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Guido Meyer.
From tinted photo, 1864.1 Enhanced image ©The Nietzsche Channel.
Pforta, 1. März 1863: Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche.
Liebe Mamma!
Nachdem ich am vorigen Sonntag,2 ohne eine Ahnung davon zu haben, daß ihr verreist3 seid, nach Naumburg gegangen war und nur den Onkel4 zu Hause getroffen, habe ich Tag für Tag auf einen Brief von dir gewartet, den ich auch Freitag Nachmittag zu meiner großen Freude bekam. Es scheint euch ja sehr wohl zu gehn; ich wäre selbst am liebsten mit in Eilenburg, wo ich so lange nicht gewesen bin. Nun weiß ich nicht einmal, wie ihr euch in Pforte5 amüsirt habt; Der Ball kam mir im Allgemeinen ziemlich gemüthlich, nur etwas langweilig vor. die Obersecundaner6 haben nach meiner und aller Meinung famos gespielt und unser Spiel7 ist etwas dagegen abgefallen. Das Hauptverdienst ist in jeder Weise Meyer8 zu zuschreiben, der die ganze Geschichte geleitet hat. — Wir haben die Zeit jetzt ungewöhnlich viel zu thun. Ueberall Repetitionen, da das Ende des Semesters nahe ist. Wird denn Lisbeth am Königsgeburtstagsball9 theilnehmen? —
Das Ereigniß dieser Tage ist, daß Meyer10 zu unserm größten Leide relegiert worden ist und zwar wegen eines Prello11 nach Almrich,12 das er mit meheren meiner Bekannten unternahm, aber auf dem Rückweg von meheren Lehrern gefaßt wurde. Um so mehr thut uns dies wehe, als Meyer in dem letzten halben Jahr sehr gut bei den Lehrern stand und sich selbst sehr anstrengte. Es sind auch von den Lehrern alle mögliche Maßregeln getroffen worden ihn zurückzuhalten, aber einige erschwerende Umstände verhinderten dies. die letzten Tage seines Aufenthaltes13 leben wir nun ganz noch zusammen, von allen Seiten werden ihm Beweise der Liebe und Anhänglichkeit zu Theil; denn er wird von allen, die ihn näher kennen, sehr hoch geschätzt. Dieser Sonnabend,14 wo die Synode15 war, und wir in der größten Aufregung, war entschieden der traurigste Tag, den ich in Pforte verlebt. Sein ferneres Geschick ist nun äußerst zweifelhaft, da er gar keine Mittel hat. —
Ich erwarte sehnlichst eure Ankunft; grüßt meine lieben Eilenburger Verwandten16 vielemal von mir!
Lebt recht wohl!
Fritz.
1. Guido Meyer (1842-after 1902): Nietzsche's fellow classmate at Schulpforta. Based on a tinted photograph at GSA 101/295 (unavailable).
2. 02-22-1863.
3. She went to visit relatives who lived in Eilenburg: Christliebe Friederike Balster (born Krause, 1782-after 1861) — who was the sister of Nietzsche's paternal grandmother Erdmuthe Nietzsche (born Krause, 1778-1856) — and her daughter Clara (?-?), who was married to Gustav Ehrenberg (?-1893), a factory owner.
4. Theobald Oehler (1828-1881): his maternal uncle.
5. During Shrovetide 1863, Nietzsche was bored with the entire affair (cf. Pforta, February 1863: Letter to Franziska Nietzsche). As opposed to 1862, when he took part in the festivities and performed on stage.
6. On 02-16-1863, the Obersekunda students performed in two plays by Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816): a 1-act farce, Irrthum auf allen Ecken; and a 5-act comedy, Die Heirath durch ein Wochenblatt. In: Friedrich Ludwig Schröder; Eduard von Bülow (ed.); Ludwig Tieck (Intro.), Friedrich Ludwig Schröders dramatische Werke. Mit einer Einleitung von Ludwig Tieck. Dritter Band. Berlin: Reimer, 1-58; 127-156.
7. On 02-16-1863, the Unterprima students performed in Wallensteins Lager by Friederich Schiller (1759-1805). Nietzsche did not participate. See Friedrich Schiller, Wallensteins Lager. In: Friedrich Schiller, Karl Gustav Helbig (ed.) Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. Stuttgart; Ausburg: Cotta, 1856, 39-110.
