkräfte, war über Alles Frühere hinaus. Ein langwieriger Bau und Aufbau! Ich habe nie daran gedacht, Sie erst um Ihren Willen zu fragen: Sie sollten kaum merken, wie Sie in diese Arbeit hineinkämen. Ich vertraute jenen höheren Impulsen, an welche ich bei Ihnen glaubte. — ich dachte Sie mir als meinen Erben — Was Freund R[ée] betrifft: so gieng es mir, wie es mir jedesmal (auch nach Genua5) gegangen ist: ich kann dieses langsame Zugrundegehen einer außerordentlichen Natur nicht ansehen, ohne ingrimmig zu werden. Dieser Mangel an Ziel! und daher diese geringe Lust an den Mitteln, an der Arbeit, dieser Mangel an Fleiß, selbst an wissenschaftl. Gewissenhaftigkeit. Dieses fortwährende Vergeuden! Und wäre es wenigstens ein Vergeuden aus der Lust des Verschwendens! Aber es hat so ganz die Miene des schlechten Gewissens. — Ich sehe überall die Fehler der Erziehung. Ein Mann soll zum Soldaten erzogen werden, in irgend einem Sinne. Und das Weib zum Weib des Soldaten, in irgend einem Sinne Spiritus und Portemonnaie.6 1. Cf. Rapallo, Mid-December 1882: Draft of a letter to Lou Salomé: "ausbeutenden Lust der Katze (cat's exploitative pleasure)."
Rapallo, vor Mitte Dezember 1882: Lieber Freund, ich nenne L[ou] meinen leibhaften Scirroco: noch nicht Eine Minute habe ich mit ihr zusammen jenen reinen Himmel über mir gehabt, den ich mit und ohne Menschen brauche. Sie vereinigt in sich alle Eigenschaften der M[enschen] die ich verabscheue — eklig und gräßlich — Sie bekommen mir nicht — und nun habe ich mir seit Tautenburg die Tortur aufgelegt sie zu lieben! eine Liebe, deren wegen Niemand eifersüchtig zu sein hat höchstens vielleicht der liebe Gott. Das ist so immer ein Problem für einen Tausendkünstler der Selbstüberwindung (so nannte mich R[ohde] jüngst)1 1. Tausendkünstler: literally, "artist of a thousand tricks." Martin Luther once called Satan a Tausendkünstler. See Martin Luther, "Vorrede," In: Die Pfarrer und Prediger (1529). Cf. Tübingen, 11-26-1882: Letter from Erwin Rohde to Nietzsche in Santa Margherita Ligure. "diese fröhliche Wissenschaft [...] erscheinen [...] mir wie ein nur mit Gewalt deiner eigentlichen Neigung abgezwungener, mit verbissenen Zähnen gewollter excentrischer Entschluß vorkam [....] Wenn du nicht ein wahrer Tausendkünstler der Selbstüberwindung bist, so mußt du wirklich nunmehr den Berg überstiegen haben, deine Gesundheit wieder gefunden haben [....]." (this Joyful Science seemed to me like an eccentric decision that had only been forced out of your real inclinations and willed through gritted teeth [....] If you are not a true virtuoso [Tausendkünstler] of self-overcoming, then you must have really climbed over the mountain and found your health again [....].)