8. Guido Meyer (1842-after 1902): Nietzsche's fellow classmate at Schulpforta.
9. At Pforta on 03-22-1863, celebrating the birthday of King Wilhelm I.
10. On 02-29-1863, Guido Meyer (1842-after 1902), Nietzsche's fellow classmate at Schulpforta, was expelled. He left the school on 03-04-1863. Some details from that time on Meyer, Nietzsche, and Paul Deussen can be found in Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Leipzig: Brockhaus, 1901: 4-8: "Während der ganzen Zeit in Schulpforta blieb die engere Freundschaft mit Nietzsche bestehen, wenn auch nicht ohne vorübergehende Erschütterungen. Noch in Untersekunda bildete sich eine sogenannte forsche Clique, in der man rauchte, trank und Fleißigsein als unehrenhaftes Strebertum verurteilte. Auch wir wurden in ihre Netze gezogen, dadurch den andern näher und von einander etwas weiter abgebracht. Für die Macht dieser Vorurteile mag ein Beispiel dienen. Wir hatten Sonntag nachmittags von 2-3 Uhr Arbeitsstunde für solche, welche den Nachmittagsgottesdienst nicht besuchen wollten. Ich las gerade im Livius den Übergang Hannibals über die Alpen und war davon so gefesselt, daß ich, als die Freistunde schlug und die andern ins Freie eilten, noch eine Weile zu lesen fortfuhr. Da kommt Nietzsche herein, um mich abzuholen, ertappt mich über dem Livius und hält mir eine strenge Strafpredigt: 'Also so treibst Du es, und das sind die Mittel und Wege, welche Du in Anwendung bringst, um Deine Kameraden zu überflügeln und Dich bei den Lehrern in Gunst zu sehen! Nun, die andern werden es Dir wohl noch deutlicher sagen.' Beschämt gestand ich mein Unrecht ein und war schwach genug, Nietzsche zu bitten, den andern gegenüber das Vorkommnis zu verschweigen, was er versprach und auch gehalten hat. Aus jener Clique ging nach ihrem Zerfall eine Art Dreibund hervor zwischen Nietzsche, mir und einem gewissen Meyer, welcher schön, liebenswürdig und witzig, auch ein vorzüglicher Zeichner von Karikaturen war, aber mit Lehrern und Schulordnung in ewigem Kampfe lag. Noch in Obersekunda mußte er abgehen; Nietzsche und ich geleiteten ihn bis ans Thor und kehrten wehmütig um, nachdem er auf der Kösener Landstraße unsern Blicken entschwunden war. Noch einmal, es mag fünf Jahre später gewesen sein, habe ich Meyer wiedergesehen, als er mich, mit dem später als ein Opfer des Krieges gestorbenen Hempel, von Neuwied aus bei meinen Eltern zu Oberdreis besuchte. Selten habe ich in ein so zerrissenes Menschenherz geblickt. Durch allerlei widerwärtige Schickungen gebrochen, physisch und moralisch krank, mit Gott, der Welt und sich selbst zerfallen, so zeigte er sich damals. Er hatte es bis zum Steuersupernumerar gebracht und ist später ganz verschollen, wahrscheinlich auch nicht mehr am Leben. Dieser Meyer also war bis zu seinem Abgange im Jahre 1862 der dritte in unserm Bunde. Freilich mußte ich mit Schmerz bemerken, daß dasjenige, was ich an Nietzsche suchte und schätzte, sich sehr wenig vertrug mit dem, wozu Meyer ihn herüberzuziehen bestrebt war. Dies ging so weit, daß die beiden eine Zeit lang meiner überdrüssig wurden und, ohne daß etwas Besonderes vorgekommen wäre, mit mir brachen. Hierzu giebt es in Pforta, wo keiner dem andern aus dem Wege gehen kann, das in seiner Art wertvolle und zweckmäßige Mittel des Tollseins. Man erklärt sich mit jemandem für toll, d. h. man betrachtet es als einen Ehrenpunkt, mit ihm nie und nirgends und unter keinen Umständen ein Wort zu sprechen. Wertvoll nannte ich dieses Mittel, weil es Schlimmeres, z. B. Raufereien u. dgl. verhütet. Nietzsche und Meyer waren also toll mit mir. Sechs Wochen lang dauerte diese schwere Zeit, und mit Freuden begrüßte ich die ersten Symptome einer Annäherung von der andern Seite. Ich trieb damals mit dem längst verewigten Melzer Italienisch, was nur dadurch möglich war, daß wir eine Stunde früher als die andern, also statt um 6 schon um 5 Uhr, aufstanden. Dies wurde natürlich als Strebertum vielfach verurteilt und bespöttelt. Meyer machte, wenn ich nicht irre, damals ein Spottgedicht auf mich, in welchem es hieß: //
Des Morgens früh beim ersten Grauen, /
Wenn alles noch im Schlaf sich wiegt, /
Da kann man schon den Spießer schauen, /
Wie er vom Schlafsaal 'runter kriecht, u. s. w. //