Rapallo, Mitte Dezember 1882: M[eine] l[iebe] L[ou] schreiben Sie mir doch nicht solche Briefe!1 Was habe ich mit diesen Armseligkeiten zu thun! Bemerken Sie doch: ich wünsche daß Sie sich vor mir erheben damit ich Sie nicht verachten muß. Aber L[ou] was schreiben Sie denn für Briefe! So schreiben ja kleine rachsüchtige Schulmädchen. Was habe ich mit diesen Erbärmlichkeiten zu thun! Verstehen Sie doch: ich will, daß Sie sich vor mir erheben, nicht daß Sie sich noch verkleinern. Wie kann ich Ihnen denn vergeben, wenn ich nicht erst das Wesen wieder an Ihnen entdecke, um dessentwillen Ihnen überhaupt vergeben werden kann! Nein m[eine] l[iebe] L[ou] wir sind noch lange nicht beim "Verzeihen."2 Ich kann das Verzeihen nicht aus den Ärmeln schütteln, nachdem die Kränkung 4 Monate3 Zeit hatte, in mich hineinzukriechen. Adieu m[eine] l[iebe] L[ou] ich werde Sie nicht wiedersehen. Bewahren Sie Ihre Seele vor ähnl[ichen] Handl[ungen] und machen Sie an Andern und namentl[ich] an meinem Fr[eund] Rée gut, was Sie an mir nicht mehr gut machen können. Ich habe die Welt und L[ou] nicht geschaffen: ich möchte, ich hätte es gethan — dann würde ich alle Schuld daran allein tragen können, daß es so zwischen uns gekommen ist. Adieu l[iebe] L[ou] ich las Ihren Brief noch nicht zu Ende, aber ich las schon zuviel. 1. The letter Nietzsche is referring to is lost. Malwida von Meysenbug. From b/w etching. Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel. Rapallo, Mitte Dezember 1882: Meine liebe verehrte Freundin, Wie gieng es doch zu? Aber als ich Ihren Brief1 gelesen hatte, brach ich in Thränen aus. — Doch ich wollte heute nicht von mir sprechen. Sie wollten wissen, was ich über Fräulein Salomé denke?2 — Meine Schwester betrachtet Lou als ein giftiges Gewürm, welches man um jeden Preis vernichten müßte — und handelt auch darnach. Das ist mir nun ein ganz übertriebener Gesichtspunkt und meinem Herzen durchaus zuwider. Im Gegentheil: ich möchte nichts mehr als ihr nützlich und förderlich sein, im höchsten und im bescheidensten Sinne des Worts. Ob ich das kann, ob ich's bisher gekonnt habe, ist freilich eine Frage, auf die ich nicht antworten möchte: bemüht darum habe ich mich redlich. Für meine "Interessen" ist sie bis jetzt wenig zugänglich gewesen; ich selber bin ihr (wie mir scheint) eher etwas überflüssig als interessant: das Zeichen eines guten Geschmacks! Es ist Vieles an Ihr anders als bei Ihnen — und auch bei mir; es drückt sich naiv aus und ist in dieser Naivetät für den Menschen-Beobachter voller Reiz.3 Ihre Klugheit ist außerordentlich: Rée meint, Lou und ich seien die klügsten Wesen — woraus Sie sehen, daß Rée ein Schmeichler ist. Die Familie Rée nimmt sich auf die angenehmste Weise des jungen Mädchens an; und Paul R[ée] ist auch hier wieder das Muster der Delicatesse und Fürsorglichkeit. Meine liebe verehrte Freundin, vielleicht wollten Sie etwas Anderes von mir über L[ou] hören: und wenn ich Sie wiedersehen werde, sollen Sie auch Anderes von mir hören.4 Aber schreiben? Nein. — Aber ich bitte Sie aus ganzem Herzen, die Empfindung einer zärtlichen Theilnahme, welche Sie für L[ou] gehabt haben, ihr zu bewahren — ja, mehr zu thun! Aber worin dies [mehr besteht,] darüber kann ich [nicht schreiben.] [ + + + ] Einsame Menschen leiden fürchterlich an Erinnerungen. Beunruhigen Sie sich nicht — im Grunde bin ich Soldat und sogar eine Art "Tausendkünstler der Selbst-Überwindung." (So nannte mich kürzlich Freund Rohde, zu meinem Erstaunen)5 Liebe Freundin, giebt es denn nicht irgend einen Menschen auf der Welt, der mich liebt? — —6 [ + + + ] 1. Rome, 12-13-1882: letter from Malwida von Meysenbug to Nietzsche in Rapallo. Excerpt: "Ich erwartete Sie täglich in Paris, um Ihnen mündlich zu danken für Ihre Bücher, um Vieles mit Ihnen zu besprechen; um so viel als möglich für Sie zu sorgen. Monod freute sich sehr auf Sie. Aber Sie kamen nicht und den Anderen Ihres Dreibündnisses hörte ich auch nichts. Da schrieb ich Ihrer Schwester und erhielt die Nachricht, dass Sie allein wieder in Italien seien. // Ich riss mich nur mit Schmerzen von meinen Lieben los, aber die Kälte trieb mich endlich fort und wegen dieser freute ich mich auch für Sie, dass Sie nicht dort sind. Ich musste nach Mailand und Florenz, sonst hätte ich den Küstenweg genommen um Sie zu sehen. Seit 3 Tagen bin ich nun wieder hier in meinem kleinen Heim und es drängt mich Sie zu fragen, wie es Ihnen geht und was Sie dort einsam treiben." (I waited for you in Paris every day in order to verbally thank you for your books, to discuss many things with you; to take care of you as much as possible. Monod was really looking forward to seeing you. But you did not come and I did not hear anything from the others in your triple alliance. Then I wrote to your sister and received the news that you were back in Italy by yourself. // It was only with pain that I tore myself away from my loved ones, but the cold finally drove me away and due to this I was also happy for you that you weren't there. I had to go to Milan and Florence, otherwise I would have taken the coastal road to see you. I've been back here in my little home for 3 days now and I feel compelled to ask you how you're doing and what you're doing there all alone.)