'Spießer' (vielleicht verwandt mit Spießbürger) ist in Pforta ein Scheltwort für solche, welche das Arbeiten in tadelnswerter Weise übertreiben. In dieser Zeit saß ich eines Abends kurz vor 8 Uhr auf dem Korridor in der Nähe der Schulglocke und beobachtete die Uhr. Unter den auf und ab spazierenden Gruppen waren auch Nietzsche und Meyer. Plötzlich machen sie vor mir Halt und fragen: 'Che ora è?' Überrascht antworte ich: 'Otto ore, in tre minuti,' und lachend ziehen die beiden weiter, indem sie darüber spotten, daß ich minuti gesagt habe, da doch die Minute weiblichen Geschlechts sei. Natürlich trachtete ich nach Revanche. An einem der nächsten Tage wurde in der Klasse bei Steinhart Virgil erklärt. Nietzsche erhob sich und gab eine jener verwegenen Konjekturen zum besten, welche nicht nur die Überlieferung, sondern auch den Autor selbst zu verbessern bemüht sind. Steinhart widerlegte in längerer lateinischer Rede Nietzsches Einfall und fragte zuletzt, ob noch jemand dazu das Wort wünsche, worauf ich mich erhob und sagte: //
Nietzschius erravit, neque coniectura probanda est. //
Steinhart schmunzelte, und die Klasse lachte über diesen improvisierten Hexameter. Nach diesem Vorgeplänkel erfolgte eines Abends die Austragung des Streites. Zufällig trafen die beiden Parteien und einige Unbeteiligte in einer Stube zusammen. Anzügliche Redensarten erfolgten von beiden Seiten, ohne direkt an den Gegner gerichtet zu sein. Vielmehr wurde einer der unbeteiligt und ruhig Dasitzenden mehr und mehr der Mittelsmann, an den beide Teile ihre Beschwerden richteten, gleich als ob er sie dem Gegner überbringen sollte, der doch alles unmittelbar hörte und auch sofort darauf replizierte. 'Sagen Sie zu Niezsche' u., 'sagen Sie zu Deussen' u., 'sagen Sie zu Meyer' u. — mit diesen Worten begannen die Vorwürfe, die man dem andern zu machen hatte. Immer lebhafter wurde die Wechselrede, bis man endlich die Fiktion, daß man zu dem Mittelsmanne redete, fallen ließ und das Wort direkt an den Gegner richtete, womit der Bann des Tollseins gebrochen war. Es folgte nun von beiden Seiten eine gründliche Aussprache und als Ergebnis derselben die definitive Versöhnung. //
Nur noch einmal, nach Meyers Abgang, wurde Nietzsche auf kurze Zeit von mir durch eine schöngeisternde Koterie abgezogen, deren innere Hohlheit ihn jedoch nicht auf die Dauer mir zu entfremden vermochte. Er fiel mir wieder zu, umsomehr, als er damals noch ein zurückhaltendes, etwas scheues Wesen hatte, wenig Befriedigung an dem Treiben der Menge fand und daher auch von den meisten wenig gekannt wurde. Man wußte nur von ihm, daß er sehr gute deutsche Aufsätze und hübsche Gedichte machte, in der Mathematik außerordentlich schwach war und meisterhaft auf dem Klavier zu phantasieren verstand." (During the entire time at Schulpforta, the close friendship with Nietzsche remained, even if not without temporary disturbances. Even in Untersekunda, a so-called brash clique formed, in which people smoked, drank, and studiousness was condemned as dishonorable striving. We too were drawn into their nets, which brought us closer to the others and a little further away from each other. An example may serve to show the power of these prejudices. We had study periods on Sunday afternoons from 2-3 o'clock for those who did not want to attend the afternoon [religious] service. I was reading in Livy about Hannibal's crossing of the Alps, and I was so fascinated by it that when the hour came and the others hurried outside, I went on reading for a while. Then Nietzsche came in to get me, caught me with Livy and gave me a stern rebuke: "So that's what you are doing, and these are the ways and means that you use to outperform your comrades and put yourself in the teachers' good graces! Well, the others will probably tell it to you even more clearly." Ashamed, I admitted my wrongdoing and was weak enough to beg Nietzsche to keep the incident a secret from the others, which he promised and also kept. After that clique broke up, a kind of triumvirate emerged between Nietzsche, me and a certain Meyer, who was handsome, amiable and witty, also an excellent cartoonist of caricatures, but who was always struggling with teachers and school regulations. He had to leave school while in Obersekunda; Nietzsche and I accompanied him as far as the gate and returned wistfully after he had vanished from our sight on the country road to Kösen. Once more, it may have been five years later, I saw Meyer again when he, from Neuwied together with Hempel, who later died as a victim of the war, visited my parents. Rarely have I observed such a shattered human heart. Broken by