Rapallo, gegen den 20. Dezember 1882: Ich bin, um als Freigeist zu reden in der Schule der Affekte d.h. die Affekte fressen mich auf. Ein gräßliches Mitleid, eine gräßliche Enttäuschung, ein gräßliches Gefühl verletzten Stolzes — wie halte ich's noch aus? Ist nicht Mitleid ein Gefühl aus der Hölle? Was soll ich thun? An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure. Ich schlafe nicht mehr: was hilft es 8 Stunden zu marschiren! Woher habe ich diese heftigen Affekte! Ach etwas Eis! Aber wo giebt es für mich noch Eis! Heute Abend werde ich so viel Opium nahmen, daß ich die Vernunft verliere: Wo ist noch ein M[ensch] den man verehren könnte! Aber ich kenne Euch Alle durch und durch. Beunruhigen Sie sich nicht zu sehr über die Ausbrüche meines Größenwahns oder meiner verletzten Eitelkeit: und wenn ich selbst aus den genannten Affekten mir zufällig einmal das Leben nehmen sollte, so würde auch nicht gar zu viel zu betrauern sein. Was gehn Euch ich meine Sie und Lou, meine Phantastereien an! Erwägen Sie Beide doch sehr miteinander, daß ich zuletzt ein kopfleidender Halb-Irrenhäusler bin, den die Einsamkeit vollends verwirrt hat. — Zu dieser, wie ich meine, verständigen Einsicht in die Lage der Dinge komme ich, nachdem ich eine ungeheure Dosis Opium aus Verzweiflung eingenommen habe. Statt aber den Verstand dadurch zu verlieren, scheint er mir endlich zu kommen. Übrigens war ich wirklich wochenlang krank: und wenn ich sage, daß ich hier 20 Tage Orta-Wetter1 gehabt habe, wird Ihnen mein Zustand begreiflicher erscheinen. Bitten Sie Lou, mir Alles zu verzeihen — sie giebt auch mir noch eine Gelegenheit, ihr zu verzeihen. Denn bis jetzt habe ich ihr noch nichts verziehen.2 Man vergibt seinen Freunden viel schwerer als seinen Feinden. Da fällt mir Lou's "Vertheidigung" ein. Seltsam! So oft sich Jemand vor mir vertheidigt, läuft es immer darauf hinaus, daß ich Unrecht haben soll. Dies weiß ich nun schon in Voraus, und so interessirt's mich nicht mehr. — Sollte Lou ein verkannter Engel sein? Sollte ich ein verkannter Esel sein? in opio veritas: Es lebe der Wein und die Liebe! Machen Sie sich doch keine Skrupel! Ich bin's ja so gewöhnt: in diesem Jahre werden sich Alle an mir ärgern, im nächsten vielleicht alle an mir freuen. 1. Nietzsche, Rée, and Salomé and her mother were together in Orta from May 5-7, 1882. Regarding the sunny weather, cf. Berlin, New Year's Evening, January 1983: Letter from Lou Salomé to Paul Rée in Stibbe. In: Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé, Ernst Pfeiffer (hg.), Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung. Frankfurt am Main: Insel, c1970 [1971], 281. "In den ersten Tagen des Januar war es, als ich krank und müde in den Sonnenschein von Italien kam, — um Sonnenschein und Leben für das ganze Jahr von dort mit fortzunehmen. Wie viel von dieser Sonne lag auf unsern römischen Spaziergängen und Plaudereien, wie viel auf der Orta-Idylle mit ihren Kahnfahrten und ihrem Monte sacro mit seinen Nachtigallen, wie viel auf jener Schweizer Reise durch den Gotthardt, auf den Tagen von Luzern." (It was in the first days of January that I came, sick and tired, to the sunshine of Italy — to take sunshine and life there with me for the whole year. How much of this sun was on our Roman walks and conversations, how much on the Orta idyll with its boat rides and its Monte Sacro with its nightingales, how much on that Swiss journey through the Gotthardt, on the days in Lucerne.)