all sorts of nasty strokes of fate, physically and morally ill, at odds with God, the world and himself, that's how he revealed himself at the time. He had worked his way up to Tax Supernumerary and later disappeared completely, and is probably no longer alive. So this Meyer was the third in our alliance until his departure in 1862. Of course I had to note with pain that what I sought and valued in Nietzsche was not very compatible with what Meyer was trying to drag him into. This went so far that they both tired of me for a while and broke off with me without anything in particular happening. For this there is in Pforta, where no one can avoid the other, the valuable and purposeful means, in its own way, of being mad [at someone]. One declares oneself mad at someone, i.e. it is considered a point of honor never, anywhere, under any circumstances to speak a word with him. I called this method valuable because it prevents worse things, e.g. brawls and the like. So Nietzsche and Meyer were mad at me. This difficult time lasted for six weeks, and I joyfully welcomed the first symptoms of a rapprochement from the other side. At that time I was studying Italian with Melzer, who has long since passed away, which study was only possible because we got up an hour earlier than the others, that is, at 5 o'clock instead of 6 o'clock. Of course, this was often condemned and ridiculed as striving. Meyer, if I am not mistaken, wrote a satirical poem about me at the time, which said: //
Early in the morning at the start of dawn, /
When everybody is still cradled in sleep, /
You can already see the philistine, /
As down from the dorm he creeps, etc. //
In Pforta "Spießer" [philistine] (perhaps related to Spießbürger) is an invective for those who culpably overstudy. During this time, just before 8 o'clock one evening, I was sitting in the corridor near the schoolbell and watching the clock. Among the groups walking back and forth were Nietzsche and Meyer. Suddenly they stopped in front of me and asked: "Che ora è?" Surprised, I answered: "Otto ore, in tre minuti," and laughing, the two moved on, mocking me for having said minuti, given that minute is the female gender. Of course I sought revenge. On one of the following days, Steinhart's class was explaining Virgil. Nietzsche stood up and gave one of those bold conjectures which try to improve not only on tradition but also on the author himself. Steinhart refuted Nietzsche's idea in a long speech in Latin, and finally asked if anyone else wished to say something about it, whereupon I got up and said: //
Nietzschius erravit, neque coniectura probanda est. [Nietzsche was wrong, and his conjecture cannot be proved.] //
Steinhart chuckled and the class laughed at this improvised hexameter. After this preliminary skirmish, the staging of the dispute took place one evening. The two parties and a few uninvolved people happened to meet in a room. Offensive remarks were made by both sides without directing them to the opponent. On the contrary, one of the uninvolved people sitting quietly there became more and more the middleman to whom both parties directed their complaints, as if he were supposed to convey them to the opponent, who, nevertheless, heard everything immediately and immediately replied to them. 'Tell Nietzsche' and 'Tell Deussen' and 'Tell Meyer' and — with these words began the accusations that one had to make against the other until finally the fiction was dropped that one was speaking to the middleman and the words were addressed directly to the opponent, thereby breaking the spell of being mad.There now followed a thorough discussion from both sides and as a result of this a definitive reconciliation. //
Only once more, after Meyer's departure, was Nietzsche drawn away from me for a short time by an aesthetic coterie, the inner hollowness of which, however, was not able to alienate him from me permanently. He came back to me, all the more since at that time he still had a reserved, somewhat shy demeanor, found little satisfaction in the goings-on of the crowd, and was therefore little known by most of them. All that was known about him was that he wrote very good German essays and beautiful poems, was extremely weak in mathematics, and was a master at improvising on the piano.)
11. "Prello" was the term used at Schulpforta to describe an unauthorized attempt to leave the school grounds by climbing over the wall.