Rapallo, gegen den 20. Dezember 1882: Beunruhigt Euch nicht zu sehr über die Ausbrüche meines "Größenwahns" oder meiner "verletzten Eitelkeit" — und wenn ich selbst aus irgend einem Affekte mir zufällig einmal das Leben nehmen sollte, so würde auch da nicht allzuviel zu betrauern sein. Was gehen Euch meine Phantastereien an! (Selbst meine "Wahrheiten" giengen Euch bisher nichts an) Erwägen Sie Beide doch sehr miteinander, daß ich zuletzt ein kopfleidender Halb-Irrenhäusler bin, den die lange Einsamkeit vollends verwirrt hat. Zu dieser, wie ich meine, verständigen Einsicht in die Lage der Dinge komme ich, nachdem ich eine ungeheure Dosis Opium — aus Verzweiflung — eingenommen habe. Statt aber den Verstand dadurch zu verlieren, scheint er mir endlich zu kommen. übrigens war ich wirklich wochenlang krank; und wenn ich sage, daß ich hier 20 Tage Orta-Wetter1 gehabt habe, so brauche ich nichts mehr zu sagen. Freund Rée, bitten Sie Lou, mir Alles zu verzeihen — sie giebt auch mir noch eine Gelegenheit, ihr zu verzeihen. Denn bis jetzt habe ich ihr noch nichts verziehn.2 Man vergiebt seinen Freunden viel schwerer als seinen Feinden. Da fällt mir Lou's "Vertheidigung" [+++] 1. Nietzsche, Rée, and Salomé and her mother were together in Orta from May 5-7, 1882. Regarding the sunny weather, cf. Berlin, New Year's Evening, January 1983: Letter from Lou Salomé to Paul Rée in Stibbe. In: Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé, Ernst Pfeiffer (hg.), Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung. Frankfurt am Main: Insel, c1970 [1971], 281. "In den ersten Tagen des Januar war es, als ich krank und müde in den Sonnenschein von Italien kam, — um Sonnenschein und Leben für das ganze Jahr von dort mit fortzunehmen. Wie viel von dieser Sonne lag auf unsern römischen Spaziergängen und Plaudereien, wie viel auf der Orta-Idylle mit ihren Kahnfahrten und ihrem Monte sacro mit seinen Nachtigallen, wie viel auf jener Schweizer Reise durch den Gotthardt, auf den Tagen von Luzern." (It was in the first days of January that I came, sick and tired, to the sunshine of Italy — to take sunshine and life there with me for the whole year. How much of this sun was on our Roman walks and conversations, how much on the Orta idyll with its boat rides and its Monte Sacro with its nightingales, how much on that Swiss journey through the Gotthardt, on the days in Lucerne.)