12. A nearby village between Naumburg and Pforta.
13. Around 03-03-1863.
14. 02-28-1863.
15. On 02-29-1863, Guido Meyer (1842-after 1902), Nietzsche's fellow classmate at Schulpforta, was expelled.
16. See Note 3.
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Friedrich Nietzsche. From tinted photo by Ferdinand Henning, Naumburg, June 1862.1 Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.
Pforta, 16. April 1863: Brief an Franziska Nietzsche.
Donnerstag früh.
Liebe Mutter,
Wenn ich dir heute schreibe, so ist es mir eins der unangenehmsten und traurigsten Geschäfte, die ich überhaupt gethan habe. Ich habe mich nämlich sehr vergangen und weiß nicht, ob du mir das verzeihen wirst und kannst. Mit schwerem Herzen und höchst unwillig über mich ergreife ich die Feder, besonders wenn ich unser gemüthliches und durch keine Mißlaute getrübtes Zusammenleben in den Osterferien mir vergegenwärtige. Ich bin also vorigen Sonntag betrunken gewesen und habe auch keine Entschuldigung weiter, als daß ich nicht weiß, was ich vertragen kann und den Nachmittag gerade etwas aufgeregt war. Wie ich zurückkam, bin ich von Ob[er]l[ehrer] Kern2 dabei gefaßt worden, der mich dann Dienstag in die Synode citieren ließ, wo ich zum Dritten meiner Ordnung herabgesetzt und mir eine Stunde des Sonntagspaziergangs entzogen wurde.3 Daß ich sehr niedergeschlagen und verstimmt bin, kannst du dir denken und zwar mit am meisten, daß ich dir solchen Kummer bereite durch eine so unwürdige Geschichte, wie sie mir noch nie in meinem Leben vorgekommen ist. Und dann wie thut es mir auch des Pred. Kletschke wegen leid, der mir erst solches unerwartetes Vertraun erwiesen!4 Durch diesen einen Fall verderbe ich mir nun meine leidliche Stellung, die ich mir in vorigem Quartal erworben hatte, völlig. Ich bin auch so ärgerlich über mich, so daß es mit meinen Arbeiten gar nicht vorwärtsgehn will und kann mich noch gar nicht beruhigen. Schreib mir doch recht bald und recht streng, denn ich verdiene es, und keiner weiß mehr als ich, wie sehr ich es verdiene.
Ich brauche dich wohl nicht weiter zu versichern, wie sehr ich mich zusammennehmen werde, da es jetzt sehr darauf ankommen wird. Ich war auch wieder zu sicher geworden und bin jetzt, allerdings höchst unangenehm, aus dieser Sicherheit aufgescheucht worden.
Heute werde ich zu Pred. Kletschke gehn und mit ihm reden. — Bitte, erzähle übrigens die ganze Sache nicht weiter, wenn sie sonst nicht schon bekannt sein sollte.
Schicke mir übrigens doch baldigst meinen Shawl, ich leide jetzt immer noch an Heiserkeit und Brustschmerzen. Auch den betreffenden Kamm.
Nun lebe wohl und schreib mir ja recht bald und sei mir nicht zu böße, liebe Mutter.
Sehr betrübt
Fritz.
1. See GSA 101/3. Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
2. Franz Georg Gustav Kern (1830-1894): German teacher of Greek, Latin, and German at Schulpforta since around 1860.
3. The Pforta record book contains the following entry: "Synodus Extraordinarius d. XIV m. Aprilis. Nietzsche u. Richter trinken am Sonntage auf dem Bahnhofe zu Kösen während einer Stunde je vier Seidel Bier. N. war davon betrunken u. noch ersichtlicher Richter." (Special synod on April 14. Nietzsche a[nd] Richter [Rudolf Richter (1845-1870)] drank four pints of beer in an hour while at the train station in Kösen. N[ietzsche] was drunk from it a[nd] Richter even more obviously so.) Also, in the margin, Nietzsche's punishment: "Nietzsche: vom Primus abgesetzt u. 1 Stunde Ausgang." (Nietzsche: demoted from first in his class a[nd] loss of [his] 1 hour walk.)
4. Hermann Kletschke (1833-1902): Teacher, pastor, and Nietzsche's last tutor at Schulpforta. He had just made Nietzsche his assistant. Franziska wrote to Kletschke on April 17, apologizing for her son's behavior.
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Friedrich Nietzsche. From tinted photo by Ferdinand Henning. Naumburg, June, 1862.1 Colorized and enhanced image ©The Nietzsche Channel.