Rapallo, letzte Dezemberwoche 1882: Ich schreibe dies bei hellstem Wetter: verwechseln Sie nicht meine Vernunft mit dem Unsinn meines neulichen Opiumbriefes.1 Ich bin durchaus nicht verrückt und leide auch nicht an Größenwahn. Aber ich sollte Freunde haben, die mich vor solchen verzweifelten Dingen, wie denen des Sommers zur rechten Zeit warnten. Wer konnte ahnen, daß ihre2 Worte Heroismus "kämpfen für ein Prinzip" ihr Gedicht "an den Schmerz"3 ihre Erzählungen von den Kämpfen für die Erkenntniß einfach Betrügerei sind? (Ihre Mutter schrieb mir in diesem Sommer: L[ou] hat die denkbar größte Freiheit gehabt.)4 Oder steht es anders? Die Lou in Orta5 war ein anderes Wesen, als die, welche ich später wiederfand. Ein Wesen ohne Ideale, ohne Ziele, ohne Pflichten, ohne Scham. Und auf der tiefsten Stufe des M[enschen], trotz ihrem guten Kopf! Sie sagte mir selber, sie habe keine Moral — und ich meinte, sie habe gleich mir eine strengere als irgend Jemand! und sie bringe ihr öfter täglich und stündlich Etwas von sich zum Opfer. Einstweilen sehe ich nur, daß sie auf Belustigung und Unterhaltung aus ist: und wenn ich denke, daß dazu noch die Fragen der Moral gehören, so ergreift mich, gelinde gesagt, reine Empörung. Sie hat es mir sehr übel genommen, daß ich ihr das Recht auf das Wort "Heroism der Erkenntniß" absprach — aber sie sollte ehrlich sein und sagen: "ich bin himmelweit gerade davon entfernt." Beim Heroism handelt es sich um die Aufopferung und die Pflicht und zwar die tägliche und stündliche, und demnach um viel mehr: die ganze Seele muß voll von Einer Sache sein, und Leben und Glück gleichgiltig dagegen. Eine solche Natur glaubte ich in L[ou] zu sehn. Hören Sie, Freund, wie ich heute die Sache ansehe! Sie ist ein vollkommenes Unglück — und ich bin das Opfer desselben. Ich habe im Frühling gemeint, es habe sich ein M[ensch] gefunden, der im Stande sei, mir zu helfen: wozu freilich nicht nur ein guter Intell[ekt] sondern eine Moralität ersten Ranges noth thut. Statt dessen haben wir ein Wesen entdeckt, welches sich amüsiren will und schamlos genug ist, zu glauben, daß dazu die ausgezeichnetsten Geister der Erde eben gut genug sind. Das Resultat dieser Verwechslung ist für mich, daß ich mehr als je der Mittel entbehre, einen solchen M[enschen] zu finden und daß meine Seele, die frei war, von einer Fülle widerlicher Erinnerungen gemartert wird. Denn die ganze Würde meiner Lebensaufgabe ist durch [ein] oberflächliches und unmoralisches leichtfertiges und gemüthloses Wesen wie Lou in Frage gestellt worden und auch daß mein Name mein Ruf ist befleckt Ich habe geglaubt, Sie hätten sie überredet, mir zu Hülfe zu kommen. an P[aul] R[ée] 1. Cf. Rapallo, around December 20, 1882: Letter to Lou Salomé and Paul Rée.
Rapallo, letzte Dezemberwoche 1882: Du mußt über einen andern Ton nachdenken mit mir zu reden: sonst nehme ich keine Briefe1 mehr aus Naumburg an! Ich bringe es schlechterdings, nicht mehr über mich, einen Brief aus Naumb[urg] zu öffnen; und immer weniger sehe ich ein, wie Ihr das wieder gut machen wollt, was Ihr mir diesen Sommer angethan2 habt und dessen Nachwirkungen mich fortwährend treffen. 1. Nietzsche broke off correspondence with a letter to his mother — she probably burned it, as was her habit with unpleasant news — that emerged from the drafts in the final weeks of December 1882. Cf. Rapallo, 12-25-1882: Letter to Franz Overbeck. "Gestern habe ich nun auch mit meiner Mutter den brieflichen Verkehr abgebrochen: es war nicht mehr zum Aushalten, und es wäre besser gewesen, ich hätte es längst nicht mehr ausgehalten. Wie weit inzwischen die feindseligen Urtheile meiner Angehörigen um sich gegriffen haben und mir den Ruf verderben — — nun, ich möchte es immer noch lieber wissen als an dieser Ungewißheit leiden. —." (Yesterday I broke off my correspondence with my mother, too: it had become unendurable, and it would have been better if I had stopped enduring it long ago. How far the hostile judgments of my family have spread meanwhile and ruined my reputation — — well, I would still rather know it than suffer this uncertainty. —)
Rapallo, 25. Dezember 1882: L[ieber] F[reund,] Dieser Bissen Leben war der härteste den ich bisher kaute; es ist immer noch möglich, daß ich daran ersticke. Ich habe an den beschimpfenden und qualvollen Erlebnissen dieses Sommers1 gelitten wie an einem Wahnsinn. Die ganze Zeit brachte ich es viell[eicht] zu 4, 5 Nächten Schlafs — und auch das nur mit den stärksten Dosen an Schlafmitteln. Mein ganzes Denken Dichten und Trachten ist von den Verheerungen dieser Affekte heimgesucht. Was soll draus werden! Ich spanne jede Faser von Selbstüberwindung an —aber — es ist zu viel für einen M[enschen] so langer Einsamkeit Heute unterwegs fiel mir etwas ein, das mich sehr lachen machte: sie2 hat mich nämlich behandelt wie einen Studenten von 20 Jahren — eine für ein Mädchen von 20 Jahren sehr erlaubte Denkungsweise — einen Studenten der sich in sie verliebt hatte. Aber Weise wie ich lieben nur Gespenster — und wehe wenn ich einen M[enschen] liebte — ich würde ba[ld] an dieser Liebe zu Grunde gehen. Der M[ensch] ist eine zu unvollkommene Sache3 1. The events regarding his relationship with Lou Salomé.