Pforta, 2. Mai 1863: Brief an Franziska Nietzsche.
Liebe Mamma.
Dein lieber Brief2 mit den Brustkaramellen kam mir sehr angenehm, da ich manches wieder von euch hörte was mich ja auch sehr interessirte. Um zuvörderst nun von meinem Unwohlsein3 Bericht zu erstatten, so ist die Heiserkeit immer noch da und zwar unvermindert; ich trinke seit gestern Selterwasser mit Milch und das scheint die Kehle ein wenig zu erleichtern. Es wird mir allmählich grauenhaft auf der Krankenstube, besonders da heute Wetter und Himmel lustig aussehn. Obwohl ich hier arbeite, will es doch nicht viel werden, da mir immer ein oder das andre Buch fehlt. Ich mache mir Auszüge aus Hettners Literaturgeschichte des 18 Jahrh., überhaupt treibe ich viel Literaturgeschichte.4
Was meine Zukunft betrifft, so sind es eben diese ganz praktischen Bedenken, die mich beunruhigen. Von selbst kommt die Entscheidung nicht, was ich studieren soll. Ich muß also selbst darüber nachdenken und wählen; und diese Wahl ist es, die mir Schwierigkeiten macht. Gewiß ist es mein Bestreben, das, was ich studiere ganz zu studieren, aber um so schwieriger wird die Wahl, da man das Fach heraussuchen muß, worin man etwas Ganzes zu leisten hoffen kann. Und wie trügerisch sind oft diese Hoffnungen! Wie leicht läßt man sich von einer momentanen Vorliebe oder einem alten Familienherkommen oder von besonderen Wünschen fortreißen, so daß die Wahl des Berufes ein Lottospiel erscheint, in dem sehr viele Nieten und sehr wenig Treffer sind. Nun bin ich noch in der besonders unangenehmen Lage, wirklich eine ganze Anzahl von auf die verschiedensten Fächer zerstreuten Interessen zu haben, deren allseitige Befriedigung mich zu einem gelehrten Manne, aber schwerlich zu einem Berufsthier machen würde. Daß ich also einige Interessen abstreifen muß, ist mir klar. Daß ich einige neue hinzugewinnen muß, ebenfalls. Aber welche sollen nun so unglücklich sein, daß ich sie über Bord werfe, vielleicht gerade meine Lieblingskinder!
Ich kann mich nicht deutlicher aussprechen, die kritische Lage ist einleuchtend, und übers Jahr muß ich mich entschieden haben. Von selbst kommt es nicht, und ich selbst kenne die Fächer zu wenig.
Genug. — Ich habe eigentlich nichts weiter zu schreiben, als daß ich sehr bedauere, das Brautpaar5 nicht in Pforta gesehn zu haben.
Grüße Lisbeth und Onkel6 recht sehr von mir!
Lebt recht wohl allesammt!
Fritz.
1. See GSA 101/4. Carl Ferdinand Henning (1832-?): German portraitist and photographer with a studio at Topfmarkt 14, Naumburg. Henning took 5 photographs of Nietzsche from 1862-1868, and also reproduced two photos: a photo taken at the 1871 Leipzig Trade Fair, depicting Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, and Nietzsche; and a photo taken in Basel in 1871 by Friedrich Hermann Hartmann. In 1862, Henning took three photos of Nietzsche. Nietzsche then ordered 2 sets of the three photos, making six in total. The Nietzsche Channel owns one of the 1862 photos (another copy is at GSA 101/3).
2. The letter is lost.
3. According to an 1863 entry in the Pforta medical records, Nietzsche suffered from catarrh from April 24 to May 5; and, from May 7-20, he had an ear infection.
4. Hermann Hettner (1821-1882), Literaturgeschichte des achtzenten Jahrhunderts. Zweiter Theil. Geschichte der französischen Literatur im achtzenten Jahrhunderts. Braunschweig: Viewig, 1860. See the entry for Hettner in Nietzsche's Library. The book was lent to Nietzsche by his childhood friend, Wilhelm Pinder (1844-1928). Nietzsche wrote down a 26-page excerpt from the book which is at GSA 71/220, and at Nietzsche Source (DFGA Mp-V-25).
5. Franziska Nietzsche's sister, Ida Oehler (1833-?), and Moritz Schenkel (1834-1909), pastor at Cainsdorf, near Dresden, were married on 08-27-1863.
6. Theobald Oehler (1828-1881): his maternal uncle.
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