Rapallo, 25. Dezember 1882: Lieber Freund, vielleicht hast Du meinen letzten Brief gar nicht bekommen? — Dieser letzte Bissen Leben war der härteste, den ich bisher kaute und es ist immer noch möglich, daß ich daran ersticke. Ich habe an den beschimpfenden und qualvollen Erinnerungen1 dieses Sommers gelitten wie an einem Wahnsinn — meine Andeutungen in Basel und in meinem letzten Brief verschwiegen immer das Wesentlichste. Es ist ein Zwiespalt entgegengesetzter Affekte darin, dem ich nicht gewachsen bin. Das heißt: ich spanne alle Fasern meiner Selbst-Überwindung an — aber ich habe zu lange in der Einsamkeit gelebt und an meinem "eigenen Fette" gezehrt, daß ich nun auch mehr als ein Anderer von dem Rade der eignen Affekte gerädert werde. Könnte ich nur schlafen! — aber die stärksten Dosen meiner Schlafmittel helfen mir eben so wenig als meine 6-8 Stunden Marschiren. Wenn ich nicht das Alchemisten-Kunststück erfinde, auch aus diesem — Kothe Gold zu machen, so bin ich verloren. — Ich habe da die allerschönste Gelegenheit zu beweisen, daß mir "alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig und alle Menschen göttlich" sind!!!!2 Alle Menschen göttlich. — Mein Mißtrauen ist jetzt sehr groß: ich fühle aus Allem, was ich höre, Verachtung gegen mich heraus. — Z. B. noch zuletzt aus einem Briefe von Rohde.3 Ich will doch darauf schwören, daß er, ohne den Zufall früherer freundschaftl. Beziehungen, jetzt in der schnödesten Weise über mich und meine Ziele aburtheilen würde. Gestern habe ich nun auch mit meiner Mutter den brieflichen Verkehr abgebrochen: es war nicht mehr zum Aushalten, und es wäre besser gewesen, ich hätte es längst nicht mehr ausgehalten. Wie weit inzwischen die feindseligen Urtheile meiner Angehörigen um sich gegriffen haben und mir den Ruf verderben — — nun, ich möchte es immer noch lieber wissen als an dieser Ungewißheit leiden. — Mein Verhältniß zu Lou liegt in den letzten schmerzhaftesten Zügen: so glaube ich heute wenigstens. Später, — wenn es ein Später giebt, will ich auch darüber ein Wort sagen. Mitleid, mein lieber Freund, ist eine Art Hölle — was auch die Anhänger4 Schopenhauers sagen mögen. Ich frage Dich nicht: "was soll ich machen?" Einige Male dachte ich daran, mir in Basel ein Stübchen zu miethen, Euch hier und da [zu] besuchen und Vorlesungen zu hören. Einige Male dachte ich auch an's Gegentheil: meine Einsamkeit und Entsagung auf ihren letzten Punkt zu treiben und — Nun, das laufe nun seinen Weg! Lieber Freund, Du mit Deiner verehrungswürdigen und klugen Frau — Ihr seid mir beinahe noch der letzte Fußbreit sicheren Grundes. Seltsam! Möge es Euch gut gehen! Dein F. N. 1. The events regarding his relationship with Lou Salomé. |
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